Vorwort
„Als ich 1956 die Arbeit zu diesem Buch begann, hatte ich keinerlei Vorstellung davon, auf was ich mich einließ.“ Mit diesem Satz beginnt der Kinder- und Jugendpsychiater John Bowlby (1907–1990) das Vorwort zu dem ersten Buch seiner bekannten Bindungstrilogie1 (Bowlby, 1969: xi). Er fährt fort: „Zu diesem Zeitpunkt schien es sich um ein begrenztes Thema zu handeln. Es sollten die theoretischen Auswirkungen einiger Beobachtungen erörtert werden, die zu den Reaktionen kleiner Kinder auf die zeitbegrenzte Abwesenheit der Mutter gemacht worden waren.“ Bowlby räumt dabei nur zu gerne ein, dass diese Beobachtungen ursprünglich von seinem Kollegen, dem Sozialarbeiter James Robertson, stammten.
Fünfzig Jahre später gilt Bindung in der Psychologie als eine der geschäftigsten und produktivsten Bereiche, wenn es um Forschung und Theoriebildung geht. Hierzu leistete nicht zuletzt die erfreuliche Zusammenarbeit zwischen Mary Ainsworth und Bowlby einen nicht unerheblichen Beitrag. Ainsworth arbeitete zum ersten Mal mit Bowlby, als sie in den frühen 1950er-Jahren in London als Forschungspsychologin tätig war. In Ohio geboren und in Kanada aufgewachsen, hatte sie den größten Teil ihrer Karriere an der Johns Hopkins Universität in Baltimore und der University of Virginia verbracht. Ainsworth trug mit ihrem scharfen Forscherblick und ihrer Disziplin zum Studium der Bindung bei. Zusammen mit der theoretischen Genialität Bowlbys war Ainsworths Präzision entscheidend dafür, dass Bindung schließlich anerkannt und erfolgreich wurde; nicht nur in akademischen Kreisen, sondern auch darüber hinaus in der Welt der Richtlinien und Praxis.
Daher hielt ich die Zeit für gekommen, ein Buch zu schreiben, das Bilanz zieht über die moderne Bindungstheorie. Es sollte sich dabei an einen Leser richten, der interessiert, jedoch vielleicht auch relativ neu auf dem Gebiet ist. Ich hoffe deshalb, dass dieses Buch Psychologiestudenten, Berater, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Erzieher, Betreuer von Pflegefamilien, Gesundheitspersonal, klinische Psychologen, Kinderschutzbeauftragte, Lehrer, Kinder- und Familienanwälte sowie alle Laien, die sich für menschliche Beziehungen und unseren psychischen Zustand interessieren, ansprechen wird.
Dieses kompakte Buch hat zum Ziel, dem Leser eine knappe Einleitung in einen heute weitgreifenden und internationalen Forschungs- und Untersuchungsgegenstand zu geben. Es basiert in Teilen auf Ideen und Ausschnitten aus den Kapiteln 4 bis 7 eines bereits veröffentlichten Buches, das ich zusammen mit meinen Kollegen Marian Brandon, Diana Hinings und Gillian Schofield (Howe, 1999) schrieb. Der Fachbereich hat sich jedoch in den letzten zehn Jahren rasch verändert und wurde durch moderne Denker erweitert und bereichert. Doch trotz einer klar erkennbaren Linie zu Bowlbys Originaltrilogie hätte der Begründer der Theorie kaum abschätzen können, wie sich sein wie er meinte „begrenztes Thema“ entwickeln würde.
Die heutige Bindungstheorie zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie eine breite Palette von Bio-, Sozial- und Entwicklungswissenschaften einbezieht und anwendet. Diese Vorgehensweise ist voll und ganz im Sinne Bowlbys, der die psychosoziale Entwicklung von Kindern zu Lebzeiten immer eklektisch und aufgeschlossen anging. Seien Sie daher nicht überrascht, in diesem Buch – wenn auch auf Einsteigerniveau – auf viele verschiedene Disziplinen wie Psychologie, Tierbiologie, Humanphysiologie, Neurowissenschaft, Evolutionstheorie, Genetik, Systemtheorie und Sozialpsychologie zu treffen. Die Vielfalt dieser Liste weist darauf hin, dass wir uns am Anfang einer spannenden Reise in die Entwicklungswissenschaften befinden. Es zeigen sich immer wieder überzeugende und oft unerwartete Verbindungen zwischen den Genen und der Umwelt, den frühen Phasen der Gehirnentwicklung und der Qualität der Fürsorge durch die Eltern sowie der Evolutionstheorie und der Sozialpsychologie. Bindung ist eine von mehreren Theorien, die als Mittel zur Erforschung dieser Verbindungen dienen und uns dabei einige innovative Ideen zum Menschen, seinem Verhalten und seiner Entwicklung näherbringt. Wir halten daher fest, dass die Bindungstheorie selbst zwar nur einen Teil des Gesamtbildes darstellt, durch ihre wichtige Rolle zu Beginn des Lebens aber viele spätere Erfahrungen des Individuums beeinflusst.
In jedem Jahrhundert gab es Denker, die durch philosophische Einsicht erkannten, dass unser Selbstgefühl – wer wir sind und wie wir sind – aus unseren Beziehungen zu anderen Menschen hervorgeht. Um Selbstwahrnehmung und soziales Geschick zu entwickeln, müssen wir vom ersten Lebensaugenblick an mit anderen Menschen interagieren. Es trifft jedoch auch zu, dass die Qualität und Art der Beziehungen zu anderen im Detail beeinflussen, wer und wie wir sind. Andere Faktoren, unsere Gene eingeschlossen, spielen selbstverständlich ebenfalls eine Rolle, doch wie sie zum Ausdruck kommen, wird von der Umwelt beeinflusst. Wir stellen daher fest, dass der Qualität unserer Beziehungen große Bedeutung beigemessen werden muss – dies gilt für unsere Entwicklung, unser Selbstgefühl, unsere Fähigkeit, mit anderen umzugehen, und unsere psychische Gesundheit. Sie werden sehen, dass uns die Bindungstheorie einiges über diese Dinge verraten kann, nicht nur im Hinblick auf das Säuglingsalter, sondern über das gesamte Leben.
Schauen wir uns einmal Jamie an. Er ist zweieinhalb Jahre alt und lebt zu Hause mit seiner Mutter und seinem Vater. Sein Onkel Jack kommt heute zu Besuch. Jamie mag ihn sehr gerne und hat immer viel Spaß mit ihm. Daher läuft er sofort zu Jack hinüber, als dieser zur Tür hereinkommt. In Nullkommanichts toben die beiden im Garten herum, und Jamie verlangt danach, Fangen zu spielen oder in der Luft herumgewirbelt zu werden. Viel Kichern und Lachen ist zu hören, bis Jamie nicht aufpasst, stolpert und sich das Knie aufschürft. Er weint, ruft nach seiner Mutter, hält sich das Knie und humpelt zurück ins Haus. Er braucht zweifellos die Fürsorge seiner Mutter und eine Umarmung. Onkel Jack bleibt allein zurück. Niemand anderes als Mama kann hier helfen. Dieses Szenario überrascht uns nicht weiter, wirft aber eine Reihe von Fragen auf. Warum geht Jamie mit seinem aufgeschürften Knie nicht zu Onkel Jack, der doch bis zu dem Unglück Jamies ungeteilte Aufmerksamkeit genoss? Warum muss es ausgerechnet die Mutter sein? Die Bindungstheorie geht solch scheinbar offensichtlichen Fragen auf den Grund.
Sie verrät uns darüber hinaus viel Interessantes über unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten in Beziehungen im Erwachsenenalter. Ein aufgeschürftes Knie löst dann kein großes Leid mehr aus, doch der Verlust des Arbeitsplatzes, der Tod eines engen Freundes, eine schwerwiegende Krankheit oder das drohende Ende einer Liebesbeziehung können dies sehr wohl. Aufgrund der mit solchen Ereignissen verbundenen Angst und des negativen Stresses (Distress) suchen wir einen unterstützenden Partner oder eine Schulter zum Ausweinen auf und können so auch die Erwachsenenvariante von Bindungsverhalten erkennen. Als Erwachsene bringen wir jedoch zu jeder engen Beziehung auch immer unsere komplexe emotionale Vorgeschichte mit. Daher passen unsere Bindungsbedürfnisse und die Reaktionen unserer Partner oder enger Freunde manchmal nicht zusammen.
Ayesha und Raz sind seit einigen Jahren verheiratet. Ayesha weiß, dass Raz gerne Kinder haben würde. Sie hat ihm noch nicht erzählt, dass ihr Chef sie dazu ermutigt hat, sich in ihrer Kanzlei, in der sie als Anwältin tätig ist, um eine wichtige Beförderung zu bemühen. Ayesha hat während des Studiums hart gearbeitet, gute Noten erzielt und ist in ihrem Beruf erfolgreich. Sie erzählt anderen gerne davon, wie stolz ihre Eltern auf ihren Erfolg sind. Sie macht oft Witze darüber, dass sie schon immer „die gute Tochter“ gewesen sei, sich niemals beschwert habe und einfach weitermache. Sie wäre sehr stolz auf die Beförderung, welche ihre Eltern mit Sicherheit beeindrucken würde. Doch der Gedanke, die potenzielle neue Stelle mit Raz diskutieren zu müssen, macht Ayesha nervös. Raz hat bereits mehrmals erwähnt, dass er sich darauf freut, Vater zu werden. Zusammen genießen die beiden materiellen Erfolg und einen gehobenen Lebensstil. Ayesha wird zunehmend angespannter, da sie es nicht gewohnt ist, ihre Gefühle mit anderen zu teilen. „Ich ziehe gewöhnlich den Kopf ein, arbeite hart und mache einfach weiter.“ Sie hat Angst, dass Raz ihre Bemühungen um eine Beförderung nicht unterstützen wird und ihre Beziehung, die ihr sehr wichtig ist, darunter leiden könnte. Obwohl Ayesha Raz gerne von ihren Hoffnungen und Ängsten erzählen würde, hat sie sich ihm immer nur als die coole, kompetente und welterfahrene Frau präsentiert, die weiß, was sie will. Daher tut sie das, was sie immer macht, wenn sie sich verletzlich und ängstlich fühlt: Sie unterdrückt ihre Gefühle, distanziert sich und ist reizbar. Nun könnten wir uns fragen, warum es für Ayesha so schwierig ist, ihren Ängsten Ausdruck zu verleihen und sie mit anderen zu teilen. Warum fällt es ihr so schwer, andere Menschen, besonders jene, die ihr am nächsten stehen, um Hilfe zu bitten? Die Bindungstheorie hilft uns dabei zu verstehen, wie Erfahrungen aus früheren Beziehungen Menschen in der Verarbeitung starker Gefühle beeinflussen. Dies gilt besonders für negative Emotionen im Zusammenhang mit engen Beziehungen.
Obwohl die Bindungstheorie ursprünglich im Aufgabenbereich der Entwicklungspsychologen und Kinderbetreuer angesiedelt war, enthält sie heute Informationen über Persönlichkeit, Verhalten und menschliche Beziehungen, die für das gesamte Leben relevant...