1. In der Oberau 79
«Kleines Stadt-Glück, wetterwendisch»
Vom Balkon sah man die Schwarzwaldberge. Blau in der Ferne, grün in der Nähe füllten sie den ganzen Horizont. Als Kind hing ich an diesem Blick. Hoch oben auf dem steinernen durchbrochenen Balkon saß man inmitten einer weiten Landschaft von Hügeln, Wäldern, Baumspitzen.
Nach links fiel der Blick auf die Rebhänge, die sich am Schlossberg entlang zogen – Freiburg war ja eine Weinstadt. Geradeaus schaute man über die Dächer der Nachbarschaft zu den Türmen des Lehrerseminars und der Mariahilf-Kirche. In der Ferne tauchten die wuchtigen Rundköpfe des Südschwarzwalds auf. Hinter unserem Wohnhaus, in der Kartäuserstraße, lag die Seidenfabrik Mez; ihr ellenlanger Kamin war ein Blickfang für Kinder, denn immer wieder kletterten Kaminkehrer mit ihren Zugbesen in schwindelnder Höhe an ihm auf und ab. Nordöstlich, am Hirzberg, lag «die Flinsche» – die Papierfabrik Flinsch mit den gleichmäßigen Reihen ihrer Arbeiterwohnungen, die sich zum Fluss hin dehnten. Rechts, ganz nahe, breitete sich die Brauerei Ganter aus, unübersehbar durch ihre Größe, ihre gelbe Farbe – und überall in der Gegend zu schnuppern durch ihren Malzgeruch.
Oberau und Oberwiehre waren eine ruhige Gegend, ein wenig abgelegen, aber doch noch in der Nähe der Altstadt. Den Nord- und Südrand des Viertels umgab ein grüner Pelz von Laubwäldern. Die schnurgeraden Wohnstraßen wurden durchzogen von industriellen Einsprengseln, einer Bier-, Textil-, Papierfabrik. In der nahen Schwarzwaldstraße rollte der Verkehr den Bergen zu oder in die Oberrheinebene hinab, ins Höllental oder in den Breisgau.
An unserer Wohnung floss die Dreisam vorbei, ein gemächlicher, ruhig dahinplätschernder Fluss – nur im Frühjahr konnte sie sich nach Regengüssen für ein paar Tage plötzlich in ein schäumendes braunes Wildgewässer verwandeln. Dann wagten sich manchmal mutige Kanufahrer in die Wellen und trieben mit lautem Hallo an unseren Fenstern vorbei. In früheren Zeiten, so erzählte man, hatte die Dreisam bei Hochwasser sogar einmal die Brücke beim Schwabentor weggerissen. Doch das war lange her. Jetzt hörte man von ihr meist nur ein gleichmäßiges Rauschen, das die Anwohner nachts, wenn die Fenster offen standen und der Verkehr verstummte, mit leisem Takt in den Schlaf wiegte. Manchmal, in Sommernächten, übertönte der Lärm der Grillen in den umliegenden Gärten und Wiesen das Rauschen des Flusses.
Meine Eltern hatten die neue Wohnung nach dem Ersten Weltkrieg bezogen. Sie lag in der Oberau, im 1907 erbauten Kaiserhof, einem stattlichen Bau mit einem Restaurant im Erdgeschoss. Der Wechsel war nötig geworden, weil unser Vater, kaufmännischer Angestellter bei einer Fabrik für Geschäfts- und Durchschreibebücher, in der Nähe seiner Arbeitsstätte wohnen wollte, die in der Kartäuserstraße lag.
Es war die Nachkriegs-, die Inflationszeit. In den Betrieben waren die Mittagspausen kurz, sie dauerten oft kaum eine Stunde. Fast nirgends gab es Kantinen. Wer immer konnte, strebte mittags zum Essen nach Hause. Der Kaiserhof, ein Eckhaus, entsprach den Erwartungen der Eltern, er hatte alles, was man zum Wohnen und Leben brauchte. Die Mietwohnung mit zwei großen und zwei kleinen Zimmern lag zwar weit oben, im vierten Stock; man musste viele Stufen steigen, herumwandernd in einem viereckigen dunklen Treppenschacht. Aber sie kostete nur sechzig Reichsmark, war angenehm ruhig und hatte beachtliche Geschosshöhen; selbst Erwachsene mussten sich auf einen Tisch stellen, um die Decke mit den Händen zu erreichen. Außerdem besaß sie den schönsten Balkon der Gegend, der den Erker am Eckpunkt des Hauses nach oben krönend abschloss.
Die Familie meines Vaters stammte aus dem Schwarzwald, aus dem nahe gelegenen Spirzendobel. Der Großvater Hermann Maier war Handwerker gewesen, er hatte als Hutmacher gearbeitet, bis er durch die Industrialisierung seinen Beruf verlor und sich als Bauarbeiter durchschlagen musste. Von seiner Familie kannten wir den jüngsten Sohn, Onkel August mit seiner Frau Maria sowie den Kindern Bernhard und Rita. Er arbeitete als Schriftsetzer beim Verlag Herder und hatte es mit Fleiß und Geschick zum Fachmann für die alten Bibelsprachen gebracht. Onkel August sollte über 92 Jahre alt werden. Sein älterer Bruder – mein Vater – starb dagegen schon im frühen Mannesalter.
Meine Mutter kam aus der Oberrheinebene, aus Hausen an der Möhlin, einem Dorf zwischen Tuniberg und Rhein. Sie entstammte einer mit zehn Kindern gesegneten Bauernfamilie. Der Vater August Klingler war Bürgermeister von Hausen. Obwohl das Land fruchtbar war, mussten die Eltern sich anstrengen; in den schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg war mit einer großen Familie nicht leicht durchzukommen. Am Oberrhein gab es nur wenige größere Höfe, im Unterschied zum Schwarzwald. Es war ein altes Realteilungsgebiet – eine Gegend, seit jeher gezeichnet von Armut und Landflucht, mit hohen Auswanderungsquoten nach Amerika. Bei großen Familien reichte es selten zu einer eigenen Existenz für sämtliche Kinder.
Karl, der älteste Sohn der Familie Klingler, war schon 1911 nach den USA gegangen. Nach dem Krieg, in den zwanziger Jahren, folgten Hermann, Augusta und Josephine («Schössele») ihm nach. Sie ließen sich in Kleinstädten im Mittleren Westen nieder. Zwei weitere Töchter blieben am Oberrhein auf dem Land, heirateten in Bauernfamilien und hatten ihr bescheidenes Auskommen. Die vier verbleibenden Töchter, darunter meine Mutter, suchten ihr Glück in der Stadt. Zwei von ihnen arbeiteten als Haushälterinnen und Haushaltshilfen in Freiburg und an anderen Orten und blieben bis ans Lebensende unverheiratet. Die eine versuchte vergeblich, dauerhaft in einen Orden aufgenommen zu werden. Eine weitere, mit einem Lehrer in Langenbrand verheiratet, starb früh an Lungenschwindsucht. Auch meine Mutter Paula – «s’Päule» genannt – arbeitete zunächst als Dienstmädchen, brachte aber für diesen Beruf wohl nicht die nötige Demut und Dienstwilligkeit mit. Als eine Professorenfrau, bei der sie untergekommen war, immer wieder keifend nach dem «Määädchen» rief, fragte sie zornig: «Mit wie viel ä schreiben Sie Mädchen?» – und kündigte. Ein wenig mehr Freiheit fand sie in Metzgereien in Freiburg und in Stuttgart, zu denen ihr Vater sie vermitteln konnte – er besaß eine Ausbildung als Metzger und war im Dorf zuständig für die beim Viehverkauf vorgeschriebene Trichinenschau.
Und dann geschah es: In eine der Freiburger Metzgereien in der Flaunserstraße, wo Paula bediente, kam eines Tages als Kunde auch der junge Witwer Josef Maier aus der nahegelegenen Gresserstraße mit seiner Tochter, der kleinen Gretel – und Paula verliebte sich in den Mann, in sein schwarzes Haar und seine blauen Augen. Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Wenig später, im August 1915 – Josef war Soldat in Frankreich – heirateten die beiden.
Hatte Mutter damit das kleine Glück gefunden, das sie in der Stadt gesucht hatte? Vielleicht, man durfte es hoffen. Doch das Glück war wetterwendisch. Zwar verstand und liebte sich das junge Paar. Drei Kinder wurden geboren. Vater und Mutter ergänzten einander gut, da sie ganz verschiedene Temperamente hatten: der Vater schwungvoll, rasch entschlossen, manchmal ein wenig leichtsinnig; ein Skatspieler und Fußballfan, ein Freund des Theaters, der begeistert Opern und Operetten anhörte und jede Melodie gleich nachpfeifen konnte. Die Mutter pünktlich, sorgfältig und genau, haushälterisch und sparsam, immer den nächsten Tag, die nächste Woche im Auge. Aber wirtschaftlich war das Leben mühselig, und es wurde in den Jahren nach dem Krieg nicht leichter. Vater wurde zwar eines Tages Prokurist bei der Firma, in der er tätig war, aber das war nur ein Titel. Wenn er nach einer Gehaltserhöhung fragte und auf die wachsende Kinderzahl hinwies, schüttelte der Firmenchef den Kopf: «Das ist ja schließlich Ihr Privatvergnügen.»
Oberau 79, früher «Kaiserhof» (heutiger Zustand)
Der Stadtteil Wiehre mit Lehrerseminar und Mariahilf-Kirche
Dann kam ein böses Doppeljahr, von Mitte 1931 zu Mitte 1932. Es begann zunächst freudig. Das vierte Kind der Familie wurde geboren, nach Gretel, Helen und Ernst, ein Bub, Hans Hermann. Am 18. Juni 1931 kam ich im Entbindungsheim St. Elisabeth zur Welt und wurde, wie man in Freiburg sagt, mit Dreisamwasser getauft. Doch ein halbes Jahr später, im Dezember 1931, verunglückte mein erst achtjähriger Bruder Ernst, als er der Mutter beim Bäcker Hirschhornsalz für das Weihnachtsgebäck holen wollte. Ganz in Eile, um schnell wieder zurück zu sein, nahm er das Treppengeländer, rutschte mit Schwung herunter, verlor das Gleichgewicht, stürzte in den großen dunklen Treppenschacht und erlitt einen Schädelbruch, dem er nach kurzer Zeit erlag. Wieder ein halbes Jahr später, im Mai 1932, erkrankte mein Vater an einer Lungenentzündung, die in eine Sepsis mündete. Er starb mit 44 Jahren. Antibiotika, die ihn hätten retten können, gab es...