Karl Heinz Brisch
Trauma ist nicht gleich Trauma
Die spezifischen Auswirkungen von Bindungstraumatisierungen auf Opfer, Täter und Behandler
Traumatisierung und physiologische Reaktion
Traumatische Erfahrungen sind dadurch gekennzeichnet, dass wir in eine Situation geraten, in der wir uns so bedroht fühlen, dass wir von Panik und Ohnmacht überwältigt werden. In der Regel ist dies eine Situation, die durch Todesbedrohung gekennzeichnet ist. Wir wissen keinen Ausweg, fühlen uns hilflos und ohnmächtig, sind von Stress überwältigt und haben das Gefühl, dass wir sterben werden. In einer solchen Situation wird das Gehirn von Stresshormonen überflutet, der Körper ist im Kampf- und Fluchtmodus, weil er von Adrenalin durchflutet wird, der Puls rast, der Blutdruck ist hoch, es wird im Körper Blutzucker zur Verfügung gestellt. Dies sind extreme physiologische Reaktionen, die den Sinn haben, doch noch durch Kampf und Flucht der lebensbedrohlichen Situation zu entrinnen. Dies sind sehr »archaische« Verhaltensweisen des Körpers, die sich in der Evolution so entwickelt haben (Fischer & Riedesser 1999).
Nur dann, wenn wir in einer vollkommen ausweglosen Situation sind und Kampf und Flucht nicht einmal ansatzweise eine Lösungsmöglichkeit bzw. einen Weg zur Rettung darstellen, geraten unser Körper und das Gehirn in einen sogenannten »dissoziativen Zustand« (Brisch 2012b; Huber & Schickedanz 2014). In dieser Situation wird das Großhirn sozusagen »abgeschaltet«; wir funktionieren dann vorwiegend auf der Funktionsebene des Stammhirns. Hier werden alle physiologischen Reaktionen für Herz, Kreislauf, Blutdruck und Atmung organisiert und koordiniert. Dies bedeutet: Einerseits wird zwar mit diesen Stammhirnfunktionen das Überleben garantiert, andererseits sind aber Fühlen, Denken, Erinnern, Handlungsplanung, Empathie, Sprache, also alle wesentlichen Großhirnfunktionen, beeinträchtigt bis ganz »abgeschaltet«, blockiert.
Trauma und Erinnerung
Durch den Prozess der unterschiedlich ausgeprägten Dissoziation ist es nicht verwunderlich, dass Menschen sich manchmal an eine traumatische Situation nicht mehr erinnern können oder auch nur Fragmente von Erinnerungen übrig sind, die z. B. bei einem Polizeiverhör berichtet werden können. Opfer etwa eines Überfalls werden oftmals damit konfrontiert, dass in Frage gestellt wird, ob die traumatische Situation überhaupt stattgefunden hat, wenn sie sie nicht vollständig und stimmig, sondern nur in Fragmenten erinnern können. Die fragmentarische Erinnerung spricht aber eher dafür, dass das Trauma stattgefunden hat, weil unsere normale Gedächtnisfunktion im Hippocampus durch extremen Stress beeinträchtigt ist und Erfahrungen etwa von Körpersensationen, Gerüchen, Stimmen, aber auch von visuellen Eindrücken ebenso nur fragmentiert oder gar nicht erinnert werden. Diese bilden unter diesen stressvollen Bedingungen in der Regel keine zusammenhängende, integrierte Erinnerung, die in einem kohärenten Narrativ wiedergegeben werden könnte, weil unter der extremen Stresserfahrung die einzelnen Eindrücke fragmentiert abgespeichert wurden.
Für eine später stattfindende traumazentrierte Therapie ist es typisch, dass die einzelnen, wie Puzzle-Teile versprengten Erinnerungen dann wieder zusammengefügt und auch zusammenfassend erinnert und berichtet werden können. In der Traumatherapie findet also nachträglich eine Synthese von fragmentierten Erinnerungsspuren auf der kognitiven, affektiven, sensorischen und der körperlichen Ebene statt (van der Kolk et al. 1997; Arditi-Babchuk et al. 2009; Gaensbauer 2002; Bremner et al. 1993).
Welcher Art ist das Trauma?
Dabei macht es nun einen großen Unterschied, welcher Art das Trauma ist, das einen Menschen bedroht: Ein Trauma, das uns in diese ohnmächtige lebensbedrohliche Situation bringt, kann ein Ereignis sein, das quasi plötzlich, einmalig und von außen kommt – wie etwa eine Naturkatastrophe, die Beteiligung an einem Unfall oder das Miterleben eines Banküberfalls oder ein ähnliches Ereignis (wir sprechen auch von sogenannten Typ-I-Traumata). Das Trauma aktiviert in extremer Weise unser Bindungsbedürfnis. Bestenfalls haben wir selbst eine sichere Bindungsrepräsentation. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir uns unmittelbar Hilfe holen und uns an unsere spezifischen Bindungspersonen oder Personen wenden, von denen wir ebenso eine bindungsorientierte Hilfe erwarten, wie Rettungssanitäter, Notarzt, Polizist, Psychotherapeuten. Von diesen erwarten wir, dass sie uns versorgen, beruhigen und schützen sowie uns bei der Verarbeitung, der Stressbewältigung und der Integration des Traumas helfen können, selbst dann, wenn sie etwa durch das Naturereignis auch in Angst und Schrecken versetzt und eventuell auch verletzt wurden (Wöller 2014; Brisch 2015a, c). Bindungsvermeidende Menschen haben dagegen nach einem Trauma größere Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen, lehnen diese eher ab und vermitteln nach außen, dass sie mit dem Schrecken des Erlebten schon alleine klarkommen werden. Gleichzeitig bleibt ihr nicht geäußertes Bindungsbedürfnis innerlich sehr aktiviert, der innere Stress wird nicht beruhigt, wie sich auch an erhöhten Cortisolwerten nachweisen lässt.
Erleben Menschen ein länger andauerndes oder sich immer wiederholendes Trauma, dessen Ende nicht voraussehbar noch beeinflussbar ist, sprechen wir von Trauma Typ II. Dies ist z. B. der Fall, wenn Menschen Bedrohungen während Kriegshandlungen, durch Folter, Vertreibung oder Geiselnahme, wiederholten Vergewaltigungen über lange Zeit ausgesetzt sind. Hierbei werden oft vielfältige Arten von Traumatisierungen gleichzeitig erlebt, wie körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt.
Die häufigsten Traumatisierungen dieser Art ereignen sich im Rahmen sogenannter familiärer Gewalt und hier wiederum oftmals während der Kindheit. Die traumatische Situation wird als umso stressvoller erlebt, je häufiger und länger andauernd die eigene Person direkt körperlich und psychisch bedroht ist, etwa durch körperliche und sexuelle Gewalt, die von Menschen an Menschen verübt wird. Je früher im Leben eines Menschen diese Erfahrungen gemacht werden, etwa schon im Säuglings- und Kleinkindalter, umso stressvoller sind sie und umso gravierender sind auch die neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Dies zeigt sich besonders in Reifungsdefiziten in stressrelevanten Regionen wie etwa dem limbischen System, dem Hippocampus und dem präfrontalen Cortex.
Werden diese Traumatisierungen durch eine dem Opfer bekannte Bindungsperson ausgeübt, sind sie traumatisierender, als wenn die Bedrohungen durch eine fremde Person ausgeführt werden. Denn wenn die Bindungspersonen selbst – also die Personen, die uns nahestehen, die eigentlich für Schutz und Sicherheit stehen sollten –, die Quelle des Traumas sind, dann bekommt die traumatische Situation noch einmal eine andere, vielleicht die schlimmste Qualität, die man sich vorstellen kann. Wir sprechen dann von einer »Bindungstraumatisierung«. Die beiden Arten der traumatischen Erfahrung – auf der einen Seite z. B. der Autounfall und auf der anderen die Vergewaltigung und die sexuelle Gewalt etwa an der Tochter durch den Vater – lassen sich im Hinblick auf die Auswirkungen auf das Stress- und Bindungssystem sowie das Ausmaß der Traumafolgestörungen nicht miteinander vergleichen. Während bei der ersten Situation, dem Autounfall, die Bindungspersonen, z. B. die Eltern, im besten Fall einem etwa betroffenen Kind als hilfreiche Unterstützer zur Verfügung stehen und bei der Verarbeitung des Geschehens helfen, ist dies nicht der Fall, wenn das traumatische Ereignis durch eine Bindungsperson selbst ausgeübt wird. Wenn die Personen, die per definitionem für Schutz und Sicherheit zuständig sind, gleichzeitig z. B. ihr Kind lebensbedrohlich traumatisieren, dann führt dies zu einer Verschärfung der traumatischen Situation und zu einer Intensivierung des Gefühls von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Dies ist besonders gegeben, wenn das eigene Kind etwa für rituelle sexuelle Gewalt Tätern zur Verfügung gestellt wird; ebenso durch ausgeprägte körperliche und emotionale Vernachlässigung und durch emotionale Gewalt im Sinne von Ablehnung, Kränkung, Verletzung und konstanten Demütigungen. Während im ersten Fall, beim Autounfall, die betroffenen Opfer sich relativ rasch Hilfe und Unterstützung holen können – etwa bei ihren Bindungspersonen –, sind diese Bindungspersonen im zweiten Falle nicht zugänglich....