Einleitung
Was dieses Buch soll – und was nicht
I.
Es gibt Gründe, an eine Renaissance der Offline-Medien zu glauben – in erster Linie an die Tageszeitung, die zur informatorischen Grundausstattung unserer Gesellschaft gehört. Während der Rundfunk zum internetabhängigen Digitalmedium mutiert, bleibt die Tageszeitung ein in sich geschlossenes Produkt, selbst wenn sie eines Tages ausschließlich als eine ›App‹ verbreitet werden sollte. Dies unterscheidet die Zeitung (auch) vom Web-Auftritt, den ihr eigener Verlag betreibt.
Einer der Gründe, die mich glauben lassen, dass die Tageszeitung wieder an Geltung zurückgewinnt, ist politischer Natur. Er hängt mit der Erfahrung der totalen Überwachung der gesamten Internet-Transaktionen zusammen, deren Totalität erstmals im Sommer 2013 infolge der Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden erkennbar wurde. Diese Enthüllungen haben einen Bewusstseinsprozess in Gang gesetzt. »Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter!«, so lautete ein im Dezember 2013 weltweit von 560 Schriftstellern und Wissenschaftlern publizierter Aufruf: »Die Staaten […] haben Zugang zu unseren politischen Überzeugungen und Aktivitäten, und sie können, zusammen mit kommerziellen Internetanbietern, unser gesamtes Verhalten, nicht nur unser Konsumverhalten, vorhersagen« (zit. nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.2013, S. 27). Sascha Lobo, »Deutschlands bekanntester Internet-Experte« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung), brauchte ein halbes Jahr, um den Schock zu begreifen, dann schrieb er in seinem Essay über »die digitale Kränkung des Menschen« unter anderem: »Wir haben uns geirrt, unser Bild vom Internet entsprach nicht der Realität, denn die heißt Totalüberwachung.« Und folgerte: Zwar mache die digitale Vernetzung weiterhin Sinn, doch »das Internet ist kaputt« (Lobo 2014: 37).
Vier Monate nach den ersten Enthüllungen über dieses Überwachungssystem führte das IfD Allensbach eine Repräsentativerhebung zum Thema ›Vertrauen in die Medien‹ durch. Ich gehe davon aus, dass diese Studie – obwohl im Auftrag der Zeitschriftenverleger Deutschlands durchgeführt – valide Ergebnisse erbracht hat. Diesen zufolge halten derzeit rund 85 Prozent der erwachsenen Bevölkerung die Tageszeitungen (und Zeitschriften) für besonders zuverlässig und für glaubwürdige Informationsquellen. Der Studie zufolge sind 88 Prozent der Meinung, dass besonders sachkundige und gut recherchierte Berichte in den Printmedien zu finden seien. Auch bestätigt jeder zweite Befragte, dass er sich die Nachrichten besser merken könne, wenn er sie offline auf Papier gelesen habe.
Zwar schneidet der Rundfunk (TV und Radio) auch nicht schlecht ab: 83 Prozent der Bundesbürger halten auch diese Quellen für sachkundig und glaubwürdig, 87 Prozent finden auch dort besonders gut recherchierte Beiträge. Doch deutlich anders fällt das Urteil über die Online-Medien aus, die stationären ebenso wie die mobilen: Dass diese besonders glaubwürdig seien, findet nur noch jeder dritte Befragte; dass dort besonders sachkundige und gut recherchierte Beiträge zu finden seien, glauben nur mehr 38 Prozent (Quelle: IfD Allensbach: Attraktivität von Print, Oktober 2013).
In dieses Bild passen auch die für 2013 erhobenen Reichweitedaten der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse (AG.MA): Nach vielen Jahren des kontinuierlichen Reichweitenschwunds weisen die im Juli 2013 publizierten Zahlen der ›MA 2013 Tageszeitungen‹ eine deutliche Abflachung des Rückgangs aus – und für einige Regionalzeitungen gar einen sanften Reichweitezuwachs: für die Rheinpfalz und die Sächsische Zeitung etwa, für die Hessisch-Niedersächsische, für die Volksstimme und die Schwäbische Zeitung zum Beispiel. Dies sind keine belastbaren Daten (für viele Verbreitungsgebiete ist die Stichprobe der MA zu klein, zudem wird vielerorts nach der Reichweite des Anzeigenkonglomerats gefragt und nicht nach dem redaktionellen Teil eines Zeitungstitels). Aber eine Tendenz lässt sich daraus sehr wohl ableiten.
Einerseits. Andererseits kennen wir zahlreiche Indikatoren, die in die entgegengesetzte Richtung weisen. Unbestreitbar sinkt die für das Zeitungsgeschäft relevante ›harte‹ Verkaufsauflage Jahr für Jahr um zwei bis vier Prozent (die Ausreißer ausgenommen). Jahr für Jahr schrumpft auch das Anzeigenvolumen und das gesamte Beilagengeschäft. Viele Media-Agenturen fragen sich, ob der in Sachen Werbe-Erfolg recht diffuse Werbeträger Tageszeitung im Wettbewerb mit den interaktiven Online-Medien noch konkurrenzfähig ist – und finden ihre Antwort, indem sie Anzeigenaufträge stornieren. Auch 2013 gingen die Werbe-Erlöse markant zurück.
Und die Leser? Vielleicht noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass ein immer größerer Teil der jungen Erwachsenen der Gattung Tageszeitung fern bleibt – dann jedenfalls, wenn es um die Bindung (Abonnement) geht: schnuppern ja, regelmäßig lesen: nein. Zahlreiche Blog-Kolumnisten halten die Überlebensfrage durch die Macht des Faktischen längst für beantwortet. Verschwinden die Tageszeitungen mangels Lesernachwuchs eines Tages ganz von der Bildfläche? Das sei nur eine Frage der Zeit, sagen sie.
Verschiedene Unternehmen traten ja auch sehr geräuschvoll die Flucht nach vorn an: Zuerst wurden Redaktionen ausgedünnt und prekarisiert. Zudem wurden in Nordrhein-Westfalen ganze Redaktionen geschlossen und Zeitungen fremdbeliefert; dann verkaufte der Axel Springer-Verlag zwei große Tageszeitungen, die Berliner Morgenpost und das Hamburger Abendblatt, komplett an die Essener Funke-Gruppe, begleitet vom Kommentar der Entscheider, dass die Ära Print definitiv zu Ende gehe. Viele mittelständische Verleger, die Blattmacher und Zeitungsjournalisten reagierten zutiefst verunsichert; im ersten Halbjahr 2013 trafen sie sich zu Konferenzen, Workshops und Tagungen und schrieben viele Memoranden und Aufsätze; ganze Serien wurden bestritten mit der Leidensfrage: Was wird aus dem (Zeitungs-)Journalismus? Jeder, der dazu etwas sagen wollte, hatte flugs eine Liste kühner Thesen zur Hand: Warum es und wie es kommen müsse. Eine ganze Branche schrieb sich selbst in eine depressive Stimmung. Die ganze Branche fabulierte aber auch mit überraschender Ahnungslosigkeit über ihre Zukunftsperspektiven. Wenn es stimmt, dass jede gute Recherche nicht mit einer These, sondern mit der Klärung der Sachverhalte beginnt, welche anschließend zu einer These führen (können), dann war das große Thesen-Palaver über die Zukunft des Journalismus wahrlich kein Ausweis für soliden Journalismus.[1]
II.
Der fatale Zeitungspessimismus, der dem Gesetz der selbsterfüllenden Prophezeiung folgt, und das große Kaffeesatzlese-Palaver des Sommers 2013 motivierten mich, dieses Buch zu schreiben. Sein Thema sind nicht ›die‹ Tageszeitungen, sondern die Regionalzeitungen. Und sein Ausgangspunkt ist nicht die Blickstarre auf das Internet, sondern die Überzeugung, dass die Krise der Regionalzeitungen nicht naturnotwendig, sondern überwiegend handgemacht ist. Polemisch zugespitzt: Wenn die Gattung Regionalzeitung untergehen sollte, dann hätten dies die Eigentümer – die Zeitungsverlage – selbst verschuldet.
Warum es hier nur um die Regionalzeitungen geht? Weil die Gattung der Boulevardpresse (Straßenverkauf) ganz anderes funktioniert und anderen Einflussfaktoren unterworfen ist, die auf die abonnierte Tagespresse nicht übertragbar sind (und umgekehrt). Und warum nicht die überregional verbreitete Tageszeitung, konkret: die Süddeutsche, die Frankfurter Allgemeine, die Welt, die tageszeitung taz und das Handelsblatt? Man möchte zur Ehre dieser besonderen Zeitungskultur jeden Morgen eine Hymne anstimmen: Ich bin überzeugt, dass wir in Deutschland mit diesem Zeitungskonzert auch im globalen Vergleich zu den bestausgestatteten Gesellschaften zählen, wenn ›bestausgestattet‹ sich nicht auf die Auflage, sondern auf die praktische Vernunft bezieht, die im medialen Diskurs zur Sprache kommt. Leider leiden auch die überregionalen Abo-Zeitungen unter einem massiven Reichweiten-, Auflagen- und Werbe-Erlösschwund. Doch hier, im überregionalen Lesermarkt, gelten andere Regeln und Variablen; auch hier gilt, dass sich die Funktion der Regionalzeitung von jener der überregional genutzten Zeitungen (›Bundesausgaben‹) markant unterscheidet. Was in diesem Buch ausgeführt wird, betrifft allerdings auch die Süddeutsche Zeitung dort, wo sie die Rolle der Regionalzeitung wahrnimmt (d. h. im Großraum München).
III.
Dieses Buch verfolgt vom ersten bis zum letzten Kapitel eine bestimmte Perspektive: die des Publikums als tatsächlichem und potenziellen – aber auch ehemaligen – Zeitungsleser. Über die Leser wurde und wird in den Redaktionen schon seit Längerem viel geredet, doch wirklich verstanden hat man sie nicht. Dies hat verschiedene Gründe, die im Laufe der Kapitel diskutiert werden.
Damit ist auch schon die Kernbotschaft dieses Buchs verraten: Die Zukunft der Regionalzeitungen hängt wesentlich davon ab, ob die Redaktionen in ihrem Rollen- und Funktionsverständnis den Sprung von den 1980er-Jahren in unsere nachmoderne Ära schaffen. Ob sie, mit anderen Worten, den Perspektivenwechsel – weg von der Sicht der Machtträger und der Institutionen, hin zur Alltags- und Erfahrungswelt (vor allem) der jüngeren Erwachsenen – vollziehen können. Die damit verbundene Umorientierung auch der journalistischen Berufsrolle bedeutet eine große...