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E-Book

Burnout-Kids

Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert

AutorProf. Dr. Michael Schulte-Markwort
VerlagPattloch Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783629320827
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Sie sind oft ausgelaugt und fertig. Sie müssen perfekt gestylt sein für den Auftritt in der Klasse. Die Noten müssen stimmen. Nach Schulschluss wartet schon der Trainer, danach die Klavierlehrerin. In der Summe ist dieser Druck auf unsere Kinder unerträglich, denn sie unterwerfen sich meist völlig freiwillig dem Diktat der Leistungsgesellschaft. Professor Schulte-Markwort diagnostiziert täglich Burnout bei Kindern. Er fordert deshalb dringend eine Abkehr vom Leistungsideal.

Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, lange Jahre Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, widmet sich in der Privatpraxis Paidion der Heilung von Kinderseelen und baut die Fachklinik Marzipanfabrik (www.oberbergkliniken.de) mit auf. Außerdem unterstützt er die Entwicklung von Apps wie Mysoul oder MyPill. Vom führenden Experten für die Auswirkung aktueller Entwicklungen auf Kinder stammen die bei Knaur lieferbaren Bestseller Burnout-Kids, Superkids, Kindersorgen und Familienjahre.

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Leseprobe

Vorwort


»Ich kann nicht mehr!«, sagt Bea, 14 Jahre alt. Sie kommt mit ihren Eltern in meine Sprechstunde und berichtet mit erstaunlich nüchternen Worten, dass sie seit einem Jahr zunehmend müde ist. Sie fühlt sich bei der kleinsten Kleinigkeit angestrengt, erschöpft, ist danach niedergeschlagen und oft grundlos traurig. Seit Monaten hat sie keinen Appetit mehr, an Durchschlafen ist nicht zu denken. In der Schule kann sie nicht mehr aufpassen, von ihren Freundinnen hat sie sich zurückgezogen. Ihre Eltern sind hochgradig besorgt und ratlos. Als ich Bea genauer nach ihrer seelischen Verfassung befrage, fängt sie schnell an zu weinen. Sie ist immer eine gute Schülerin gewesen, und jetzt quält sie sich nur noch und weiß nicht, wie sie alles schaffen soll.

Bea ist ein hochgewachsenes Mädchen mit langen dunklen Haaren und unauffällig-modischer Kleidung. Ihre Eltern sind ausgesprochen liebevoll, und auch ihre beiden jüngeren Geschwister machen sich Sorgen um ihre Schwester. Die Familienanamnese ist völlig unauffällig, und die Diagnostik ergibt keinerlei Hinweise weder auf eine spezifische Form einer Depression noch auf eine körperliche Krankheit.

Meine Diagnose: Bea leidet unter einer Erschöpfungsdepression. Bea gehört zu den Burnout-Kids.

Burnout ist bei unseren Kindern angekommen. Erschöpfte und depressive Kinder und Jugendliche haben meinen Blick in den letzten Jahren auf diese Gruppe unserer Kinder gelenkt. Die Burnout-Kids fordern unsere Aufmerksamkeit. Deshalb ist dieses Buch entstanden.

 

Burnout bei Kindern? Ist das nicht wieder einer dieser effekthascherischen Versuche, unsere Kinder krankzureden? Müssen Ärzte uns immer wieder beunruhigen? Alles wieder nur Übertreibungen, um an mehr Patienten zu kommen?

Ich persönlich mag es nicht, wenn man übertreibt. Insbesondere dann nicht, wenn es um Beschreibungen unserer Kinder geht. Oder um Zuschreibungen an sie. Als Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie gehört es seit 27 Jahren zu meinen zentralen Aufgaben, Kinder zu verstehen, nicht, sie krankzureden. Abgesehen davon, dass ich nicht auf Patientensuche bin und wir Kinder- und Jugendpsychiater den Ansturm kaum bewältigen können. Und Kinder verstehen, das heißt für mich: nichts in sie hineinzuinterpretieren, was nicht zu ihnen gehört. Meine eigene Vorannahme sorgfältig abzugrenzen. Das ist nicht immer leicht, weil vieles von dem, was wir tun, notwendigerweise theoriegeleitet ist. Und weil Kindheit sich verändert.

Ein Beispiel: Entwicklungspsychologisch galt lange Zeit, dass die Pubertät als Phase der Autonomieentwicklung und Identitätsbildung nur gelingen kann, wenn die Jugendlichen sich hart und heftig im Rahmen einer Sturm- und Drangzeit von der Elternwelt abgrenzen. Heute fragen mich Eltern oft ratlos, was sie falsch gemacht haben, wenn das ausbleibt und der Jugendliche friedlich und freundlich erwachsen wird. Ich bin überzeugt davon, dass dies etwas damit zu tun hat, dass Eltern heute verständnisvoller sind, besser von Beginn an auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und weil Autonomie zu einem Thema geworden ist, das nicht erst in der Pubertät plötzlich aufkommt. Kinder fühlen sich heutzutage zu Recht mehr verstanden. Ich bin nicht nur von den Kindern, die zu mir kommen, berührt, sondern auch von den Eltern, die sich mit großer Ernsthaftigkeit um ein Verstehen und Fördern ihrer Kinder bemühen. Deshalb bin ich inzwischen dazu übergegangen, meine Arztbriefe direkt an die Kinder zu richten und nur noch nachrichtlich an die Eltern. Mir scheint dieses Verhalten ein gutes Beispiel dafür zu sein, welche Beziehungsqualität wir zwischen unseren Kindern und uns hergestellt haben. Erziehen heißt vorleben, heißt auf Augenhöhe mit den Kindern wahrnehmen, fördern, schützen, fordern, lieben. Und viele Eltern machen das hervorragend, und ihre Kinder entwickeln sich entsprechend. Das ist die eine, die gute Seite.

Die andere Seite ist, dass auch diese verständnisvolle Begleitung seitens der Eltern und der Umwelt unsere Kinder heute nicht vor dem Burnout schützen kann. Ich muss darauf hinweisen, auch auf die Gefahr hin, eingereiht zu werden in ein Phänomen unserer Zeit der misstrauischen und pessimistischen Übertreibungen, dieser ständigen Verdächtigungen unseren Kindern gegenüber, die Wirkung zeigen und die ich immer schwerer ertrage!

Wie oft bin ich in meiner beruflichen Tätigkeit von Journalisten gefragt worden, warum unsere Kinder immer aggressiver werden, warum sie immer kränker werden, warum es überhaupt immer schlimmer um sie bestellt ist. Ständig sehe ich Bücher, in denen unsere Kinder als Tyrannen beschrieben werden oder als verdummt und dement. Die Liste der Verdächtigungen ist lang. Und wie oft habe ich schon darüber nachgedacht, Gegenbücher zu schreiben, weil in meinen Augen alle diese Zuschreibungen falsch sind! Denn unsere Kinder sind liebenswert, freundlich, sozial kompetent, reflektiert, leistungsorientiert … Ich könnte die Liste gerne verlängern.

Sie werden fragen: Erst so ein romantisch-verklärter Blick auf die Kinder, und jetzt ein Buch über Burnout? Bin ich damit nicht in die Falle gegangen und stecke sie in dieselbe Schublade, in der sie schon als »Tyrannen« oder mit »digitale Demenz« eingeordnet wurden?

Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, mich öffentlich zu Wort zu melden, und habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Am Ende habe ich mich – wie immer – von den Kids selbst überzeugen lassen. In meinem Bemühen, möglichst nah, aufmerksam und gewissenhaft an den Kindern »dran zu sein«, ist mir seit fünf Jahren ein neues Phänomen aufgefallen.

Ich begegnete Jugendlichen, meistens Mädchen, die sich mit dem Vollbild einer Depression zeigten, die aber bei genauem Hinsehen, bei genauer Diagnostik nicht in die gängigen Kategorien passten. Erst habe ich mich innerlich gewehrt gegen das, was sich mir da aufdrängte, denn ich war grundsätzlich skeptisch gegenüber der Diagnose Burnout eingestellt. Alles, was ich von der Erwachsenenpsychiatrie darüber mitbekam, ließ für mich bei manchen Erwachsenen mit Burnout nur den Schluss zu, dass sie sich bloß eine Auszeit nehmen wollten. Kurz: Ich war misstrauisch. Da ich aber bis dahin nichts wirklich Fachliches über Burnout wusste, begann ich, mich damit zu beschäftigen. Ich ließ mich ein auf eine regelrechte Expedition in ein Phänomen, das mir über meine Patienten hinaus den Blick öffnete für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.

Die Tatsache selbst aber ließ sich nicht länger verdrängen: Ich begegnete in der Ambulanz Jugendlichen mit Burnout. Und schnell wurde für mich deutlich, dass die reflexhafte Zuschreibung der Schuld an die Eltern oder an die Schulen zu kurz griff.

Eine Zeitlang dachte ich bei mir, ich hätte es eben mit besonders empfindlichen und überforderten Jugendlichen zu tun. Je mehr es wurden, desto mehr wurde mir klar, dass sich tatsächlich ein Krankheitsbild aus der Erwachsenenwelt zu den Kindern verschiebt. Meine Unruhe wuchs.

Anfänglich stieß ich auch bei meinen Fachkollegen auf Skepsis. Wenn wir Kinder- und Jugendpsychiater unserer Verpflichtung, Kindern maximal gerecht zu werden, nachkommen wollen, dann müssen wir auf Veränderungen reagieren. Nicht nur auf neue Bedingungen des Aufwachsens, sondern auf veränderte Krankheiten, Symptome, psychische Reaktionen. Ich hatte den Eindruck, dass ich auf einmal die Journalisten nicht beruhigen musste und ihnen nicht mehr vorwarf, unsere Kinder misstrauisch zu verfolgen, sondern dass ich sie tatsächlich auf ein neues Krankheitsbild hinweisen musste.

Die Balance zwischen medizinisch-sachlichem Hinweis und populistischer Übertreibung ist nicht immer einfach. Und ein kurzer Zeitungsartikel oder ein Interview können Denkanstöße liefern. Doch wenn ich meinen Beobachtungen und den Hypothesen Raum geben wollte, blieb nur ein Schluss: Ich wollte ein Buch schreiben. Denn ich wollte etwas dafür tun, dass unsere Kinder weiterhin und immer intensiver von uns Erwachsenen verstanden werden. Dass wir ihnen helfen können. Wie aber sollte ich es vermeiden, eingereiht zu werden in die Liste populistischer Kinder-Schwarzseher?

Am Ende war mir mein Bemühen um die Kinder wichtiger. Wollte ich ihnen gerecht werden, musste ich meine Sorge öffentlich machen. Denn ich bin überzeugt davon, dass wir alle, Eltern wie Ärzte, Lehrer wie Politiker zur Kenntnis nehmen müssen, dass es die Burnout-Kids gibt, und dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, woher Burnout bei Kindern und Jugendlichen kommt. Wir brauchen eine Debatte darüber, was für eine Welt wir unseren Kindern präsentieren – und welche Welt wir eigentlich für sie gestalten möchten. Welche Werte wir vermitteln, welche Pädagogik wir uns für sie wünschen, was sie lernen sollen – was für Kinder wir uns wünschen. Dazu soll dieses Buch ein Anstoß sein. Unsere Kinder sind es wert, dass wir uns intensiv mit ihnen, ihrer seelischen Verfassung und ihrer Zukunft beschäftigen.

 

In diesem Buch möchte ich Sie, die geneigte Leserin (ich unterstelle, dass Mütter, Großmütter, Tanten und Pädagoginnen sich mehr für das Thema interessieren als ihre männlichen Ergänzungen; entschuldigt, lesende Väter!), mitnehmen auf diese Expedition, zu der mich meine Patienten selbst eingeladen haben. So beginne ich mit einem ganz normalen Alltag in meiner Ambulanz der Klinik in Hamburg. Die Zusammenstellung der Patienten hier im Buch entspricht – ein wenig verdichtet – tatsächlich dem Alltag meiner Ambulanz, in der ich an zwei Vormittagen der Woche Erstgespräche führe. Diese Ambulanz bedeutet mir viel, weil sie mich erdet, mich neben der klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sowie dem...

Blick ins Buch

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