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Bitten statt fordern

Ein Schulentwicklungsprojekt mit Gewaltfreier Kommunikation

AutorGottfried Orth, Hilde Fritz-Krappen
VerlagJunfermann
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783955711955
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Schon wieder: eine Schlägerei auf dem Schulhof; ein verzweifelter Elternanruf, die Tochter werde seit Wochen von Mitschülerinnen gemobbt; frustrierte Lehrer und Lehrerinnen, die über häufige Unterrichtsstörungen klagen und so gern in Ruhe unterrichten würden. Stimmen nach mehr Strafen und mehr Konsequenz werden laut. Aber auch solche, die ganz andere Wege suchen, haben doch Ordnungsmaßnahmen bislang keine nachhaltigen Erfolge gezeigt. Eigenverantwortung und Wertschätzung gelte es zu fördern. In diesem Buch wird beispielhaft ein weiter andauernder Entwicklungsprozess an einer öffentlichen Schule beschrieben, in dem sich Kollegium und Schulleitung darauf einließen, auf ganz andere Weise mit Macht umzugehen und ein neues Verständnis kommunikativer Prozesse zu entwickeln. Forderungen an die jeweils andere Seite - an Schülerinnen und Schülern genauso wie an Lehrerinnen und Lehrer - wurden durch Bitten ersetzt. Erzählend und reflektierend berichtet das Buch über einen Versuch gewaltfreier Schulentwicklung, der von Lehrerinnen und Lehrern selbst initiiert wurde.

Prof. Dr. Gottfried Orth, Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der TU Braunschweig, Mitglied im Team des ORCA-Instituts für Konfliktmanagement und Training, Leiter des Projektes Gewaltfreie Kommunikation - Theologie, Religionspädagogik, Schule.

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Leseprobe

Einführung


Gewaltfreiheit und Schule – das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Tagein, tagaus berichten Medien von zunehmender Gewalt an deutschen Schulen, vielfach machen Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer schulische Gewalterfahrungen. Erst recht, so kann man vermuten, an Förderschulen – doch vielleicht wird Gewalt ja dort lediglich direkter gelebt ...

Für uns, die Autorin und den Autor dieses Buches, war und ist dies ein „Problem“ – es wurde zu einer Herausforderung. Wir wollen anderes: Wir wollen, dass Schülerinnen und Schüler wie Lehrerinnen und Lehrer sich in der Schule wohlfühlen und in einem geschützten Rahmen leichter lernen und unterrichten können. Deshalb berichten wir von einem Schulentwicklungsprozess an der Marienschule in Damme. Sein Ziel war und ist es, die Schulordnung und die damit verbundenen Forderungen an Schülerinnen und Schüler zu ersetzen durch Bitten. Der Titel des Buches „Bitten statt Fordern“ benennt zugleich Ziel und Weg dieses Schulentwicklungsprozesses.

Die Marienschule Damme ist eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen. Zurzeit werden in elf Klassen 90 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Zum Kollegium gehören 16 Lehrkräfte (14 Förderschullehrkräfte, eine Grund- und Hauptschullehrkraft und eine Vertragslehrerin). Hilde Fritz war an dieser Schule bis 2011 Förderschullehrerin. Gottfried Orth hat den Schulentwicklungsprozess begleitet.

Wer sind wir?

Hilde Fritz ist Förderschullehrerin, jetzt an der Albert-Schweitzer-Schule in Gießen. Sie hat seit fünf Jahren vielfältige eigene GFK-(Lern-)Erfahrungen, u. a. auch als Fortbildnerin von Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern, Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten und in der Praxis Gewaltfreier Kommunikation in der (Förder-)Schule.

Gottfried Orth ist Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik (TU Braunschweig) und hat seit fünf Jahren umfassende eigene GFK-(Lern-)Erfahrungen als Fortbildner von Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern. Im Aufbau einer gewaltfreien und wertschätzenden Lern-Lehr-Kultur am Seminar für Evangelische Theologie und Religionspädagogik hat er Gewaltfreie Kommunikation ebenso zu praktizieren versucht wie in den Jahren 2009–2011 als Dekan der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften.

Doch besser als diese äußeren Daten charakterisiert uns, wofür wir uns neben all dem anderen, was wir dort erleben, an Förderschule und Universität begeistern; deshalb beginnen wir dieses Buch wie einige unserer Vorträge:

GFK ist Begeisterung für lebendigen, einander wertschätzenden Kontakt und macht meine Arbeit schön – und wenn etwas schön ist, darf es auch anstrengend sein.

Gottfried: Hilde, was begeistert dich in deiner Arbeit als Förderschullehrerin?

 

Hilde: Am Morgen in die Schule zu kommen und von Schülern in ihren jeweiligen Stimmungen, mit Freude und Sorgen und Fragen begrüßt zu werden ...

Die Lebendigkeit der Beziehungen unter den Schülern, in der Klasse, zwischen mir und den Schülern, zwischen den Kollegen – es gibt einfach jeden Tag Neues ...

Schule gestalten zu können und Schule zu „spielen“; so wie als Kinder, ganz ernst und zugleich ganz witzig ...

Eigene Ideen und Schwerpunkte einbringen zu können ...

Mit anderen Erwachsenen und Schülern Schulalltag zu reflektieren ...

Gottfried, was begeistert dich in deiner Arbeit als Hochschullehrer?

 

Gottfried: Die Freiheit und die Zeitsouveränität, die ich habe ...

Dass ich dafür bezahlt werde, immer Neues lernen zu können ...

Universitäres Leben in unterschiedlichen Formen gestalten zu können ...

In jedem Semester die Chance zu haben, so viele neue junge Menschen, die mit großen Erwartungen an die Uni kommen, kennenzulernen ...

Junge Erwachsene auf ihrem Lebens- und Lernweg über vier bis fünf Jahre begleiten zu können ...

 

Hilde: Gottfried, welche Bedürfnisse erfüllst du dir als Hochschullehrer?

Gottfried: Autonomie, Freiheit, Verbundenheit, Sinn, Wertschätzung, Authentizität, Wachstum, Liebe. Hilde, welche Bedürfnisse erfüllst du dir als Förderschullehrerin?

Hilde: Authentizität vor allem, aber auch Kreativität, Verbundenheit, Solidarität, Verständigung, Sinn, Leichtigkeit, Lernen, Wertschätzung / Liebe.

Gottfried: Hilde, wie geht es dir, was fühlst du, wenn deine Bedürfnisse sich erfüllen?

Hilde: Ich bin beschwingt, lebendig, entspannt, angeregt ... Gottfried, wie geht es dir, was fühlst du, wenn deine Bedürfnisse sich erfüllen?

Gottfried: Ich fühle mich leicht, lebendig, froh, zufrieden, angeregt, unbekümmert, glücklich, weich ...

Es gibt neben anderem so viel, was uns an unserer Arbeit begeistert! Wir erfüllen uns mit ihr viele Bedürfnisse und fühlen uns dabei häufig erleichtert, angespornt, glücklich ... Und wir wünschen Ihnen, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches etwas von dieser Begeisterung spüren, die Sie ermutigt und inspiriert.

Oft erleben wir oder erfahren davon, dass von und in der Schule anders geredet wird ...

Die Schule, so eine These der Friedensforschung, ist in Deutschland eine Institution „struktureller Gewalt“1. Eine Erfahrung aus dem Ende der 1990er Jahre mag dies bestätigen. So sagte mir, als ich damals Schulpfarrer in einem Gymnasium war, ein Gymnasiallehrer: „Herr Orth, lassen Sie Ihre Phantasien, die Schule ist eine Behörde!“ Gewalt und Verwaltungs- wie Behördenmentalität mögen eng zusammengehören und sich ausgebreitet haben. Die Unkulturen der Vermessung, der Evaluierung, der Sicherung von Qualität, der Implementierung und Akkreditierung sowie der Zentralisierung von Leistungsnormen und -anforderungen haben dazu beigetragen. Ist es da ein Wunder, dass mehr als 60 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer mittelbar oder direkt von Burn-out betroffen sind? – Eigentlich wollten sie ja einmal Kindern und Jugendlichen das zeigen, was sie lieben, denn dies bedeutet lehren ... Ist es wirklich verwunderlich, dass mehr als 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit Angst in die Schule gehen? – Eigentlich wollten sie ja einmal lernen, was sie im Leben stark macht ... Und dann sind ja da noch Sätze wie: „Alleine kann man ja eh nix machen.“ „Schuld sind die miserablen äußeren Bedingungen.“

Berechtigte Klagen, die beliebig auszudehnen wären, die ganze Lehrer- und Schülerbiografien füllen und tagtäglicher Gesprächsstoff landauf, landab in den Lehrerzimmern sind. Sie zeigen die Misere und die von Lehrerinnen und Lehrern persönlich so oft als qualvoll empfundene Situation, die sie immer wieder auch als krank machende Ausweglosigkeit erleben ... Wir wollen diese Erfahrungen ernst nehmen, nicht zuletzt, weil wir sie ja auch selbst in Schule und Universität immer wieder machen.

Trotz zunehmenden Verwaltungs- und Behördengeistes in Schulen haben wir zum Glück unsere Visionen und Hoffnungen noch nicht verloren, sondern uns immer wieder gegenseitig stärken und ermutigen können! Davon und wie sie anfingen, Realität zu werden, möchten wir berichten, ohne damit verbundene Schwierigkeiten und Zumutungen außen vor zu lassen. Wir möchten Sie ermutigen und begeistern, am liebsten auch inspirieren.

Gewaltfreie Kommunikation zu praktizieren heißt, sich auf „Liebesgeschichten“ einlassen zu wollen. Wie macht man das praktisch, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – Liebe dich selbst wie deinen Nächsten“? – das war eine der Ausgangsfragen des Erfinders der Gewaltfreien Kommunikation, Marshall B. Rosenberg, während der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren. Dieser Kontext erscheint uns bedeutsam, denn Gewaltfreie Kommunikation will immer auch stärken, um die Kraft zu haben, herrschenden Gewohnheiten und Regeln zu widerstehen.

Zum Aufbau des Buches

Im ersten Kapitel des Buches bieten wir denen unter Ihnen, für die Gewaltfreie Kommunikation neu ist, eine kurze Einführung in die Haltung und Methode gewaltfreier und wertschätzender Kommunikation an und zeigen, welche Chancen sie für uns an der Schule eröffnet hat und immer wieder neu ermöglicht.2

Im zweiten Kapitel berichten wir mit kurzen reflexiven Einschüben und einer ganzen Reihe der dabei entstandenen Materialien von dem fast zweijährigen „Bittenprozess“ an der Marienschule, einem Schulentwicklungsprojekt besonderer Art, wie wir meinen. Und wir gehen abschließend auf seine gegenwärtige Fortsetzung ein.

Im dritten Kapitel folgt die Darstellung einer Befragung der Lehrerinnen und Lehrer sowie einiger Interviews mit Schülerinnen und Schülern, die nicht nur den Prozess reflektieren, sondern auch die Bedeutung – Chancen und Schwierigkeiten – gewaltfreier und wertschätzender Kommunikation im Schulalltag einer staatlichen Schule verdeutlichen.

Das abschließende Kapitel ist einer ausführlichen Reflexion dieses Schulentwicklungsprozesses gewidmet. Hier wollen wir über die geleistete Arbeit nachdenken und Sie inspirieren, Ähnliches an Ihrer Schule zu versuchen, indem wir weitere...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Inhalt6
Einfu?hrung8
1. „Alles fing damit an, dass ich in der Schule von Gewaltfreier Kommunikation erzählte ...“ – Eine kurze Einfu?hrung in Gewaltfreie Kommunikation14
1.1 Haltung und Dialogmodell Gewaltfreier Kommunikation16
1.2 Gewaltfreie Kommunikation in der Schule25
2. Ein Bittenprozess oder: Der Weg zum „Bauklotzhaus“ der Bedu?rfnisse ...28
2.1 Wie alles anfing ...28
2.2 Der Bittenprozess der Schu?lerinnen und Schu?ler33
2.3 Der Bittenprozess der Lehrerinnen und Lehrer45
2.4 Die Zusammenfu?hrung von Schu?ler- und Lehrerbitten51
2.5 Das „Bauklotzhaus“56
2.6 Gewaltfreie Kommunikation als Möglichkeit der Selbstreflexion in unterschiedlichen schulischen Handlungsfeldern68
2.7 Und der Prozess geht weiter ...73
3. Im Jahr danach74
3.1 „GFK ermöglicht Liebesgeschichten in Vielfalt und differenzierter (Selbst)Reflexion“ – Die Befragung der Lehrerinnen und Lehrer der Marienschule in Damme am Beginn des Schuljahres 2011/12 zu Gewaltfreier Kommunikation74
3.2 „Die Schule ist anders geworden“ (Max) – Interviews mit Schu?lerinnen und Schu?lern83
4. „Es ist echt besser geworden“ – Begeisterung fu?r eine gewaltfreie und wertschätzende Schulentwicklung98
4.1 „Yes we can!“99
4.2 „Wie ich mich fu?hle und was ich brauche ...“103
4.3 Der Verzicht auf strafende Anwendung von Macht112
4.4 Wertschätzung statt Lob116
4.5 Mitgefu?hl119
4.6 Eine Kultur des Austauschs und der Unterstu?tzung einu?ben120
4.7 Zeigen, was man kann ...123
4.8 Schule spielen124
4.9 Selbstreflexion und Selbstausdruck125
4.10 Potenzial- statt Ressourcenorientierung128
Nachwort: Das „Bauklotzhaus“ oder: Schulentwicklung als wertschätzender und gewaltfreier Prozess130
Literaturverzeichnis132

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