Klaus E. Grossmann
EMMY WERNER:
ENGAGEMENT FÜR EIN LEBENSWERK ZUM VERSTÄNDNIS MENSCHLICHER ENTWICKLUNG ÜBER DEN LEBENSLAUF
Emmy Werner gehört zu den wenigen Wissenschaftlerinnen, die in der Psychologie der Entwicklung über den Lebenslauf zu dem Fundament beigetragen haben, auf dem sie ruht. Sie ist eine der seltenen Autorinnen, die der Entwicklungspsychologie das Wichtigste gegeben haben, das sie braucht: Längsschnittuntersuchungen, in denen Menschen von der Geburt an über viele Jahre beobachtet, gemessen, geprüft, befragt und in ihren Lebensvollzügen dargestellt werden. Meisterlich war die Grundlegung ihrer Untersuchung, deren Teilnehmer 1955 geboren wurden und die bis 1995, als sie 40 Jahre alt waren, viele Male besucht wurden. Unser Wissen über gute Entwicklungsbedingungen hat durch Emmy Werner außerordentlich gewonnen und auch unser Wissen darüber, wodurch Schwierigkeiten, Beeinträchtigungen, Handikaps und ein schlechter Lebensanfang überwindbar werden.
Emmy Werner pflegt ihre Bücher mit einem Gedicht zu beginnen. Das neueste Buch (2001) heißt »Journeys from Childhood to Midlife: Risk, Resilience and Recovery«. Der Titel zeigt die in der positiven Grundstimmung ausgedrückte Hoffnung, die für viele, wenn auch nicht für alle in den Lebensläufen dokumentiert ist. Das dem Buch vorangestellte Gedicht von Robert Louis Stevenson (1850–1894) lautet:
Life is not a matter
of holding good cards,
but of playing
a poor hand well
In einfacher Sprache, so sagt die Laudatio von ZERO TO THREE des US National Center for Infants, Toddlers, and Families (1999) in Anerkennung von Emmy Werners Lebenswerk, vermittelt sie Weisheit und Wissen darüber, wie aus Kindern verantwortungsbewußte Jugendliche und junge Erwachsene werden und gebende Mitglieder der Gesellschaft. Emmy Werner schreibt über Zuversicht, Kompetenz und Sorge für den Nächsten und darüber, welche Entwicklung es braucht, um gut zu lieben, gut zu arbeiten, gut zu spielen und Gutes zu erwarten. Sie schreibt über den Wert der Verbindung mit Freunden und Verwandten, mit der Familie und mit der Gemeinschaft. Sie schreibt über Risiko, Schutz, Resilienz und Überwindung von allzu großer Unbill.
Emmy Werner hat 1949 zum ersten Mal von entwicklungspsychologischen Längsschnittstudien gehört. Sie war davon fasziniert. Fünf Jahre später, 1954, war sie in Berkeley, Kalifornien, und arbeitete mit drei berühmten Entwicklungspsychologinnen: Nancy Bayley, Jean W. Macfarlane und Marjorie Honzik. Dort entwickelte sie die Idee, zu untersuchen, was geschehen müßte, damit ein schlechter Lebensstart durch ein Geburtstrauma sich nicht zu einem Lebenstrauma entwickelt. Sie nahm alle 698 Kinder, die im folgenden Jahr auf der Insel Kauai im Hawaii-Archipel geboren wurden, in ihre Untersuchung auf, den gesamten Jahrgang. Den verletzlichsten unter ihnen widmete sie ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie wollte verstehen, was ihnen half, ihr großes Handikap zu überwinden, und was sie so widerstandsfähig machte. Viele Male während der 40 folgenden Jahre haben wir von Emmy Werner gelernt, welche Gabe die mütterliche Kompetenz, aber auch die von Geschwistern, Großeltern, Lehrern und Freunden sein kann, um dem Leben mit Freude und Tatkraft zu begegnen und dabei zu gewinnen.
In ihrem Buch über Kinder im Zweiten Weltkrieg, das auch auf deutsch erschienen ist, zeigt Emmy Werner (2001) in Wort und Bild das Schicksal von Kindern aus vielen Ländern, die Krieg und Trennung erleiden mußten und grauenvolle Ereignisse von Zerstörung und Tod, die ihre Kindheit überschatteten. Zuvor bereits hatte sie dies für die längst vergessenen Kinder des amerikanischen Bürgerkriegs getan (Werner, 1995). In beiden Werken dokumentiert sie die psychologische Wirklichkeit der Kinder, die unter Terror, Hunger, Elend und Unsicherheit leben mußten. Ohne den mitfühlenden Blick und ohne ein Herz für das Leid dieser und aller Kinder in solchen entsetzlichen Lebensumständen wäre ihr Leid vergessen. Ihre Bücher mahnen uns, sorgfältig mit unseren Kindern umzugehen und sie zu lieben, um ihnen ein Leben voller Energie und Zuversicht auch bei den anspruchsvollsten Herausforderungen zu ermöglichen.
Vielleicht waren es ihre eigenen Erinnerungen an die Kriegskinder, die Emmy Werner als Teenager selbst erlebt hatte, die sie zur Entwicklungspsychologin der Wiedergutmachung werden ließen, die Umstände untersucht, wie unverdiente traumatische Erfahrungen nicht zu lebensverkrüppelnden Ereignissen werden müssen. Auf Kauai hat sie den Schlüssel dazu gefunden: Die Kraft der bedingungslosen Akzeptanz eines jeden Kindes, besonders aber der Kinder in physischer und psychischer Not, durch wenigstens eine liebende Person trägt entschieden dazu bei, deren Leben lebenswerter zu gestalten. Sie hat das universelle Grundbedürfnis nach solchen Personen auf eine Weise belegt, die keine Kritik der Welt widerlegen kann. Sie hat die Vielfalt des Engagements hilfsbereiter und mitfühlender Menschen aufgezeigt, die tatsächlich trostlose Lebenspfade in eine liebevolle, zuversichtliche und lebensbejahende Richtung umlenken kann. Emmy Werner zeigt uns, daß diese Zuneigung die Quelle eines sinnvollen Lebens eines jeden einzigartigen Individuums ist. Jede überwundene Widrigkeit zeugt Hoffnung, die jeder von uns zusammen mit Kindern schaffen kann. Ihr ruheloses Engagement, diese in einer langen Lebenszeit erarbeiteten und bewiesenen Erkenntnisse auch in der tägliche Arbeit mit Kindern in seelischer Not zu praktizieren, um Schaden von ihnen abzuwenden oder sie zu heilen, macht die Kauai-Studie zu etwas Besonderem und Grundlegendem für die Entwicklungspsychologie. Darüber hinaus sind diese Studie und ihre Bücher über die Not von Kindern im Krieg zu einem Leitfaden vor allem für die praktische Arbeit mit solchen Kindern geworden, denen liebevolle Erfahrungen bislang vorenthalten und die deshalb ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt wurden.
Längsschnittliche Forschung ist mühsam. Sie dauert ein Leben lang und ist nie zu Ende. Die Erkenntnisse aber, die sie zeitigt, sind zum Fundament aller Wissenschaften geworden, die sich die Bedingungen gelingender und gefährdeter Entwicklung individueller Kinder zum Anliegen gemacht haben. Erfolgreiche Prävention und Intervention werden ihre Früchte sein, und vielleicht letztlich auch die Verwirklichung einer Utopie: die denkbar besten Entwicklungsmöglichkeiten für alle Kinder dieser Welt.
Ich möchte im folgenden zeigen, wie Emmy Werners Forschungsergebnisse nicht nur das Verständnis für die Bedingungen individueller Entwicklungsverläufe in der Entwicklungspsychologie beeinflußt und geprägt haben, sondern wie sie, zusammen mit einigen anderen, die ihr auf dem Wege lebenslanger entwicklungspsychologischer Untersuchungen gefolgt sind, auch Grundlagen für die Entwicklungspsychopathologie, die Bedingungen für potentielle Fehlentwicklungen individueller Lebensläufe erforscht, erarbeitet hat. Die Konzepte Risikofaktoren, Schutzfaktoren, Resilienz und einige mehr sind aus der heutigen Forschung und aus der Interventionsforschung nicht mehr wegzudenken, und sie sind die wichtigste Grundlage für jedes präventive und prophylaktische Denken und Planen geworden.
Hintergrund
In einem Beitrag für das Buch »Landmark Longitudinal Studies of the 20th Century« (Werner, im Druck) schildert Frau Werner die Umstände, unter denen sie gearbeitet und schließlich die Kauai-Untersuchung durchgeführt hat. Ich folge in meiner Darstellung vor allem diesem Beitrag, den ich durch einige Daten aus anderen Veröffentlichungen (Werner, 2000; Werner und Smith, 2001) ergänze.
Frau Werner hörte, wie gesagt, 1949 zum ersten Mal, in ihrem 2. Semester, von Längsschnittuntersuchungen in einem Hörsaal in einer Kaserne in Mainz. Sie erinnert sich an den enthusiastischen, legeren Dozenten, der Undeutsch hieß und der sich, in ihrer Erinnerung, auch so verhielt. Viele ihrer Professoren waren aus der damalige Ostzone geflohen, um der Herrschaft der Kommunisten zu entkommen. Nancy Bayley leitete damals die Berkeley Growth Study. Jean Macfarlane leitete die Oakland Guidance Study. Beide Projekte haben ihre Aktualität nie verloren und später durch Glen Elders weitere Analysen noch viele Erkenntnisse gebracht. Marjorie Honzik hielt die ungeheure Fülle der Daten am Institute for Human Development in Berkeley kreativ und allwissend zusammen. Diese drei Frauen waren Pioniere der Entwicklungspsychologie, die ihresgleichen suchen, aber nur Jean Macfarlane erhielt eine Berufung und wurde, in Emmy Werners Worten, »durch eine kleine leicht zu übersehende Straße geehrt, die zwei imposante Wissenschaftsgebäude miteinander verbindet«. Die Untersuchungen waren die Grundlagen für Jack Blocks »Lives through time« (1971), John Clausens »American Lives« (1993) und Glen Elders »Children of the Great Depression« (Elder, 1974/1999).
Die Kauai-Untersuchung ist nach der Hawaii-Insel Kauai genannt, auf der die 698 Kinder lebten. Sie wurden 1955 geboren und mit 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren untersucht. Landschaftlich ist die Garteninsel Kauai paradiesisch, aber die Tourismusindustrie überdeckt die chronische Armut der ethnisch unterschiedlichen Bevölkerung, die dort lebt. Als die Kinder 4 Jahre alt waren, wurde Hawaii der 50. Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Während ihrer Grundschulzeit wurden John F. und Robert Kennedy und Martin Luther King ermordet. Sie erlebten die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und den »War on Poverty«. Mit 20 Jahren kamen die Drogen, und der Hurrikan Iwa verwüstete die Insel. 10 Jahre später, 1992, verursachte der Hurrikan Inki noch stärkere Verwüstungen. 1995, als sie 40 Jahre alt wurden, mußte die älteste Zuckerplantage von Kauai schließen. Es waren genug Härten und...