3 Von prüden Lehrerinnen und anderen Trotteln
Ich war noch nicht lange Lehrer, da stieß ich beim Zeitunglesen über folgende Typisierung von Einwanderern in Österreich:
a) Sie leben überproportional häufig an der Armutsgrenze.
b) Sie arbeiten in der Regel unter ihrem Ausbildungsniveau.
c) Sie finden schlechte Arbeitsbedingungen vor.
d) Sie haben kaum innerbetriebliche Aufstiegschancen.
Ich hatte eines meiner ersten Aha-Erlebnisse: Wie bei uns.Wenn du dir als Junglehrerin deinen Gehaltszettel anschaust, dann hast du auch das Gefühl, an der Armutsgrenze zu leben. Du findest katastrophale Arbeitsbedingungen vor. Du arbeitest, wie du bald feststellst, nicht nur unter, sondern vor allem neben deinem Ausbildungsniveau. Und du hast keinerlei Aufstiegschancen (es sei denn, du unterrichtest Turn…, „Bewegung und Sport“, und machst deine Schüler gerade mit der Sprossenwand bekannt). Gut, die meisten von uns leben nicht an der Armutsgrenze, denn die meisten von uns sind Frauen, und als solche haben sie meist Männer, die nicht an der Armutsgrenze leben. Aber da gibt es auch noch so etwas wie die „psychische Armutsgrenze“: Als AHS-„Professorin“ gehörst du für die Eltern deiner Schüler wenigstens noch zum sozialen Mittelstand, aber schon als Hauptpardonneuemittelschullehrerin (später mehr über das „trojanische Pferd“ NMS) bist du nur noch bedingt gesellschaftsfähig. Und wer an einer Polytechnischen oder einer Berufsschule arbeitet, spielt sowieso in der Regionalliga.
Privates Anbahnungsgespräch beim vorsommerlichen Umtrunk beim Nachbarn:
– Und was machen Sie, hübsche Frau, ich meine, beruflich?
– Ich bin Lehrerin.
– Aha, dann bereiten Sie Ihre Schüler wohl gerade auf die Matura vor, gaudeamus igitur, wenn ich so sagen darf … ach, die gute, alte AHS.
– Nein, auf das AMS bereite ich sie vor. So viele Menschen mit Haaren auf dem Kopf gibt es in Österreich gar nicht, wie bei uns jedes Jahr Friseurinnen werden wollen.
– Verzeihen, aber das verstehe ich je…?
– Ich unterrichte an einem Poly.
– Oh.
Und schönen Abend noch …
Gar nicht zu reden von den noch niedrigeren Rängen. Sag einmal da draußen, dass du Elementarpädagogin bist. Schon beim Aussprechen dieses Wortes brechen sie sich die Zunge. Dann begreifen sie irgendwann, dass du in einem Kindergarten arbeitest, und loben dich dafür, wie toll die Tanten ihrer Kleinen das Adventkranzbinden immer hinkriegen.
– Und auch noch den ganzen Tag mit ihnen spielen müssen! Was ihr alles leistet, ein Wahnsinn …!
– Wir spielen nicht mit ihnen, wir arbeiten mit ihnen.
– Wie meinen?
– Nix. Und Tanten sind wir auch keine. Grüß Gott.
Und gib niemals zu, dass du Sonderschullehrerin bist! Als Frau stecken sie dich in die Lade „Ute Bock mit Piercing“, als Mann wirst du für ein zu groß gewachsenes Depperl gehalten, und alle warten darauf, dass du beim nächsten Satz zu stottern oder zu zuzeln beginnst. Also immer fest tarnen und täuschen, wenn du Sonderschullehrerin bist.
Zurück zum fiktiven Frühlingsfest des Nachbarn.
– Und was tun Sie so?
– Primär schlafen, fernschauen, essen und trinken. Sie nicht?
– (Hohoho, hahaha) Ich meine beruflich.
– Inklusions- und Integrationspädagogik.
– Aha, interessant.
– Ja.
– Und wo, wenn ich fragen darf? An einem größeren Institut?
– Kann man so sagen.
Weil wir gerade dabei sind: Seit 2015 heißt das, was früher „Sonderschule“ hieß und später in „Sonderpädagogisches Zentrum“ (SPZ) umgetauft wurde (ohne dass sich außer dem Türschild groß etwas geändert hätte), nein, nicht wieder Sonderschule, sondern „Zentrum für Inklusiv- und Sonderpädagogik“ (ZIS) – freilich auch, ohne dass sich dabei groß etwas geändert hätte. Nicht, dass diese jetzt für mehr oder weniger Kinder zuständig wären9; nicht, dass sich die Klientel in einer ZIS anders zusammensetzen würde als vorher in einem SPZ (gefühlte 99 Prozent Zuwanderer-Kinder); nicht, dass Gymnasien jetzt mehr als früher mit Integrations- oder gar Inklusionsklassen aushelfen würden (gerade einmal ein Dutzend AHS-I-Klassen gibt es im Land). Hauptsache, das Stiefkind bekommt alle paar Jahre einen neuen Namen.10
Es ist wie bei den Schultypen. Früher Volksschule, Hauptschule, Gymnasium. Aus. Heute: VS, BRG, BRWG, HS, WMS, NMS, SPZ, ZIS, Poly, FMS, BS, BHS, BMS, BHMS. Früher Kochen. Heute „Ernährung und Hauswirtschaft“. Früher „Turnen“. Heute wie gesagt „Bewegung und Sport“. Nachdem es zwei Generationen lang „Leibesübungen“ geheißen hat, und dabei hat noch nie einer NICHT Turnen dazu gesagt. Oder Musik, also korrekt „Musikerziehung“, ME. Man darf gespannt sein, ab wann ME nicht mehr Musik heißen wird, sondern so etwas wie „Tonhaftes Erleben und Wiedergeben“.
Aber zurück zum Stottern. Ist uns Lehrerinnen durchaus bekannt. Allerdings bringen heutzutage nicht wir unsere Schüler zum Stottern, sondern umgekehrt sie uns.
Integrationsklasse einer NMS. Zeichenstunde.
– Jacqueline, nicht dass ich prüde bin, aber …
– Was sind Sie nicht?
– Egal jetzt. Was ich sagen will, ist: Ich nehme es locker, dass du seit Schulanfang nur Kreise malst, egal, welches Thema wir haben, aber warum nennst du sie jedes Mal „Sexecks“?
– Sie haben ja gesagt, wir sollen unsere Zeichnungen sigan… sigin… beschriften.
– Okay, du nennst deine Kreise also Sechsecke. Das meinst du ja vermutlich, Sechsecke, mit ch und in der Mehrzahl mit e und nicht mit s.
– Das sind keine Ecken und das sind auch keine Sechsecke, Oida, das ist Bier!
– ?
– Na, sechs Dosen. Sexecks. Ich finde das den urgeilen Namen.
– Sie meint Sixpacks, Herr Lehrer.
– Kusch, Oida! Und schleimen brauchst bei dem da vorn auch nicht!
– Jacqueline, ich mach dir einen Vorschlag: Du bringst ab jetzt ein bisschen Abwechslung in dein künstlerisches Œuvre, dafür kriegst du für deine Zeichnungen ab jetzt einen eigenen Künstlernamen. „Sixpack“. Was hältst du davon?
– Voll super! Das muss ich am Abend dem Heimleiter sagen, dass Sie mir das erlauben. Der nimmt mir das Bier nämlich immer weg, er sagt, ich bin jetzt schon ein Alki.
– Nein, das musst du am Abend deinem Heimleiter nicht sagen, Jacqueline, besser, wir machen das anony… geheim.
– Haben Sie vielleicht Angst vor meinem Heimleiter? Oida! Der hat Angst vor meinem Heimleiter! Voll der Lulu da vorn …!
So in etwa beginnen die später im Text beschriebenen Schlachten hinter verschlossenen Türen, überhaupt, wenn sich alle Beteiligten bereits in einer achten oder neunten UE befinden. Für Nichtlehrer: Schultage werden in UEs (Unterrichtseinheiten) und nicht in Stunden angegeben, weil Unterrichtsstunden ja nur 50 Minuten dauern. Die erste UE beginnt – Schulautonomie hin, Schulautonomie her – in 90 Prozent aller Schulen um 08.00 Uhr, die zehnte endet also knapp vor Christa Kummer. In diesem Fall: Nomen est omen. Denn zu dieser Zeit wehen alle noch Anwesenden nur noch auf Halbmast.
Überhaupt, wenn der Tag schon eher mau angefangen hat: Bereits um sieben der Kampf um die eine Kaffeemaschine. Ab halb acht der Kampf mit dem einen Kopiergerät. Und spätestens ab dreiviertel acht der Kampf gegen das eine Telefon. Es läutet, und keine deiner Kolleginnen greift zum Hörer. Dann steht aber plötzlich deine Chefin neben dir und schaut dich an mit diesem Blick, bei dem dir sowieso immer ganz hm wird, und schon hast du den Hörer in der Hand.
Grüß G… – Aha. Wen suchen Sie? – Von wem die Mutter? – Jovani… wie? Welche Klasse? – Eine dritte oder vierte Klasse. Mehr wissen Sie nicht? – Gut. Und wen suchen Sie jetzt? – Grabauer, sagen Sie? Tut mir leid, gibt es bei uns nicht. Meinen Sie vielleicht den Herrn Glattauer? Das wäre ich nämlich selb… – Nein? Eine Frau. Aha! Die Frau Grohmann, vielleicht? – Gruber? – Weissenberger? – Auch nicht. Moment. Ich frage einmal eine der Kolle… Wie? Sie sind von der Schule angerufen worden? Okay, Moment! (Ruf ins Lehrerinnenzimmer: Hat wer von euch eine Mutter angerufen, dritte oder vierte Klasse …? Alle schauen gleichzeitig weg. Du wiederholst die Frage, einige Kolleginnen stehen auf, gehen aus dem Zimmer,...