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Tote Zonen der Phantasie
Über strukturelle Dummheit
Ich möchte mit einer Geschichte über die Bürokratie beginnen.
Im Jahr 2006 erlitt meine Mutter mehrere Schlaganfälle. Bald wurde klar, ohne fremde Hilfe würde sie nicht mehr in ihrer Wohnung leben können. Da ihre Krankenversicherung keine häusliche Pflege bezahlte, empfahlen uns mehrere Sozialarbeiter, einen Antrag auf Leistungen nach dem Medicaid-Programm zu stellen. Um diese Unterstützung zu erhalten, darf das Gesamtvermögen der betreffenden Person jedoch nicht mehr als 6000 Dollar betragen. Wir hoben ihre Ersparnisse ab – was streng genommen wohl ein Betrug war, wenngleich ein sehr eigenartiger Betrug, da die Regierung Tausende Sozialarbeiter beschäftigt, deren Hauptaufgabe anscheinend darin besteht, den Leuten zu erklären, wie sie diesen speziellen Betrug begehen können –, aber kurz darauf erlitt meine Mutter einen weiteren schweren Schlaganfall, und sie musste in einem Pflegeheim eine längere Reha-Kur absolvieren. Nach ihrer Entlassung aus der Reha-Klinik war sie auf häusliche Pflege angewiesen, aber da tauchte ein Problem auf: Die Leistungen, die sie von der Sozialversicherung erhielt, wurden direkt überwiesen, aber sie konnte kaum noch ihren Namen schreiben. Wenn ich also keine Kontovollmacht bekam und ihre monatliche Miete zahlen konnte, würde sich das Geld anhäufen, und sie würde den Unterstützungsanspruch verlieren, und nachdem ich den Wust an Medicaid-Dokumenten ausgefüllt hatte, musste ich persönlich vorsprechen, damit ihr Antrag in das Bearbeitungsverfahren aufgenommen wurde.
Ich besorgte mir bei ihrer Bank die erforderlichen Formulare und brachte sie zum Pflegeheim. Die Dokumente mussten notariell beglaubigt werden. Die Mitarbeiterin am Empfang erklärte mir, in ihrer Einrichtung gebe es zwar eine Notarin, aber ich müsse erst einen Termin vereinbaren. Sie griff zum Hörer und stellte mich zu einer körperlosen Stimme durch, die mich an die Notarin weiterreichte. Die Notarin informierte mich, ich benötige zuallererst eine Vollmacht vom Leiter des Sozialdienstes. Ich erkundigte mich nach dessen Zimmernummer, fuhr mit dem Aufzug hinunter und ging in sein Büro – wo ich feststellte, dass dem Leiter des Sozialdienstes jene körperlose Stimme gehörte, die mich zuvor zur Notarin weitergeleitet hatte. Der Leiter des Sozialdienstes nahm den Hörer auf und sagte: »Marjorie, das war ich. Sie machen den Mann ganz verrückt mit diesem Unsinn und mich auch.« Nach einer kleinen entschuldigenden Geste sprach er weiter am Telefon und verschaffte mir einen Termin für Anfang der kommenden Woche.
In der folgenden Woche erschien die Notarin vereinbarungsgemäß, begleitete mich nach oben, um sicherzustellen, dass ich meinen Teil der Formulare ausfüllte (worauf ich mehrmals hingewiesen worden war), und begann dann in Anwesenheit meiner Mutter deren Teil auszufüllen. Ich war etwas verblüfft, denn sie bat meine Mutter um keine Unterschrift, sondern nur mich. Sie werde schon wissen, dachte ich mir, was sie tue.
Am nächsten Tag brachte ich das Dokument zur Bank, wo die Mitarbeiterin am Schalter einen kurzen Blick darauf warf und mich dann fragte, warum meine Mutter nicht unterschrieben habe. Sie zeigte das Formular ihrem Vorgesetzten, der mir erklärte, ich solle es wieder mitnehmen und vervollständigen. Anscheinend hatte die Notarin doch nicht gewusst, was sie tat. Ich erhielt einen neuen Satz Formulare, füllte sorgfältig meinen Teil aus und ließ mir einen neuen Termin geben.
Am vereinbarten Tag erschien die Notarin, und nach ein paar umständlichen Bemerkungen darüber, wie schwierig doch diese Banken seien (warum müsse jede Bank ein anderes Formular für die Vollmacht haben?) ging sie mit mir nach oben. Ich unterschrieb, meine Mutter unterschrieb – zu diesem Zeitpunkt fiel es ihr schon schwer, aufrecht zu sitzen –, und am nächsten Tag kehrte ich zur Bank zurück. Eine weitere Mitarbeiterin an einem anderen Schalter überprüfte die Formulare und fragte, warum ich in der Zeile unterschrieben hatte, in der ich meinen Namen in Druckbuchstaben hätte eintragen sollen und dafür meinen Namen in die Zeile in Druckbuchstaben eingetragen hatte, in der eigentlich die Unterschrift stehen sollte.
»Habe ich das getan? Nun, ich habe genau das gemacht, was mir die Notarin gesagt hat.«
»Aber hier steht klar: ›Unterschrift‹«
»O ja, Sie haben recht. Wahrscheinlich hat sie sich vertan. Aber wie auch immer … alle benötigten Informationen sind vorhanden, nicht? Nur diese beiden Teile sind vertauscht. Sehen Sie hier tatsächlich ein Problem? Die Angelegenheit ist etwas dringend, und ich möchte eigentlich nicht noch einmal einen neuen Antrag stellen, was die Sache noch länger verzögern würde.«
»Nun, normalerweise akzeptieren wir diese Formulare nicht, wenn nicht alle Unterzeichner persönlich anwesend sind.«
»Meine Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie ist bettlägerig. Vor allem deshalb benötige ich eine Vollmacht.«
Die Mitarbeiterin teilte mir mit, sie werde die Angelegenheit mit dem Manager besprechen. Nach zehn Minuten kam sie zurück und verkündete – während der Manager in Hörweite stand –, die Bank könne diese Formulare in ihrer aktuellen Form nicht akzeptieren. Und auch wenn sie korrekt ausgefüllt wären, brauchte ich eine Bestätigung vom Arzt meiner Mutter, dass sie geistig in der Lage sei, ein solches Dokument zu unterzeichnen.
Ich wies darauf hin, dass bisher noch niemand von einem solchen Brief gesprochen habe.
»Was?«, mischte sich der Manager plötzlich ein. »Wer hat Ihnen diese Formulare gegeben und Ihnen nichts von dem erforderlichen Schreiben gesagt?«
Da eine der etwas verständnisvolleren Bankmitarbeiterinnen die Schuldige war, wich ich der Frage aus1 und erklärte stattdessen, im Sparbuch meiner Mutter sei eindeutig eingetragen »unter treuhänderischer Verwaltung durch David Graeber«. Das spiele nur eine Rolle, wenn die Kontoinhaberin verstorben sei, entgegnete der Filialleiter.
Das Problem wurde tatsächlich gegenstandslos: Ein paar Wochen später starb meine Mutter.
Ich empfand dieses Erlebnis damals als höchst befremdlich. Bis dahin hatte ich ein eher bohèmehaftes Studentenleben geführt, war mit derartigen Dingen kaum in Berührung gekommen und fragte nun meine Freunde: Sieht so der Alltag für die meisten Menschen aus? Müssen sie wirklich den ganzen Tag herumrennen und sich dabei wie Idioten vorkommen? Werden sie tatsächlich in eine Lage gebracht, in der sie sich dann wie Idioten verhalten? Etliche Befragten bejahten dies. Offenkundig war die Notarin ungewöhnlich inkompetent gewesen.
Einige Zeit später musste ich mich mehr als einen Monat lang mit Schwierigkeiten herumschlagen, die dadurch entstanden, dass ein unbekannter Mitarbeiter der New Yorker KfZ-Zulassungsstelle meinen Vornamen falsch als »Daid« eintrug, ganz zu schweigen von den Verwicklungen, die sich ergaben, als ein Angestellter bei Verizon meinen Familiennamen als »Grueber« schrieb.
Öffentliche und private Bürokratien sind anscheinend – aus welchen historischen Gründen auch immer – so organisiert, dass ein nennenswerter Teil ihrer Akteure nicht in der Lage ist, ihren Anforderungen erwartungsgemäß zu entsprechen. In diesem Sinne habe ich einmal geschrieben, Bürokratien seien utopische Formen von Organisation. Utopisten, so sagt man doch, glauben naiv an die menschliche Vollkommenheit und weigern sich, Menschen so zu sehen und zu nehmen, wie sie tatsächlich sind.2 Genau das tun jedoch alle Bürokratien: Sie stellen Ansprüche, die sie als angemessen betrachten. Entdecken sie schließlich, wie viele Menschen immer unfähig sein werden, die an sie gerichteten Erwartungen einzulösen, ziehen sie daraus den Schluss, nicht die Ansprüche und Anforderungen der Bürokratien seien das Problem, sondern die Unfähigkeit der Personen, denen es nicht gelingt, die an sie gestellten Ansprüche und erhobenen Anforderungen zu erfüllen.
Beim Umgang mit diesen Formularen war für mich äußerst beunruhigend, dass ich mich wie ein Dummkopf angestellt hatte. Wieso hatte ich nicht bemerkt, dass ich meinen Namen in jener Zeile in...