Einleitung
Glück ist weder Tugend noch Vergnügen noch dieses Ding noch das, sondern einfach Wachstum. Wir sind glücklich, wenn wir wachsen.
John Butler Yeats in einem Brief an seinen Sohn William Butler Yeats, 1909
Wir waren alle einmal jung. Vermutlich können Sie sich, ebenso wie ich, noch an die schönsten Augenblicke Ihrer Kindheit erinnern, die noch heute ein Lächeln in Ihr Gesicht zaubern oder Sie zu Tränen rühren. Die Kindheit ist die Phase des Lebens, in der sich der Verstand entwickelt, nicht nur, weil Kinder ständig Neues erlernen, sondern auch, weil sie so experimentierfreudig und neugierig sind. Sie probieren gerne neue Konzepte und Strategien aus. Die Kindheit sollte die Lebensphase sein, in der der Glücksballon hoch über dem Alltäglichen schwebt. Die meisten Kinder machen schon ein Marmeladenbrötchen, ein Fahrrad und eine Gutenachtgeschichte glücklich. Ich bin auch deshalb Kinderarzt geworden, weil ich an diesem Wunder und der Freude des Wachstums teilhaben und es in die richtigen Bahnen lenken will.
Im Schnelllauf spulen wir jetzt einmal 40 Jahre vor. Kinder wachsen immer noch – doch zu meinem großen Bedauern eher in die Breite als in die Höhe, wie ich in meiner Kinderklinik täglich feststelle. Manchen von ihnen werden Medikamente verordnet, die früher nur Erwachsenen verschrieben wurden, zum Beispiel Metformin zur Senkung des Blutzuckerspiegels bei Diabetes Typ 2 oder der Blutdrucksenker Benazepril. Und der wunderbare Glücksballon hat mittlerweile so viel Luft verloren, dass er sich kaum noch in der Luft halten kann. An seine Stelle getreten sind so banale, alltägliche Dinge wie Capri-Sun, Netflix und Snapchat.
Ich höre Sie förmlich sagen, dass sei eben der Fortschritt, die Bequemlichkeit, die technische Entwicklung oder auch unsere Kultur der sofortigen Befriedigung. Man kauft sich etwas und ist glücklich. Oder etwa nicht? Was wäre, wenn uns all diese Annehmlichkeiten, die ganz offensichtlich nur zu einem Zweck geschaffen und vermarktet werden – nämlich uns glücklich(er) zu machen –, genau das Gegenteil bewirkten? Wenn sie uns also unglücklich machen? Was, wenn es dadurch zu einer Gehirnwäsche gekommen ist und wir gar kein Glücksgefühl mehr empfinden können? Was, wenn unsere Kinder nichts anderes als die Kanarienvögel in einer Kohlemine sind? Was, wenn auch Ihre Kolleginnen und Kollegen, Freunde, Verwandte und Sie selbst davon betroffen sind? Wäre das gut oder schlecht? Und wenn es gut wäre, für wen wäre es dann gut?
Vergnügen und Glück sind einander sehr ähnlich, da sich beides gut anfühlt. Doch Yeats kannte den Unterschied. Seit Anbeginn der Zeit haben Philosophen versucht, diesen beiden angenehmen Gefühlen auf den Grund zu gehen. Diese dem Menschen vorbehaltenen Empfindungen besetzen gemeinsam, aber auch jede für sich, große Areale unseres Bewusstseins, sind großes Thema in der Literatur und auch im nationalen und internationalen Diskurs. Während sich Philosophen und Sozialwissenschaftler die letzten 3000 Jahre damit befasst haben, diese beiden Begriffe für uns zu klären und immer wieder neu zu definieren, ist etwas Ungewöhnliches und wahrscheinlich Unheilvolles mit diesen beiden positiven Emotionen passiert, die zwar verwandt, aber dennoch sehr unterschiedlich sind.
In den letzten 40 Jahren wurden wir Zeuge, wie sich die negativen Extreme dieser beider Gefühle epidemieartig ausbreiteten: Sucht (aufgrund von zu viel Vergnügen) und Depressionen (aufgrund mangelnden Glücksempfindens). Zugleich haben wir in den vergangenen vier Jahrzehnten so vieles über das Gehirn und seine Funktionsweise herausgefunden, dass es uns nun möglich ist, diese beiden Emotionen auf biochemischer Ebene zu sezieren und zu analysieren. Sind natürliche Ursachen dafür verantwortlich, dass immer mehr Menschen suchtkrank oder depressiv werden? Haben diese beiden Entwicklungen etwas miteinander zu tun? Oder geschah diese Entwicklung sozusagen in einem luftleeren Raum? Gab es Druck von außen, in welcher Form auch immer? Was oder vielmehr wer ist dafür verantwortlich, dass diese Entwicklung in der modernen Gesellschaft als »normal« gilt? Was, wenn alle westlich geprägten Nationen einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, damit Einzelne auf Kosten so vieler davon profitieren können? Noch schlimmer: Was, wenn niemand weiß, dass er einer Gehirnwäsche unterzogen wurde, dass sein Gehirn »gehackt« wurde?
Der Begriff »Hacken« in seiner Bedeutung aus der Computerfachsprache ist noch nicht allzu lange im Duden zu finden. In Amerika wurde 1955 während einer Tagung des Modelleisenbahnclubs des Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT (meiner Alma Mater) zum ersten Mal von einem »Hack« gesprochen. Damals war das als Lausbubenstreich zu verstehen und die Übeltäter stellten dabei einen gewissen Stil, Einfallsreichtum und kindliche Verspieltheit zur Schau. Keine Frage, Autodiebstahl ist ein Verbrechen. Doch ist er es auch dann, wenn ein Bostoner Polizeiwagen gestohlen, fein säuberlich auseinandermontiert und in Einzelteilen fünf Stockwerke nach oben getragen wird, um dann oben in der Kuppel des MIT-Gebäudes wieder zusammengebaut zu werden? Nicht zu vergessen die Schaufensterpuppe in Polizeiuniform, die am Steuer saß, mit einer Schachtel Donuts griffbereit neben sich – ein klarer Fall eines »Hacks« in seiner ursprünglichen Bedeutung. Es ist noch gar nicht so lange her, dass das Silicon Valley dieses Wort usurpierte und damit kluge Lösungen für schwierige Probleme bezeichnete. Noch heute ist dafür die Bezeichnung »White Hat Hacking« gebräuchlich. Der Begriff »Black Hat Hacking« dagegen stammt aus dem Jahr 1963, als ein Hacker sich unbefugten Zugriff auf den Hauptrechner des MIT verschaffte. Mit Fortschreiten der Technik und der Zunahme von Netzwerken begannen weniger kluge Menschen, Viren zu programmieren, mit denen sie die Computer anderer infizierten. Das war der Grund, weshalb im Begriff »Hacken« inzwischen ein unheilvoller und bedrohlicher Beiklang mitschwingt. Wie wir aus dem Debakel um die Wahl des US-amerikanischen Präsidenten 2016 gelernt haben, besteht Computerhacken inzwischen aus drei Schritten. Beim ersten geht es um Phishing, das heißt, ein gutgläubiges Opfer erhält eine scheinbar harmlose E-Mail mit einem als Zip-Datei getarnten Virus oder einem Link zu einer bestimmten Webseite. Wird der Anhang geöffnet oder auf den Link geklickt, erhält der Hacker damit Zugriff auf diesen PC. Beim zweiten Schritt wird der Computer des Opfers mit einem Virus infiziert. Je nachdem, was der Hacker erreichen will, werden im dritten Schritt dann bestimmte Daten gekapert (zum Beispiel E-Mails von Politikern oder brisante Fotos von Prominenten), an den Hacker übertragen und das Opfer damit gedemütigt oder erpresst. Denkbar ist auch die Verschlüsselung ausführbarer Dateien, die erst nach Zahlung eines Lösegelds wieder für den Nutzer freigegeben werden, oder der Zugriff auf die Festplatte, die zum Abstürzen gebracht oder ganz gelöscht werden kann – ein Alptraum für den Betroffenen.
Schon höre ich Sie sagen, ja, aber hier geht es ja um Computer. Was, bitteschön, hat das mit dem menschlichen Körper oder Gehirn zu tun? Sehr viel sogar! Natürlich wird eine Gehirnwäsche nicht durch einen Computervirus initiiert, aber es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das menschliche Gehirn zu manipulieren. Man denke da zum Beispiel an bestimmte Medikamente oder Drogen. Und was ist mit gut getarnten Nachrichten, Fehlinformationen, Propaganda und dem neuesten Versuch, die Bevölkerung zu manipulieren, den so genannten Fake News? Zeigt all das die gleiche Wirkung wie Phishing? Was, wenn diese Nachrichten an Einfluss gewinnen? Führt dies zu Änderungen im Gehirn? Was ist mit Lebensmitteln? Trifft alles eben Gesagte auch auf vermeintlich harmlose Nahrungsmittel zu?
Ich werde in diesem Buch wissenschaftliche, kulturelle, historische, wirtschaftliche und soziale Argumente entwickeln, die einzeln, aber auch in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden sollten. Und sie alle werden zeigen, dass die meisten von uns bereits einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Ich werde außerdem nachweisen, dass dieser Hack – die systematische Zusammenführung und letztlich die unglückselige Vermengung der Begrifflichkeiten und Definitionen von Vergnügen und Glücksempfinden – im limbischen System stattgefunden hat, wo die Emotionen sitzen. Das hat dazu geführt, dass es bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung (schätzungsweise zwischen 25 und 50 Prozent) allmählich zu einem Ausfall dieses Systems kam, was sich in hohem Maße als schädlich für die ganze Gesellschaft erweist. Obendrein werde ich aufzeigen, dass dieser Hack kein Zufallsprodukt war, sondern bewusst herbeigeführt wurde. Ich schließe aus, dass es sich hierbei um einen Lausbubenstreich handelt, die treibende Kraft dahinter ist Profitgier. Nicht anders als der russische Cyberangriff bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 dient auch dieses Komplott privaten Interessen mit Billigung der Regierung – und in diesem Fall nicht beschränkt auf die USA.
Damit Sie, werte Leser, jedes meiner Argumente nachvollziehen können, möchte ich zunächst die aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über diese beiden eigentlich positiven Emotionen verständlich darlegen. Ich werde aufzeigen, wie es dazu kommt, dass sie mitunter identisch scheinen, und ich werde – was weitaus wichtiger ist – klären, worin sie sich unterscheiden. Zudem werde ich erläutern, was hinter unserer Erfahrung mit diesen beiden Gefühlen steckt und wie sie sich gegenseitig beeinflussen können. Anschließend werde ich ausführen, wie sich die Geschäftswelt und die westlichen Regierungen die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft zunutze gemacht...