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E-Book

Bindungen - das Gefüge psychischer Sicherheit

AutorKarin Grossmann, Klaus E. Grossmann
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl759 Seiten
ISBN9783608102789
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis74,99 EUR
Das Standardwerk zur Bindungsforschung aus der Feder der führenden deutschsprachigen Experten liegt seit 2012 in überarbeiteter und völlig aktualisierter Form vor: mit den neuesten Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften und der Psychophysiologie sowie den jüngsten Befunden der Langzeitstudien. Seit über 30 Jahren betreiben Karin und Klaus Grossmann ihre weltweit beachteten Langzeituntersuchungen über menschliche Bindungen. Mit diesem Buch legten Deutschlands bekannteste Bindungsforscher ihr Lebenswerk vor. Fast 100 Kinder konnte das Ehepaar Grossmann über mehr als 30 Jahre, von der Geburt an bis heute, wissenschaftlich begleiten und beobachten. Schon als Säugling binden wir uns an die Eltern, die uns versorgen und schützen. Ob es aber gelingt, eine sichere Bindung zu entwickeln, hängt von der Qualität der Erfahrungen mit Mutter und Vater ab. Und davon hängen wiederum unsere Erwartungen über die Reaktionen anderer Menschen ab, wenn wir deren Unterstützung brauchen. Wie die Forschungsergebnisse zeigen, führen positive Erfahrungen mit beiden Eltern zur Bereitschaft, verläßliche, vertrauensvolle Beziehungen einzugehen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Bereits in den ersten Lebensjahren wird das Fundament für Freundschaften, Partnerschaften und den rücksichtsvollen sozialen Umgang mit anderen gelegt. Der Bindungsprozeß und die Entstehung psychischer Sicherheit wird von seinen frühen Anfängen ebenso dargestellt wie der Einfluß von Bindungen bei Erwachsenen und im hohen Lebensalter.

Karin Grossmann, Dr. phil., Dipl.-Psych., Freie Wissenschaftlerin, assoziiert am Psychologischen Institut der Universität Regensburg, Lehrbeauftragte der Universität Salzburg. Zusammen mit ihrem Mann Klaus E. Grossmann veröffentlichte sie bei Klett-Cotta Bindung - das Gefüge psychischer Sicherheit und Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie.

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Leseprobe
EINLEITUNG Das vorliegende Buch ist eine Lebensarbeit. Es ist das Ergebnis unserer dreißigjährigen Bindungsforschung, die wir in Zusammenarbeit mit vielen anderen durchgeführt haben. Bindungen gehören zu den Ursprüngen der Menschwerdung mit der verlängerten Kindheit des Menschen im Vergleich zu anderen Primaten. Erforderlich ist die individuelle Zuneigung besonderer Erwachsener, die das Kind beschützen, versorgen und in die Kultur einführen. Bindungen gehören zur Natur des Menschen. Das Gefüge psychischer Sicherheit entsteht aus menschlicher Zuneigung. Psychische Sicherheit bereichert das Leben, während psychische Unsicherheit es einschränkt. Wir wünschen uns, dass dieses Buch dazu beiträgt, den Wert von Bindungen für Menschen aller Altersgruppen zu erkennen. Wir möchten dazu beitragen, dass besser verstanden wird, warum unsere Bindungen uns so sehr in unserem Fühlen, Denken, Planen und Tun beeinflussen. Das Buch beschreibt, was zu psychischer Sicherheit führt. Es ist damit auch ein Plädoyer gegen Nachlässigkeit im sozialen Miteinander und es wirbt für mehr Rücksicht und Behutsamkeit gegenüber anderen, besonders gegenüber Kindern. Unser Engagement für Bindung begann in den 1960er Jahren. Wir waren nach vier Jahren in den USA, in denen Klaus seinen Dr. phil. (Ph. D.) in experimenteller und vergleichender Psychologie erwarb, Karin Mathematik und Englisch bis zum Bachelor-Abschluss studierte und unser erstes Kind Carol May geboren wurde, nach Deutschland zurückgekehrt. Weil es in der damaligen akademischen Psychologie zwar viele unverbundene theoretische Ansätze gab, aber kein übergreifendes Konzept existierte, das im Einklang mit der Stammesgeschichte des Menschen, seinen psychologischen Besonderheiten und seiner individuellen Entwicklung stand, suchte Klaus einen Wirkungsort, an dem er sein Interesse an solchen Fragen weiterverfolgen konnte. Durch die Berücksichtigung von Kultur (Cole, 1996 ), Anthropologie und sozialer Entwicklung (Hrdy, 2000 ) gewann die Psychologie für Klaus wieder an Lebensnähe. Eine Ausnahme und ein Lichtblick in den USA bereits in den 1950er Jahren war das langzeitliche Forschungsprogramm des vergleichenden Psychologen Harry Harlow und seiner Mitarbeiter, darunter seine Frau Margaret K. Harlow. Sie hielten die Beobachtungen von René A. Spitz über die pathologischen Folgen der Mutterentbehrung bei Säuglingen für wichtig genug, um sie experimentell und modellhaft an Rhesusaffen zu untersuchen - mit allen Problemen, die solche Tier-Mensch-Vergleiche mit sich bringen (Harlow & Harlow, 1971; Blum, 2010 ). Auf der Suche nach einer Möglichkeit, in Deutschland eine umfassendere Psychologie wissenschaftlich zu verfolgen, bekamen wir Hilfe von dem damaligen Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Thomas von Randow. Er war Mitglied der Fulbright-Kommission gewesen, der wir unser Studium in den USA verdankten. Er hatte gemeinsam mit dem Literaturredakteur Dieter E. Zimmer einen Hochschulführer verfasst und machte uns auf den Zoologen und Verhaltensbiologen Bernhard Hassenstein in Freiburg aufmerksam. Hassenstein war als ausgezeichneter Ethologe und Kybernetiker ein wahrhaft interdisziplinär orientierter Wissenschaftler und darüber hinaus sehr an der Entwicklung von Kindern interessiert. Er ermöglichte dem Nicht-Zoologen Klaus eine Assistenzstelle am Zoologischen Institut der Universität Freiburg und warb für Karin Forschungsmittel für eine umfangreiche Literaturrecherche ein. In dieser Zeit wurde unser zweites Kind Gerald Bert geboren. Klaus erforschte zunächst experimentell den Farbensinn und das individuelle Lernvermögen von Honigbienen und konnte sich damit in Verhaltensbiologie und Psychologie gemeinsam bei Bernhard Hassenstein und Robert Heiss habilitieren. Karin exzerpierte Literatur zur Sozialisation von Tier und Mensch für Hassensteins erfolgreiche 'Verhaltensbiologie des Kindes' (1973) , die 2006 in der 6., überarbeiteten Auflage erschien. Er überzeugte uns von der Stärke offener Neugier als Grundlage für wissenschaftliches Forschen. Die Arbeit in Freiburg war die Basis für unsere Bindungsforschung. Wir setzten uns mit den theoretischen Vorstellungen von Konrad Lorenz auseinander, gingen mit ihm Graugänse beobachten und machten uns in der Ethologie kundig (Grossmann, K. E. , 1968; Grossmann, K. & Grossmann, K. E. , 1969). B. Hassenstein bestärkte uns im offenen Explorieren, das er mit Forschen gleichsetzte, wie es auch Konrad Lorenz tat (Lorenz, 1967 ). Wir lasen die ersten Schriften von John Bowlby, der sich als Psychiater, Psychoanalytiker und unabhängiger Geist weder der herrschenden verengten akademischen Psychologie noch der Doktrin der Psychoanalyse verpflichtet fühlte - wohl aber ihren Fragen - und der das Wissen der damaligen Ethologie und der Systemforschung in seine Theorie einbezog. Wir waren fasziniert von der Möglichkeit, Beobachtungen auf der Basis der Verhaltensforschung an Kindern und ihren Eltern sowie anderen vertrauten Personen durchzuführen und sie mit der traditionellen Entwicklungspsychologie zu verbinden. Für uns war die verhaltensbiologisch orientierte Bindungstheorie deswegen so anziehend, weil sie gesunde, gelingende, aufeinander abgestimmte Interaktionen innerhalb einer Familie als 'normal' ansah. Im Gefüge psychischer Sicherheit spielen Freude, Zärtlichkeit, behutsamer, entgegenkommender und rücksichtsvoller Umgang miteinander - kurz Liebe - eine zentrale Rolle. Wir wollten die Bedingungen in Familien erforschen, die eine seelisch gesunde, psychisch sichere Entwicklung ermöglichen. Sie lassen sich mit Störungen und Mängeln vergleichen, die zu abweichenden oder gar pathologischen Entwicklungen führen können (Bowlby, 1979 d/2001 ). Die in den USA forschende Psychologin Mary Ainsworth mit ihrer äußerst detaillierten, sorgfältig beobachtenden Forschung war unser leitendes Vor- und Leitbild. Aufgrund der dort gesammelten Erkenntnisse darüber, wie unterschiedliche mütterliche Stile im Umgang mit Säuglingen deren Bindungsentwicklung beeinflussten, wurden ihre Untersuchungen in Uganda und Baltimore zu einer der einflussreichsten systematischen Forschungen der modernen Entwicklungspsychologie. Es lag nahe, zunächst genauso zu beginnen. Dabei halfen uns auch ihre Schülerinnen Mary Main und Inge Bretherton , denen wir ebenso wie Mary Ainsworth selbst großen Dank schulden für ihre beständige, wohlwollende, tatkräftige, hilfreiche und ermutigende Unterstützung. Wir haben die grundlegenden Untersuchungen von Mary Ainsworth in einem Sammelband auf Deutsch herausgegeben (Grossmann, K. E. & Grossmann, K. , 2003). Zunächst waren wir skeptisch, ob stundenlange Beobachtungen von Müttern mit ihren Säuglingen auch in durchschnittlichen deutschen Familien möglich wären, da die meisten Familien das Baby in den sehr privaten Räumen Schlafzimmer, Bad und Küche versorgten. So begann Karin eine Voruntersuchung mit sechs Müttern und ihren Säuglingen. Diese Familien waren so offen, zugänglich und freundlich, dass uns die Erfahrungen mit ihnen Mut zu weiterer Forschung dieser Art machten. Die Voruntersuchung öffnete uns aber auch die Augen für die Lebendigkeit und damit Unvorhersagbarkeit einer Erforschung des Erlebens von Säuglingen in ihren Familien, auf das wir uns einzulassen im Begriff waren. Wir danken diesen Familien herzlich. Zwischen 1970 und 1980 war es auf den Entbindungsstationen üblich, die Neugeborenen von den Müttern zu trennen und in getrennten Säuglingszimmern unterzubringen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse favorisierten, dass sie zusammenblieben, um 'bonding' zu ermöglichen (Klaus & Kennell , 1976). Das wollten wir überprüfen. Dazu war es notwendig, die damalige Routine einer Wochenstation entsprechend einem wissenschaftlichen Forschungsplan ändern zu dürfen. Was das an Vorarbeit und Engagement bedeutete, hatten wir uns nicht vorstellen können. Ohne das Engagement des damaligen Chefarztes des St.-Franziskus-Krankenhauses in Bielefeld, Dr. Philipp Lachenicht , wäre das undenkbar gewesen. Seine beständige Unterstützung, die er uns bei jeder Begegnung auf den Fluren des Krankenhauses entgegenbrachte und die sich allmählich auf die meisten Schwestern übertrug, bleibt uns in dankbarer Erinnerung. Die Hebammen waren uns eine besondere Hilfe dabei, die Eltern der zunächst 51 Kinder unserer Bielefelder Untersuchung zur Mitarbeit zu gewinnen. Viele Eltern willigten ein, noch ehe das Kind geboren war. Ihnen gebührt unser uneingeschränkter und bewundernder Dank dafür, dass sie sich so lange von unserem Forschungsteam befragen und beobachten ließen. Das gilt ebenso für die 51 Regensburger Eltern, die wir um ihre Teilnahme baten, als die Kinder knapp ein Jahr alt waren. Wir konnten damals noch nicht abschätzen, ob wir eine bindungspsychologische Langzeituntersuchung durchführen konnten und ob wir die dafür erforderlichen Forschungsgelder bekommen würden. Dies war anfangs besser gelungen als im weiteren Verlauf, als wir unsere anonymen Gutachter nicht immer von unseren ethologischen und diskursiven Forschungsmethoden überzeugen konnten. Zu Beginn war es die Stiftung Volkswagen, die unser Projekt 5 Jahre lang finanzierte. Zahlreiche Forschungsanträge an die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Weiterführung der Untersuchungen in Bielefeld und zur Durchführung der zweiten und mehrerer kleinerer Untersuchungen in Regensburg sowie kultur-vergleichender Forschungen in Japan und auf den TrobriandInseln, Papua-Neuguinea, wurden ebenfalls bewilligt. Schwierig wurde es immer dann, wenn wir neues Terrain betraten: das erste Mal, als wir Forschungsgelder für lebensnahe 'unkontrollierbare' Beobachtungen von Mutter-KindInteraktionen zu Hause beantragten, statt uns auf kontrollierbare Tests und Fragebögen zu beschränken; das zweite Mal, als wir 'als Laien' auch nicht-intrusive physiologische Untersuchungen durchführen wollten (Veränderungen der Herzschlagfrequenz und den Kortisolanstieg). Wir sollten, um methodischen Ansprüchen zu genügen, einjährige Kinder allen Ernstes festschnallen Einleitung ('arretieren, um motorische Artefakte auszuschließen'), obwohl wir sie rechnerisch kontrollieren konnten (Spangler & Grossmann , K. E. 1993). Beim dritten Mal - als wir innere Modelle über Bindung ('Bindungsrepräsentationen') und Partnerschaft ('Partnerschaftsrepräsentationen') erfassen wollten - blieb eine Bewilligung aus, weil wir uns nicht an gängige Sprachanalysen hielten. Die späteren Untersuchungen wären deshalb ohne die großzügige Unterstützung der Köhler-Stiftung von Dr. Lotte Köhler, München, unvollendet geblieben. Erst durch die Fortführung ins junge Erwachsenenalter, oft mit neuen, zwar bindungstheoretisch fundierten, aber damals noch empirisch ungeprüften Methoden, konnte das Bild entstehen, das wir in diesem Buch darstellen. Das suchende Forschen hat Lotte Köhler uns ermöglicht, wofür wir ihr sehr dankbar sind. Beim Schreiben des Buches haben wir uns als Leser all jene vorgestellt, die mit Kindern und Beziehungen zwischen einander vertrauten Menschen sowie mit ihren Problemen zu tun haben, in Beratungsstellen, Institutionen, in der Forschung oder als wissensdurstige Eltern. Wir hoffen natürlich, auch diejenigen Psychologen zu erreichen, die nur in der Enge des experimentellen Paradigmas gefangen sind, um ihnen zu zeigen, wie lebensnah psychologische Forschung sein kann. Die Ergebnisse haben wir in anschaulichen Beschreibungen, aber auch in technischer Sprache, in Tabellen und Graphiken über die Zusammenhänge und mit vielen Literaturhinweisen dargestellt, um keine 'Schwarz-Weiß-Malerei' zu betreiben und uns an wissenschaftliche Standards zu halten. Trotzdem hoffen wir, dass im Kopf des Lesers ein klares Bild entsteht. Jeder gefundene Zusammenhang muss im Ganzen und als Wahrscheinlichkeit gesehen werden, der nicht immer für jeden einzelnen Fall zutreffen muss. Unser Dank gilt - neben den beteiligten Familien - unseren Lehrern, finanziellen Unterstützern und Helfern, besonders auch unseren vielen Studenten, Diplomanden und Doktoranden. Sie haben viele Daten gesammelt, umfang reiche Auswertungen von videografierten Beobachtungen und schriftlich festgehaltenen Gesprächen durchgeführt und all das analysiert. Im Rahmen unserer Langzeit- und kürzeren Untersuchungen sind in 30 Jahren über 200 Diplomarbeiten und 25 Dissertationen am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie der Universität Regensburg entstanden. Unser besonderer Dank gebührt auch denjenigen unserer Doktoranden, die unter finanziell eingeschränkten Bedingungen weite Fahrten unternommen haben, um möglichst viele Jugendliche und junge Erwachsene in ganz Deutschland wiederzufinden. Trotz großer Anstrengung, oft langer Geduldsproben und mancher Irrwege herrschten überwiegend Zuversicht und eine gute Atmosphäre unter allen Beteiligten. Etliches ist gescheitert, aber vieles auch gelungen. Das Gelungene ist im vorliegenden Buch dargestellt. Die erfolglosen Versuche haben jedoch oft erst den Erfolg ermöglicht, weil man vorher meist nicht genau wissen kann, worauf es bei der Analyse von Zusammenhängen ankommt! Ein besonderer Glücksfall für das vorliegende Buch war die Mitarbeit von Sue Kellinghaus, die ihr Zeichentalent im Dienst unserer Bindungsforschung weiterentwickelt und alle Bilder dieses Buches gezeichnet hat. Sie machen vieles anschaulich. Eine solche Zusammenarbeit mit jungen, klugen und engagierten Studierenden und werdenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist eine besondere Gnade, die selbst das eigene Altern erfreulich macht. Die Zentrale nahezu allen Geschehens war Margit Frimberger, unsere Sekretärin am damaligen Lehrstuhl. Ohne ihren Überblick über die vielen Forschungsanträge, ihre kundige Verwaltung der Konten, die umfangreiche Korrespondenz mit Forschungskollegen und den zahlreichen Interessenten an unserer Forschung und besonders ohne ihre Niederschrift zahlreicher Versionen des Buchmanuskripts und die Verwaltung der umfangreichen Literatur des vorliegenden Buches hätten wir unser Ziel kaum erreicht. Es war eine Freude, mit ihr zu arbeiten, und eine Quelle der Sicherheit, sich immer auf sie verlassen zu können. Wir danken auch - und nicht zuletzt - unseren eigenen Kindern, die während ihrer Kindheit Eltern ausgehalten haben, die auch noch Arbeitskollegen waren. Das brachte die Notwendigkeit langfristiger Planungen, oft Verspätungen, häufiges geistiges 'Abwandern' - auch am Familientisch - in fachliche Gespräche, 'heimliches' Verschwinden an die Uni, auch an manchen Samstag, und viel berufsbedingte Abwesenheit mit sich. Sie haben es meist wohlwollend oder, nachträglich, mit Humor hingenommen. Der Aufbau des Buches in seinen Teilen folgt dem Alter der untersuchten Kinder, wobei in Teil I die theoretischen Grundlagen gelegt werden und Teil X eine Art bewertende Rückschau darstellt. Innerhalb jedes Teils werden zunächst ausgewählte Entwicklungsschritte und -aufgaben in dem jeweiligen Altersabschnitt beschrieben, um an die allgemeine Entwicklungspsychologie anzuknüpfen. In jedem Alter sind Bindungsgefühle und Bindungsverhalten eng mit der gesamten Entwicklung verbunden, mit der Entwicklung von Denken, Planen, Wollen, der Entwicklung der Selbständigkeit, der Selbstkontrolle und der sozialen Fähigkeiten. Das Forschen im Rahmen der Bindungstheorie hat uns viel Freude bereitet. ZU DIESER AUFLAGE Die Bindungstheorie hat sich etabliert. Sie zeigt, was Eltern ihren Kindern geben können und was Kinder brauchen, um psychische Sicherheit in ihrem Leben zu erlangen und aufrechtzuerhalten - einem Leben, das voller komplexer Anforderungen und in dem manches unvereinbar sein wird. John Bowlby hatte die Bindungstheorie für seine klinisch-therapeutischen Kollegen als theoretisches Gerüst entworfen. Sie wurde jedoch zuerst von Entwicklungspsychologen als eine Theorie der seelischen Entwicklung angenommen, die mit ihren Forschungsmitteln überprüfbar war. Auf den entwicklungspsychologischen Forschungsergebnissen basierend hat sie Eingang in die klinische Psychologie und in schulenunabhängige Therapien gefunden. Sie dient dort als immer besser etablierte Grundlage für nachhaltige Interventionen. Sie hat in der Entwicklungs-, der klinischen Psychologie und in der Psychobiologie zu einer außerordentlichen Forschungsaktivität geführt, entsprechend Bowlbys Wunsch nach wissenschaftlicher Überprüfung und Fundierung alter Fragen über die Bedingungen für eine seelisch gesunde menschliche Entwicklung. Ebenso kann sie Fragen beantworten, welche Bedingungen eine gesunde Entwicklung beeinträchtigen. Den enormen internationalen Zuwachs an neuen empirischen Forschungsergebnissen belegt die 2.Auflage des Handbook of Attachment: Theory, Research and Clinical Applications (Cassidy & Shaver, 2008). In Deutschland zeigen die von Karl Heinz Brisch und Theodor Hellbrügge (seit 2011 nur noch von Brisch) beim Verlag Klett-Cotta herausgegebenen Bände zu den Münchner Bindungskonferenzen und z.B. auch der Sammelband von Bernhard Strauß (2008) die große Bedeutung bindungspsychologischer Erkenntnisse für die klinische Pra 26 Zu dieser Auflage xis. Langzeituntersuchungen wurden weitergeführt und neue, auch im Erwachsenenalter, wurden begonnen. Verfeinerte Methoden der Erfassung von Bindungsqualitäten und neue Methoden in der Datenanalyse haben Forschungsprojekte auch in angewandten Bereichen ermöglicht: bezüglich Tagesbetreuung, Adoption und Langzeitpflege, zu den Folgen einer Scheidung der Eltern und hinsichtlich einer Kindeswohlgefährdung. Die Anwendungsbereiche erstrecken sich inzwischen 'von der Wiege', der Neonatologie (Brisch & Hellbrügge, 2007), 'bis zur Bahre', der Palliativmedizin (Petersen & Köhler, 2005, 2006), wie John Bowlby es sich vorstellte (Bowlby, 1979 a / 2001 , S. 160). In der vorliegenden Neuauflage wurden viele Quellen, die in der 2004 erschienenen Erstauflage angegeben waren, durch neue Veröffentlichungen ersetzt. Es hat uns erstaunt, wie gut die neuen Forschungsergebnisse in das Grundkonzept der Bindungstheorie passten. Besonderes Gewicht haben die Bedingungen und Folgen desorganisierter Bindungsunsicherheit erhalten. Der Zuwachs ist beeindruckend, den es im genaueren und differenzierteren Wissen für die klinische Praxis (Strauß, 2008 ; Steele & Steele, 2008 a), für die erzieherische Arbeit in der Frühpädagogik (Ahnert, 2010 ; Becker-Stoll & Textor, 2007; Suess & Burat-Hiemer, 2009), für die Erziehungsberatung (Sunderland, 2007 ) und in der Bindungspsychologie Erwachsener (z.B. Mikulincer & Shaver, 2007; Rholes & Simpson , 2004) gegeben hat. Neurophysiologische Untersuchungen haben unser Wissen über genetische Einflüsse revolutioniert. Man erkannte über Artengrenzen hinweg, dass die epigenetische Genexpression (die von der Umwelt beeinflusste ausgeführte oder behinderte Aktivität der Gene) entscheidend von der Qualität der Fürsorge abhängt. Eine angemessene bemutternde Fürsorge kann eine Disposition zu Überreaktionen auf Stress verhindern, aber ebenso kann mangelnde Fürsorge eine Disposition zu ausgeglichenen Reaktionen auf Stress in Überreaktionen verwandeln (Spangler, 2011 ; Suomi, 2003 ). Wir haben uns weiterhin auf die Entwicklung und Erscheinungsformen psychischer Sicherheit konzentriert. Was sind Kennzeichen - in Interaktionen und in Dialogen - für gegenseitige Wertschätzung, für liebevolle Fürsorge, für eine Unterstützung des Schwächeren oder weniger Kundigen und für die Hilfsbereitschaft bei Überforderung? Wir haben dies für jede Altersgruppe beschrieben, für das Säuglings- und Kleinkindalter, das Schul- und Jugendalter, das Erwachsenenalter bis zum höheren Alter. Psychische Unsicherheiten waren in den von uns untersuchten Nicht-Risiko-Gruppen durch Einschränkungen und Störungen möglicher Entfaltung, Einschränkungen in der seelischen Gesundheit und durch Verzerrungen in den Interaktionen in engen sozialen Beziehungen Zu dieser Auflage gekennzeichnet. Für bindungsunsichere Entwicklungswege beschrieb John Bowlby die Folgen so: 'Wenn die Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung verschlossen ist, bleibt sie unzugänglich. Dann richtet sich Ärger auf die falschen Ziele, Angst tritt in unangemessenen Situationen auf, und Feindseligkeit wird von falscher Seite erwartet.' (Bowlby, 1988d/2008 , im Orig. S. 117). Das können wir auch auf der Basis unserer Ergebnisse in der Grundlagenforschung bestätigen. Die Kenntnis einer unbeeinträchtigten Bindungsentwicklung kann Fachleuten in den helfenden Berufen als Bezugsrahmen dienen, um Einschränkungen in der psychischen Sicherheit in ihren vielen Erscheinungsformen zu erkennen. Mit dem Blick auf eine normale Entwicklung, die angemessenen sozialen Bedingungen und gesunde Bewältigungsmethoden wird eher deutlich, was in der Entwicklung zu psychischer Unsicherheit gefehlt hat. Mit Hilfe des Bezugsrahmens 'psychische Sicherheit' können nicht nur genauer die Mängel und nachteiligen Einflüsse im Leben der belasteten Person erkannt werden, sondern auch, was im Verhalten und in der Vorstellung zu verändern ist, um den Einklang mit sich und den seinen zu verbessern. Diese Perspektive ist der 'Gewinn' der Bindungstheorie für die klinische Arbeit. Wie bereits bei der ersten Auflage gebührt vielen Helfern und Unterstützern unser Dank. Besonders intensiv und wiederum erfreulich und förderlich war, wie bereits bei der ersten Auflage, die Hilfe beim Schreiben und bei der Literatur von Margit Frimberger und stilistisch von Thomas Reichert. Regensburg, im Juli 2011 Dr. Karin Grossmann, Prof. Dr. Klaus E. Grossmann TEIL I Historische, biologische und bindungspsychologische Grundlagen Die Fähigkeit des Menschen, Sprache und andere Symbole zu gebrauchen, sein Vermögen, Pläne und Modelle zu entwickeln, eine lang andauernde Zusammenarbeit und endlose Konflikte mit anderen einzugehen, dies macht den Menschen zu dem, was er ist. All diese Prozesse haben ihren Ursprung in den ersten drei Lebensjahren, und alle sind zudem von den ersten Lebenstagen an Teil der Organisation des Bindungsverhaltens (Bowlby, 1969/2006, S. 358 im Orig. ). KAPITEL I.1 Historische und evolutionsbiologische Wurzeln der Bindungsforschung I.1.1 Bindung und Bindungstheorie Bindung (attachment) ist die besondere Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern oder Personen, die es beständig betreuen. Sie ist in den Emotionen verankert und verbindet das Individuum mit anderen, besonderen Personen über Raum und Zeit hinweg (Ainsworth, 1973 ). Die Bindungstheorie wurde von John Bowlby, einem englischen Psychoanalytiker, formuliert. Sie ist im ethologischen Denken der 1960er Jahre entstanden und verbindet klinisch-psychoanalytisches Wissen mit evolutionsbiologischem Denken. In der Bindungstheorie werden vier Betrachtungsebenen miteinander verbunden: eine phy logenetisch-ethologische, eine psychologische, eine ontogenetische und eine klinische. In jüngster Zeit sind durch die Neurowissenschaften und die Psychologie auch die Physiologie und die Epigenetik, d.h. die Beeinflussung der Gen-Expressionen durch Umweltereignisse, hinzugekommen (Spangler, Johann , Ronai & Zimmermann , 2009; Coan, 2008 ). Evolutionsbiologisch besteht eine angeborene Bereitschaft des Menschen und damit die Notwendigkeit zur Bindung auf der Grundlage stammesgeschichtlicher Selektionsbedingungen. Ohne Schutz und Fürsorge kann bei sozial lebenden Säugetieren kein Junges überleben. Psychologisch, in der wirklichen Erfahrung jedes einzelnen Menschen, können die individuellen Qua litäten von Bindung des Kindes an seine Eltern im ersten Lebensjahr bereits sehr verschieden sein. Diese Unterschiede haben Folgen für das Individuum während des Lebenslaufs (Ontogenese). Die Bindungsforschung untersucht die Art individueller Verinnerlichung unterschiedlicher Bindungserfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Organisation der Gefühle, des Verhaltens und der Ziele einer Person. Die Verinnerlichung dessen, wie man sich als handelndes Individuum erlebt, entsteht primär aus dem Zusammensein mit den Bindungspersonen: den Eltern, Adoptiv- oder Pflegeeltern und anderen Personen, die dem Kind nahestehen. Die evolutionsbiologisch andere Seite des Bedürfnisses eines Kindes nach Schutz und Fürsorge ist die meist unbewusste Kalkulation der Eltern, ob und wie viel sie in dieses Kind investieren wollen. Während ein junges Kind unmittelbare Reaktionen seiner Bindungsperson einfordert, sind die elterlichen Perspektiven eher langfristig auf ihre eigene reproduktive Fitness ausgerichtet, und sie müssen vielfältige Aufgaben in ihrem Leben und ihrer Familie berücksichtigen. Die Vernachlässigung eines 'unpassenden' Kindes könnte dem Wohl ergehen eines oder mehrerer anderer Kinder dienen. Mit dieser Kalkulation könnten sie die Anzahl ihrer Nachkommen in der übernächsten Generation erhöhen (George & Solomon , 2008 ; Simpson & Belsky, 2008; Trivers, 1974 ). Historisch und allgemein ist von bindungstheoretischem Interesse, wie in verschiedenen Epochen, Kulturen und Gemeinschaften mit dem angeborenen Bindungsbedürfnis des Menschen umgegangen wird (Grossmann, K. E., 1995 ). Im Detail wissen wir darüber leider noch wenig, aber Schutz und Fürsorge wird Kindern in allen Kulturen gegeben, und kleine Kinder aller Kulturen flüchten bei Angst zu ihrer Bindungsperson (Grossmann, K. E. & Grossmann, K. , 2005). Die Bindungstheorie befasst sich also mit der emotionalen Entwicklung des Menschen, mit seinen lebensnotwendigen soziokulturellen Erfahrungen und vor allem mit den emotionalen Folgen, die sich aus unangemessenen Bindungserfahrungen ergeben können. Sie war von Bowlby primär als klinische Theorie geschaffen worden, um 'die vielen Formen von emotionalen und Persönlichkeitsstörungen, einschließlich Angst, Wut, Depression und emotionale Entfremdung, die durch ungewollte Trennung und Verlust ausgelöst werden, zu erklären' (Bowlby, 1969/2006; 1973/2006, S. 57 ). Mittlerweile sind einige der Bedingungen erforscht worden, die zu Unterschieden in der Organisation der Gefühle und des Verhaltens führen, und man hat herausgefunden, welche Auswirkungen sie im Lebenslauf haben (Grossmann , Grossmann & Waters, 2005). Dies geschah zunächst, vorbereitet durch psychoanalytische Überzeugungen, im Rahmen einer verhaltensbiologischen Konzeption aus der Zeit der klassischen Ethologie (Bowlby, 1969/2006 ; Grossmann , Grossmann et al., 2003). Die empirische Bindungsforschung überprüft Annahmen und Vorhersagen der Bindungstheorie über Unterschiede im sozial-emotionalen Verhalten zwischen Menschen über alle Altersstufen hinweg. Sie begann in den 1950er und 1960er Jahren mit grundlegenden Beobachtungen im Säuglings- und Kleinkindalter. Sie befasste sich zunächst mit der allgemeinen Bindungsentwicklung, mit unterschiedlichen Bindungsqualitäten, dem Einfluss der mütterlichen Feinfühligkeit, mit unterschiedlichen Bindungsqualitäten zu Mutter, Vater und anderen Bindungspersonen, mit Unterschieden bei Trennungs- und Wiedervereinigungsreaktionen von Säuglingen und mit Veränderungen in ihrem kommunikativen Ausdrucksverhalten. Darauf aufbauend und unter Berücksichtigung von Bowlbys Bindungstheorie als altersübergreifendem Paradigma wurden in den nachfolgenden Jahren zahlreiche Kinder und ihre Familien von verschiedenen Forschern längsschnittlich, von Geburt an bis zum 22. Lebensjahr, untersucht. Ergebnisse für spätere Altersstufen liegen inzwischen vor. Eltern, Geschwister und sogar Großeltern wurden wiederholt einbezogen. Darüber wird in den folgenden Kapiteln berichtet. Bindungstheoretische Überlegungen im weitesten Sinne motivierten bereits Karl Philipp Moritz zum ersten psychologischen Roman der Weltgeschichte, der vor über 200 Jahren geschrieben wurde. Im autobiographischen Roman Anton Reiser, der von 1785 bis 1790 in vier Bänden veröffentlicht wurde, versucht Moritz zu erkunden, warum sein Leben so jammervoll verlief. Er suchte nach Erklärungen z.B. für die panische Angst, die ihn überkam, als ein früherer Logiskollege eines Tages verhaftet wurde. Er sah seine Angst als 'eine natürliche Folge seines von Kindheit an unterdrückten Selbstgefühls . . .' (Moritz, 1987, S. 185). Eine wissenschaftlich-empirische Methode zur Überprüfung der anekdotischen individuellen Rückblicke als Grundlage für die Analyse tatsächlicher Zusammenhänge war aber damals nicht verfügbar, und wohl auch zur Hoch-Zeit der Psychoanalyse, über 150 Jahre später, noch nicht (Grossmann, K. E., 1995 ). Es wurden keine Prüfmethoden entwickelt und keine systematischen Untersuchungen durchgeführt. I.1.2 Die kritische Rolle individueller Entwicklung in der Psychologie Im Wien der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, in dem die Ideen Freuds bereits 20 Jahre lang diskutiert worden waren, arbeitete das Ehepaar Karl und Charlotte Bühler am Psychologischen Institut der Universität. Karl Bühler sah in der leider forschungsfeindlichen Doktrin der äußerst einflussreichen Psychoanalyse eine 'Krise der Psychologie' (Bühler, 1927). Andererseits hatte nach Ansicht von Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer (1929) Wilhelm Wundt den naturwissenschaftlichen Geist, von dem er dachte, er müsse sich an dem Weltbild der Physik orientieren, endgültig für die Psychologie erobert. Karl Bühler hatte ein Dilemma erkannt: Die Psychologie habe noch keinen eigenen Weg zwischen einem am Weltbild der Physik des 19. Jahrhunderts orientierten experimentellen Ansatz auf der Ebene von Variablen und einer 'Psychologie des Verstehens' (Dilthey, 1957; Orig. 1894) gefunden. Auch heute noch plagt sie sich damit. Charlotte Bühler und Hildegard Hetzer (1929) wiesen bereits damals auf eine Schwäche der Gesamtpsychologie hin - die auch heute noch besteht -, dass nämlich '. . . Leistung als Lebensbewältigung und somit das eigentliche Problem der menschlichen Handlung außerhalb ihres [der Psychologie] Rahmens fiel'. Karl Bühlers theoretische Wendung weg von der Physik, aber auch weg von der wissenschaftsfeindlichen Psychoanalyse hin zur Biologie als 'Mutterwissenschaft' bahnte sich damals an. Er hätte vielleicht also schon 1927 den Weg für eine Art Bindungstheorie ebnen können. I.1.3 Die Bindungstheorie zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie Die Bindungstheorie entstand in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Auseinandersetzung des englischen Psychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby mit der Theorie der Psychoanalyse. Er arbeitete und forschte an der Tavistock-Klinik in London. Er integrierte die damals neue Beobachtungssystematik der Ethologie, die Erkenntnisse der Kontrolltheorie und der kognitiven Psychologie (Bowlby, 1991/2003 ). John Bowlby, der die Bindungstheorie und ihre wissenschaftlichen Grundlagen zunächst in öffentlichen Vorträgen bekanntmachte, wurde wegen seines empirischen Ansatzes von psychoanalytischen Kollegen angegriffen (Holmes, 2002 ). Sein Denken und seine Vorgehensweise zeigten sich erstmals in einer Untersuchung an 44 jugendlichen Dieben. John Bowlby erkannte die unbedingte Notwendigkeit von empirischer Forschung. Die Bindungstheorie begann folglich als ein Versuch, die Ursprünge des Selbstwertgefühls in frühen und andauernden Bindungsbeziehungen von Personen zu sehen und dies so objektiv wie möglich zu untersuchen (Bowlby, 1988 e/2008 ). Die Bindungsforschung konnte sich so entwicklungspsychologisch und klinisch etablieren. Eine empirische Umsetzung der Bindungstheorie im Kleinkindalter gelang in den 1950er Jahren Mary Ainsworth in einer Felduntersuchung in Uganda (Ainsworth , 1967). Sie führte die besondere, individuelle Qualität der Bindung zwischen Mutter und Kind auf bestimmte qualitative Verhaltensreaktionen der Mütter auf kindliches Ausdrucksverhalten ('Signale') zurück. Ihre Beobachtungskategorien legten die Grundlagen zu entsprechenden Beobachtungen in der häuslichen, 'natürlichen' Umwelt von Säuglingen in Baltimore, USA (s. die übersetzten Beiträge von Mary D. Ainsworth in Grossmann, K. E. & Grossmann, K. , 2003). Validiert wurden die Hausbeobachtungen durch eine standardisierte Beobachtungssituation, 'Fremde Situation' genannt. Diese Laborsituation erfasste prospektiv am Ende des ersten Lebensjahres die gelernten Erwartungen des Krabbelkindes bezüglich der Zugänglichkeit der Mutter bei Leid, das durch Trennung herbeigeführt wurde. Die so beobachteten Verhaltensmuster wurden von Mary Ainsworth 'Bindungsqualitäten' genannt und sehr detailliert beschrieben. Die Frage, ob die im Alter von einem Jahr beobachteten Bindungsqualitäten auch spätere Bindungsentwicklungen anbahnen oder gar vorhersagbar werden lassen konnten, blieb nachfolgenden Langzeituntersuchungen überlassen, über die wir in diesem Band berichten. Die im Rahmen der Bindungstheorie behandelten Themen, vor allem die Frage, ob Kindheitserfahrungen mit den Bindungspersonen einen langfristigen Einfluss auf die Persönlichkeit eines Menschen haben, haben eine lange Tradition. Ihre feste Verankerung in der schöngeistigen, fachlichen und wissenschaftlichen Literatur zeigt ihre zentrale Bedeutung für Laien wie auch besonders für die Psychotherapie. Neue Antworten kommen auch von den Neurowissenschaften, wie z.B. von J. Bauer anschaulich dargestellt wurde (Bauer, 2002 ). I.1.4 Bowlbys Lösung durch Ethologie und Kontrollsystemtheorie Bowlby, ein profunder Kenner des Kinderelends im und nach dem Zweiten Weltkrieg (Bowlby, 1951/2010 ), der selbst als junger Schüler unter englischen Boarding Schools gelitten hatte (Holmes, 1993 ), wandte sich nach seiner psychoanalytischen Ausbildung der empirischen Wissenschaft zu: Freischwebende Nomenklatur und retrospektive Äußerungen von erwachsenen Patienten seien radikal durch prospektive Untersuchungen, also durch entwicklungspsychologisch orientierte Längsschnittforschung, abzulösen, um Erkenntnis von (Aber-) Glauben und Vorurteilen unterscheiden zu können. Die Methode der Wahl waren zunächst systematische Beobachtungen. René Spitz , Harry Harlow und andere hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Terrain vorbereitet (Grossmann, K. E., 1987 ; Blum, 2010 ). Die damals noch junge Verhaltensforschung, untrennbar mit den Namen Konrad Lorenz , Niko Tinbergen und Robert Hinde verbunden, bot schließlich den nötigen verhaltensbiologischethologischen Bezugsrahmen (Bowlby, 1991a/2003 ). Bowlby verband seine klinische Erfahrung mit Vorstellungen über eine Psychodynamik individueller Anpassung im Rahmen sogenannter Internaler Arbeitsmodelle. Positive, flexible und adaptive Internale Arbeitsmodelle zeichnen sich durch ein hohes Maß an Integrität zwischen inneren und äußeren Erfahrungen aus. Die Integration vor allem negativer Gefühle in eine zielkorrigierte, die Motive anderer berücksichtigende Orientierung ist durch Main , Kaplan und Cassidy (1985) zu einem Leitbild theoretischer Orientierung geworden (Sroufe, Egeland , Carlson & Collins, 2005 a). Die Entwicklung einer sicheren Organisation von Emotionen und Verhalten des Säuglings in Übereinstimmung mit seinen 'wirklichen' Bindungserfahrungen wird durch dasjenige mütterliche Verhalten unterstützt, das Ainsworth als die mütterliche Feinfühligkeit gegenüber den Signalen des Säuglings konzipiert hat. Dies ist der Beginn der Entwicklung des Selbst und des Selbstvertrauens (Bowlby, 1979 c /2001 ). Der Psychoanalytiker Erik Erikson hatte auch gemäß neuesten Erkenntnissen ganz richtig postuliert, es könne dann kein Urvertrauen entstehen, wenn sich nicht zumindest eine Person zuverlässig und liebevoll um den Säugling kümmere (Erikson, 1957 ). Die Versagung der frühkindlichen Grundbedürfnisse nach Liebe, Schutz und Fürsorge bewirkt auch psychobiologisch eine Spannungszunahme, Unlust, Unsicherheit und physiologische Dysregulation (Bühler, 1959 ; Spangler et al., 2002). Während die Psychoanalyse also zentrale Fragen bereitstellte, lieferte die Ethologie oder Verhaltensbiologie die Grundlagen zu ihrer Erforschung. Daraus ergaben sich Konsequenzen für die Methodologie, für die Erklärungsansätze der beteiligten Prozesse und Folgen, die die Bindungsforschung in mancherlei Hinsicht auch von traditionellen Forschungsansätzen der Psychologie unterscheidet. Zu nennen sind hier vor allem die Beobachtung des Ausdrucks von Gefühlen und des Verhaltens mit seinen Signalwirkungen, die prospektive entwicklungsorientierte Untersuchungsplanung und der systemische Ansatz. Durch Beobachtung ergibt sich die Möglichkeit zur objektiven Erfassung von Parametern individuellen Verhaltens bzw. von emotionalen Bewertungen in kommunikativen Prozessen. Vor allem in der frühen Kindheit kann man von einer weitgehenden Parallelität zwischen den inneren Vorgängen und dem Verhalten ausgehen, so dass sich die Analyse von Verhaltensweisen als ein Zugang zu den sich gleichzeitig vollziehenden geistigen Prozessen erweist. Durch Verhaltensbeobachtung können frühe Phasen in der Entwicklung objektiv beschrieben und die Bedingungen und Konsequenzen einer spezifischen Persönlichkeitsentwicklung in konkreten Situationen untersucht werden. Dabei wird das Kind nicht als Einzelwesen beobachtet, sondern im Zusammenspiel mit seiner Bindungsperson als natürliche Einheit. An die Stelle von psychoanalytischen Begriffen über psychische Energie in Form von 'Trieben' und ihrer Entladung tritt bei Bowlby das Konzept der Verhaltenssysteme und ihrer Steuerung oder Regulierung. Verhaltenssysteme werden durch spezifische Informationen gesteuert, die sowohl aus der Umwelt als auch aus dem Organismus selbst kommen können (vgl. auch Bischof, 1975 ). Dadurch ist die Grundlage für 'zielkorrigiertes' Verhalten im Rahmen eines hierarchisch organisierten Regelsystems gegeben: Durch den Vergleich der Bedürfnislage des Organismus mit der gegebenen Situation (Sollwert/Istwert) erhält der Organismus Informationen über die Wirksamkeit seiner Aktionen auf die Umwelt und über den Einfluss der Umwelt auf den Organismus. Daraus folgen entsprechende 'Anleitungen' zur weiteren Steuerung des Verhaltens (Bowlby, 1969/2006, Kap. 13 ), die zu Internalen Arbeitsmodellen bzw. zu Regelsystemen werden (Bretherton & Munholland, 2008 ). Es geht also in der Bindungstheorie nicht um mentale Zustände und um die Bewertung von Gefühlen allein ('emotional appraisal'), sondern immer, quasi dialektisch, um ihr Zusammenspiel mit der Wirklichkeit ('situational appraisal') (Bowlby, 1982 ). Innere Regeln zeigen sich dann am deutlichsten, wenn vom Individuum eine Anpassung an reale Gegebenheiten, die belastend sind, gefordert ist. In Bindungsbeziehungen ist das immer mit Gefühlen verbunden, weil die Emotionen im phylogenetischen Programm eines jeden Individuums verankert sind (Cosmides & Tooby, 2000; Buss, 2008 ). Ein Säugling muss sich zunächst an die individuellen Besonderheiten seiner Bindungspersonen anpassen. Er kann sich seine Bindungspersonen nicht auswählen. Seiner Natur nach wird er mit der Erwartung geboren, dass mindestens ein starker und kluger Erwachsener sich schützend, liebevoll, fürsorglich und kulturvermittelnd um ihn kümmert. Sind die Eltern jedoch nur eingeschränkt bereit, sich um diesen Säugling zu kümmern, hat das Neugeborene keine Wahl und muss sich dennoch an diese Eltern binden. Dieser Entwicklungsprozess führt dazu, dass der Säugling über die besondere Art und Weise des Verhaltens der Bindungspersonen besonders im Umgang mit ihnen allmählich Erwartungen ausbildet. I.1.5 Die Bedeutung von Verhaltenssystemen Verhaltenssysteme haben ihren Ursprung in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, in deren Verlauf sie einen bestimmten Überlebenswert gewonnen haben ('evolutionary adaptedness'). Die Funktion des Bindungsverhaltens, welches die Nähe zur Mutter herstellt bzw. aufrechterhält, sieht Bowlby erstens in der Gewährleistung des Schutzes des Kindes vor Gefahren, die das Kind noch nicht kennt (s.a. Goldberg et al., 1999 ), und in der der Angst des Kindes vor Fremden und daher meist nicht verwandten Mitmenschen, die kein Interesse an einer Fürsorge für 'fremde Gene' haben. Dies mag in der menschlichen Entwicklungsgeschichte jahrmillionenlang einen entscheidenden Überlebenswert gehabt haben. Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy hält die Annahme, das kindliche Bindungsbedürfnis sorge für einen Überlebensvorteil, aufgrund ihrer vielen Untersuchungen an Primaten für zutreffend. Sie schreibt: 'Die Aufrechterhaltung mütterlicher Zuwendung war einst für das Überleben eines Säuglings genauso wichtig wie die Luft zum Atmen, und daran hat sich bis heute wenig geändert' (Hrdy, 2000, S. 436 ). Zweitens hat das Kind darüber hinaus in der Gesellschaft seiner Familie die Möglichkeit, Tätigkeiten und Dinge zu erfahren, die es auf sein Überleben und seine Rolle in der Gemeinschaft vorbereiten. Vererbt sind hierbei nicht die Emotions- und Verhaltenssysteme selbst, sondern das Potential, bestimmte Verhaltenssysteme zu entwickeln, deren Wesen und Ausprägung sich ontogenetisch qualitativ unterschiedlich ausbilden können und erst so für bestimmte Realitäten adaptiv werden (Simpson & Belsky, 2008). Das genetische Programm muss also die Möglichkeit enthalten, für die Ausbildung eines Phänotyps, eines Individuums, verschiedene Wege gehen zu können. Das Individuum reagiert dann auf die besondere Qualität der Regulation von außen durch die Bindungsperson, die auf den Ausdruck seiner Emotionen reagiert. Bindung beruht auf evolutionär gewordenen Vorgaben. Die umfassendste Vorgabe ist die Selektion der genetisch verankerten Strategien darüber, wie viele Nachkommen gezeugt werden und wie viel 'Investitionen' sie nachgeburtlich seitens der Eltern ('parental investment'; Trivers, 1972 ) und auch anderer Verwandter (inklusive 'fitness'; Hamilton, 1964 ) erhalten. Die evolvierten Gegensätze sind die R-Strategie und die K-Strategie. Bei der R-Strategie wird die Anzahl der Nachkommen maximiert und die elterliche Investition minimiert. Dies hat eine äußerst geringe Überlebenschance eines einzelnen Nachkommen zur Folge, aber es überleben genug Individuen, um die Art zu erhalten. Säugetiere entwickelten eine K-Strategie der Fortpflanzung, bei der die Anzahl der Geburten begrenzt und die elterliche Investition maximiert wird. Bei der K-Strategie hat jeder der wenigen Nachkommen wegen des genetischen Programms elterlicher Investition bessere Überlebenschancen. Bei Primaten einschließlich des Menschen entwickelt sich durch eine liebevolle, individuelle Bindung mit jedem einzelnen Kind und mit nur wenigen Kindern während der gesamten Jahre der physiologischen Unreife, also bis ins frühe Erwachsenenalter hinein, die Fähigkeit, adaptiv mit den Anforderungen ihrer Gruppe bzw. ihrer Mitmenschen und ihrer Kultur umzugehen. Dieses ist sicher das komplexeste aller offenen genetischen Programme, das in seinen Ausgestaltungen vollkommen auf Bindungen angewiesen ist (Polan & Hofer, 2008). In der Entwicklungsgeschichte des Menschen, unter den Bedingungen des evolutionären Angepasstseins, brachte eine Frau im Durchschnitt etwa alle drei bis vier Jahre ein Kind zur Welt. Rein rechnerisch bekam sie also höchstens vier bis fünf Kinder, wenn sie mit 20 Jahren geschlechtsreif und mit 40 Jahren unfruchtbar wurde. Die besonderen Umstände während der Zeit des enormen Bevölkerungswachstums in Europa, als Kinder manchmal im Jahresabstand geboren wurden, gehören zu kulturell neuen Lebensbedingungen bei großem Nahrungsangebot, die sich von den evolutionären Lebensbedingungen weit entfernt haben. Es ist unmittelbar einsichtig, dass unter solchen, von der Anpassung an die ursprüngliche evolutionäre Umwelt abweichenden Lebensbedingungen (Bowlby, 1969/2006 ) die Qualität elterlicher Investition gelegentlich nachlässt und die Kinder dann darunter leiden müssen (Ariès, 1975 ; Badinter, 1984 ; DeMause, 1974 ; Grossmann, K. E., 1987, 1995 ). Wenn einer Mutter jedoch 'Helfer am Nest' (Hrdy, 2000) zur Verfügung stehen, kann ein Mangel elterlicher direkter Fürsorge ausgeglichen werden (Ahnert, 2010 ; Hrdy & Schmidt , 2010). Das phylogenetische Erbe stattet den Säugling von Anfang an mit grundlegenden Bedürfnissen und mit kommunikativen Fähigkeiten wie Signalverhalten, Orientierungsfähigkeit und Erkenntnishunger aus (Gropnik , Kuhl & Meltzhoff, 2001). Diese und das mütterliche Fürsorgeverhaltenssystem sind 'präadaptiv' aneinander angepasst und bilden die Grundlage zur Ausbildung einer sozio-emotionalen Beziehung ('affectionate systems'; Harlow & Harlow, 1971). Einige Erkenntnisse aus psychobiologischer Sicht werden im folgenden Kapitel dargestellt.
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