FELIX TRETTER
Bindungsforschung, Psychosomatik und ökosystemische Medizin
Zum Verhältnis von Bindungstheorie und theoretischer Medizin
Die Bindungsforschung konnte bis heute überzeugend zeigen, dass unterschiedliche Bindungsverhältnisse bzw. Bindungsstile im Netzwerk der Beziehungspersonen des Kindes zu unterschiedlichen Risiken für spätere Erkrankungen führen können oder zumindest einen wesentlichen kausalen Anteil daran haben. Damit leistet die Bindungstheorie einen fundierten Beitrag zur theoretischen Pathologie und klinischen Salutogenese und auch zur praktischen Prävention, zumindest in Hinblick auf psychische Erkrankungen. Allerdings ist die Bindungsforschung, wie sie von Bowlby (2008) entwickelt wurde, in besonderem Maße interdisziplinär orientiert und hat demnach keine eindeutige »fachliche Heimat«: Sie beruht auf Ansätzen der Psychoanalyse, der Verhaltensbiologie, der Entwicklungspsychologie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es ist daher wissenschaftssystematisch interessant, entsprechend dem Tagungsthema Bindung und Psychosomatik diese Verbindungen zu sondieren. Es soll in diesem Text versucht werden, verschiedene Aspekte der Bindungstheorie in den Rahmen einer übergreifenden, bis zur humanökologischen Perspektive reichenden Beziehungstheorie einzubinden, die sich in konkreter Form als »ökosystemische« Perspektive auf Gesundheit und Krankheit darstellt (Schaefer & Blohmke 1978; Tretter 1986, 1989 a, 1998, 2008). Dies soll hier durch Querverweise zu unterschiedlichen Bereichen der theoretischen Medizin erfolgen.
Woran ist also anzuknüpfen? Bindung ist zunächst grundlegend dreidimensional zu konzipieren, sie entsteht sozial, beruht auf psychischen Mechanismen und weist biologische Korrelate auf. Die entsprechende Interdisziplinarität der Bindungsforschung regt daher dazu an, mögliche Brücken zu einer umfassenderen – allerdings nur vage existierenden – Theorie einer psychosozialen Medizin zu schlagen, vor allem weil die biologische Forschungsperspektive in der Medizin derzeit dominiert. Die Medizin heute verfügt damit über detailliertes (vor allem biologisches) Wissen und über spezielle, fokale Theorieansätze. Letztere haben allerdings meist nur den Charakter von Hypothesen. Es mangelt nämlich derzeit an zusammenfassenden und umfassenden Gesundheits-/Krankheitstheorien (Gross 1998). Waren es in den 1960er und 1970er Jahren vor allem psychosoziale Erklärungsansätze, so sind es seit längerem die biologischen Konzepte, die Gesundheit und Krankheit erklären sollen.
In dem heute aktuellen molekularbiologischen Bereich zeichnet sich allerdings derzeit zunehmend wieder das systemische Paradigma als Theorieoption ab, das sich in Netzwerkmodellen von molekularen Schaltwegen und Schaltkreisen in der Zelle darstellt. Aus abstrakter Sicht handelt es sich dabei um kausale Beziehungsnetzwerke zwischen Molekülen. Damit erhält der Begriff »Beziehung«, zumindest im Kontext systemischen Denkens, bei der Kausal-Analyse und Modellierung von vernetzten Wirkungsbeziehungen bereits eine zentrale Bedeutung bei der Theoriebildung. Er bietet nämlich die Option, medizinische Sachverhalte gewissermaßen »beziehungstheoretisch« und damit fachübergreifend zu beschreiben. »Beziehung« ist ein strukturorientiertes Konstrukt, das ganz allgemein Beobachtungen verschiedenster Art gedanklich verbindet, also in unserem Fall die Beziehung oder das Verhältnis des Verhaltens des Kindes zum Verhalten der Mutter; hierzu gehört etwa die Sicherheit auf Seiten des Kindes, beim Schutzsuchen Schutz bei der Mutter zu finden (Grossmann & Grossmann 2004, S. 219). Eine solche mathematisch orientierte begriffliche Transformation, bei der »Beziehung« zunächst als Verhaltensoperation von A nach B angesehen wird und nicht auch das Verhalten von B nach A umfasst, führt letztlich dahin, dass eine systemtheoretische Perspektive mit ihren spezifischen Begriffen, Modellen, Methoden, Paradigmen und Theorien als Rahmen genutzt werden könnte (Tretter 2005; Ropohl 2012).
Auf diesen Grundüberlegungen aufbauend wird in diesem Beitrag nun versucht, eine umweltbeziehungstheoretische bzw. ökosystemische Perspektive aufzuzeigen, die zur Bindungstheorie gut passt und auf deren Basis auch Anregungen für übergreifende theoretische Anwendungen möglich sind. Dieses Vorhaben wird in mehreren Stufen dargestellt, bei denen jeweils ein Aspekt der Bindungstheorie zunächst angesprochen und abschließend jeweils ein Fazit gezogen wird: Im ersten Schritt wird besonders ausführlich auf die vorherrschende reduktionistische molekulare Medizin eingegangen, die sich aber zunehmend zu einer synoptischen Systemmedizin entwickelt, welche die molekularen Signalnetzwerke organübergreifend wahrnimmt und die klassische Perspektive einer organismischen Medizin biochemisch rekonstruiert (Tretter 2007). Der Bruchstelle zwischen Körperlichem und Geistigem folgend wird im nächsten Schritt der Bezug zur Psychosomatik (bzw. psychotherapeutischen Medizin) hergestellt, die ebenfalls einen Trend zum molekularbiologischen Reduktionismus zeigt. Die besondere Bedeutung der personellen Umwelt für das Bindungserleben legt allerdings die Konzeption einer »Sozio-Psychosomatik« nahe, die so aber nicht existiert. Deshalb wird der theoretische Bezug zum weithin bekannten »bio-psycho-sozialen Störungsmodell« untersucht (Engel 1977). Schließlich kann durch die Ausweitung des Umweltbegriffs und die Übersetzung des Bindungsbegriffs in eine Taxonomie des Beziehungsbegriffs eine ökologisch-systemische Perspektive skizziert werden (vgl. Tab. 1; Tretter 2008).
Tab. 1: Beispiele für integrative, mehrdimensionale Konzepte der Medizin in Stichworten
Psychosomatik (Adler et al. 2011): Wechselbeziehungen zwischen dem Psychischen und dem Somatischen; auch: »psychosomatische Medizin«
Soziopsychosomatik (Söllner 1989): Erweiterung der Psychosomatik um das Soziale
Psychotherapeutische Medizin (Rudolf & Henningsen 2013): Fokus auf psychotherapeutische Ansätze
Somatopsychik (Echterhoff 2013): Effekte somatischer Krankheiten auf die Psyche
Biopsychosoziales Modell (Engel 1977; Adler 2005): Ausdruck für eine mehrdimensional aufgestellte Pathologie
Psychosoziale Medizin (Buddeberg 2003): verbreiteter Ausdruck, Universitätsfach, häufig verwendet um medizinische Psychologie und Soziologie begrifflich zusammenzufassen; auch Thematisierung der Arzt-Patient-Beziehung
Ökologische Medizin (Tretter 1986): Mensch-Umwelt-Beziehungen und Gesundheit und Krankheit; humanökologische Basis
Systemmedizin (Tretter 1989a, 2005; Ahn et al. 2006a, b; Auffray et al. 2009): Anwendung der (molekularen) Systembiologie in der Medizin; integriertes Mehrebenen-Konzept von Mensch, Gesundheit und Krankheit
Bindungstheorie und die biologische Medizin
Die biologische Bindungsforschung hat Korrelate einer sicheren Bindung des Kindes, der Mutter oder allgemeiner: von Personen zu anderen Personen, gefunden, und zwar in Form eines erhöhten Oxytocin-Spiegels des Kindes oder des betreffenden Erwachsenen (Francis et al. 2004; Insel & Young 2001; Uvnäs-Moberg & Petersson 2005). Gehirngebiete, in denen eine hohe Dichte von Oxytocin-Rezeptoren bzw. Vasopressin-Rezeptoren vorliegt, sind für das Zustandekommen von Bindungserleben bzw. Bindungsverhalten relevant. Auf neurochemischer Ebene ist allerdings nicht nur Oxytocin, sondern sind auch Vasopressin, Opiate, Dopamin und Serotonin involviert (Insel & Young 2001). Es sind sicher noch andere molekulare Strukturen für diesen Zustand erforderlich, wie auch davon auszugehen ist, dass Oxytocin andere Funktionen ausübt und somit nur eine Art Farbstoff im bunten Bild des Beziehungserlebens der Person ist.
Die Neurobiologie bietet heute viele Fakten zu den biologischen Grundlagen psychischer Zustände und Prozesse und ihren Störungen, wie es eben Bindungserfahrungen sind. Sie ist ja mittlerweile die Grundlagenwissenschaft der Psychologie, Psychiatrie, Psychopathologie, Psychosomatik und Psychotherapie. Neurobiologen gehen dabei grundlegend davon aus, dass neues Verhalten durch wiederholte akute Aktivierungen des Gehirns zu morphologischen Konsolidierungen der betreffenden Trägerstrukturen führen: Neurone, die gemeinsam feuern, verdrahten sich auch (nach Hebb 1949). Demgemäß können sich elektrisch aktive Schaltkreise im Gehirn in ihren Verschaltungen wiederholt chemisch-morphologisch so verändern, dass sie eine besonders hohe Reagibilität gegenüber den betreffenden Umweltreizen zeigen. Das betrifft theoretisch auch die Stabilisierung der neuronalen Schaltkreise der Bindung. Von der weiteren psychoneurobiologischen Erforschung von Geborgenheit, Bindung, Lust, aber auch von Stress sind deshalb noch viele neue Details zu erwarten. Und daher ist eine gute Anschlussfähigkeit der Bindungsforschung an die biologische Medizin gegeben. Wegen der Wichtigkeit der zukünftigen Forschungsperspektiven soll dieser Bereich hier besonders detailliert erörtert werden.
Die molekulare Organmedizin
Die heutige Medizin nimmt in Empirie, Theorie und Praxis zunehmend die Form einer klinischen Molekularbiologie an, die das Krankheitsverständnis und die Therapiekonzepte auf molekulare Mechanismen zurückführt (Ganten & Ruckpaul 2007). Das ist, medizingeschichtlich betrachtet,...