1Schulprobleme
1.1Das Phänomen Schulprobleme
1.1.1Phänomenbeschreibung
Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen in der Schule sind häufiger Anlass für die Inanspruchnahme von Erziehungsberatungsstellen, niedergelassenen Psychotherapeutinnen sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen und Kliniken. Die vorgestellte Problematik ist vielfältig und reicht von Ängstlichkeit und Schüchternheit mit der Folge unzureichender Mitarbeit im Unterricht über Konzentrationsmangel und geringe Aufmerksamkeitsfokussierung, Unruhe und Störverhalten während des Unterrichts, offene Verweigerung von Mitarbeit, oppositionelles Verhalten bis zu lautem, aggressivem Streitverhalten im Kontakt mit Lehrerinnen sowie mit den Mitschülern.
Solche Verhaltensstörungen, die vorwiegend auf die Schule bezogen sind und schwerpunktmäßig in der Schule auftreten, werden – wie schon gesagt – in den Klassifikationsmanualen psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters nicht gesondert codiert. In der Praxis werden sie unterschiedlichen Störungen zugeordnet, beispielsweise den Störungen des Sozialverhaltens, den hyperkinetischen Störungen, den depressiven Störungen oder den Angststörungen.
Dies und die Heterogenität der Symptomatik sowie die Schwierigkeit, ein bestimmtes Störungsbild einzugrenzen, haben dazu geführt, dass Verhaltensprobleme in der Schule seitens der Forschung bislang eine nur geringe Aufmerksamkeit erfahren haben. Die Literatur zu therapeutischen Konzepten und Therapieerfahrungen ist auf wenige Publikationen beschränkt. Die dürftige Erkenntnislage dürfte zudem dadurch bedingt sein, dass die Problematik in einem Grenzbereich unterschiedlicher Disziplinen angesiedelt ist. Handelt es sich um ein pädagogisches oder ein psychiatrisch-psychotherapeutisches Geschehen? Die Schule hält sich vielfach für nicht zuständig, da sie sich nur bedingt einen erzieherischen, aber ganz sicher keinen therapeutischen Auftrag zuschreibt. Beraterinnen und Therapeutinnen auf der anderen Seite wissen wenig über schulische Bedingungen, die strukturellen Voraussetzungen von Schule und die Handlungsmöglichkeiten von Lehrerinnen.
1.1.2Komorbidität
Verhaltensprobleme in der Schule gehen oft einher mit spezifischen Lernstörungen. Das DSM-5 (Falkai u. Wittchen 2015) unterscheidet drei spezifische Lernstörungen: 1. Lernstörungen mit Beeinträchtigung im Lesen und den Teilkomponenten Wortlesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit und Leseverständnis (Dyslexie). 2. Lernstörungen mit Beeinträchtigung im schriftsprachlichen Ausdruck und den Teilkomponenten Rechtschreibgenauigkeit, Grammatik und Zeichensetzung sowie Klarheit und Organisation des schriftsprachlichen Ausdrucks (Dysgraphie zusammen mit der Dyslexie: Lese-Rechtschreib-Störung). 3. Lernstörungen mit Beeinträchtigung in Mathematik und den Teilkomponenten Zahlenverständnis, arithmetisches Faktenwissen, Geschwindigkeit und Genauigkeit der Grundrechenfertigkeiten sowie mathematisch schlussfolgerndes Denken (Dyskalkulie).
Eine Schweregradbeschreibung unterscheidet zwischen »leicht« (einzelne Schwierigkeiten in einem oder zwei Lernbereichen, die aber noch kompensiert werden können, wenn ausreichend Unterstützung oder Hilfen vorliegen), »mittelgradig« (deutliche Schwierigkeiten in einem oder zwei Lernbereichen, die nicht ohne Phasen intensiver Lernförderung kompensiert werden können) und »schwer« (ausgeprägte Lernschwierigkeiten in mehreren Bereichen, sodass ein Erwerb von Fertigkeiten in den einzelnen Lernbereichen ohne intensive, individualisierte Unterrichtung über mehrere Jahre nicht möglich ist). Die Diagnostik beruht auf einer Vielzahl von Methoden; hierzu gehören Anamnese, klinisches Interview, Schulbericht, Lehrerbewertung, Beurteilungsskalen und psychometrische Tests. Zur Beurteilung, ob eine Minderleistung vorliegt, wird die individuelle Leistung zu der gemäß Alter und Klassenstufe zu erwartenden Leistung in Beziehung gesetzt (Diskrepanzkriterium). Bei allen drei spezifischen Lernstörungen handelt es sich um früh beginnende Störungen, die oft bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben (Schulte-Körne 2016).
Verhaltensprobleme in der Schule stehen zudem häufig in Zusammenhang mit der Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Mit ADHS werden Kinder diagnostiziert, die zu einer fluktuierenden Aufmerksamkeit, einer motorischen Unruhe und einer hohen Impulsivität neigen. In der Schule sind sie leicht abgelenkt, rufen ungefragt in die Klasse hinein und können ihre Aufmerksamkeit nur für eine kurze Zeitspanne auf ein Thema ausrichten. Sie verpassen häufig im Unterricht wichtige Informationen und stören die Mitschüler. Nicht selten werden sie von Mitschülern gehänselt und bei einer fortbestehenden Symptomatik sozial ausgegrenzt. Festzuhalten ist, dass es sich bei ADHS – wie bei allen Diagnosen – um zusammenfassende Beschreibungen von häufig auftretenden Verhaltensmustern handelt. Diagnosen machen aber keine Aussagen über die Verursachung dieser Verhaltensmuster. Es ist also logischer Unsinn, wenn gesagt wird, ein Kind verhalte sich wegen seiner ADHS-Störung so auffällig. Eine solche Aussage würde anders formuliert heißen: Das auffällige Verhalten des Kindes wird mit der Diagnose ADHS beschrieben, und diese Beschreibung führt dazu, dass es sich auffällig verhält.
Eine weitere Diagnose, die bei Verhaltensproblemen in der Schule gestellt wird, ist die Störung des Sozialverhaltens2. Sie wird vergeben, wenn ein Kind für sein Alter ungewöhnlich häufig schwere Wutausbrüche zeigt, häufig mit Erwachsenen streitet sowie Wünsche und Vorschriften Erwachsener ablehnt. Die Kinder sind selbst sehr empfindlich und tendieren gleichzeitig dazu, andere zu provozieren. Sie neigen zu verbalen und handgreiflichen Aggressionen, sind oft in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt und machen andere für das eigene Fehlverhalten verantwortlich. Die Symptome einer Störung des Sozialv erhaltens werden oft in der Schule beim Nicht-Einhalten sozialer Regeln und in der Lehrer-Schüler-Beziehung zuerst wahrgenommen.
Es gibt vier Unterformen der Störung des Sozialverhaltens, von denen im Zusammenhang mit Schulproblemen zum einen die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten eine Rolle spielt, die charakteristischerweise bei Kindern unter neun oder zehn Jahren auftritt. Das wesentliche Merkmal dieser Störung ist ein Muster mit durchgehend negativistischem, feindseligem, aufsässigem, provokativem und trotzigem Verhalten. Es sind Kinder, die eine geringe Frustrationstoleranz zeigen und schnell wütend werden. Die andere relevante Unterform ist die Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen. Die Kinder und Jugendlichen sind allgemein gut in ihre Altersgruppe eingebunden. Sie zeigen ein andauerndes dissoziales oder aggressives Verhalten. Sie halten sich oft in einer Gruppe aus Gleichaltrigen auf, die ebenfalls ein delinquentes und dissoziales Verhalten aufweisen. Diese Störung des Sozialverhaltens kann auch den familiären Rahmen betreffen. Sie wird aber oft außerhalb der Familie, vor allem in der Schule, sichtbar.
Ist den Verhaltensproblemen in der Schule eine außergewöhnliche Belastung, beispielsweise eine einschneidende Lebensveränderung wie Migration und Flucht oder ein belastendes Lebensereignis wie Krankheit oder Tod, vorausgegangen, lässt sich eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens diagnostizieren. Dabei handelt es sich um Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die soziale Funktionen und Leistungen behindern. Insbesondere bei Jugendlichen können sich beispielsweise Trauerreaktionen in aggressivem und dissozialem Verhalten manifestieren.
Weitere im Zusammenhang mit Verhaltensstörungen in der Schule gestellte Diagnosen sind depressive Störungen und Angststörungen.
1.1.3Häufigkeit
Angaben über die Häufigkeit von Verhaltensproblemen in der Schule liegen nicht vor. Demgegenüber gibt es zahlreiche Befunde zur Epidemiologie der im vorangegangenen Abschnitt aufgeführten Störungen. Die Prävalenz von ADHS bei den 3–17-Jährigen im Jahr 2005 betrug 2,5 %. Die Prävalenz war annäherungsweise viermal höher bei Jungen als bei Mädchen. Die altersspezifische Prävalenz war am höchsten bei den 10-jährigen Jungen und 9-jährigen Mädchen (Lindemann et al. 2012). Störungen des Sozialverhaltens werden über einen Erfassungszeitraum von bis zu einem Jahr bei etwa 8 % der Kinder und Jugendlichen aus der allgemeinen Bevölkerung diagnostiziert, wobei die Zahl der Jungen zwischen 6 bis 16 % und der Mädchen zwischen 2 bis 9 % variiert (nach Petermann, Döpfner u. Schmidt 2007, S. 8). Die Häufigkeit der...