Gezi und die Liebe zur Freiheit – ein Vorwort
Gezi hat uns alle fasziniert. Auch wenn ich meine Probleme damit habe, vom ›Volk‹ zu reden, hier trifft es zu: Das Volk hat den Taksim erobert und den Staat in seine Schranken verwiesen. Die Menschen wollten mehr Mitspracherecht, mehr Freiheit, mehr Leben. Doch das war nicht angedacht seitens der Regierung. Verständnislos antwortete sie mit Unterdrückung. Doch die Menschen meldeten sich auf lebendige und unvorhersehbare, ja unplanbare Art zurück! An immer mehr Orten sammelten sich immer mehr Menschen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, aber nun zu der Überzeugung gelangt waren, dass es genau jetzt geschehen musste. Auf einmal war alles voll und alle fragten sich, woher plötzlich all die Menschen kamen. Eben noch zu Haus oder auf der Arbeit, fanden sich innerhalb weniger Tage Zehntausende ein, die anscheinend auf irgendetwas gewartet hatten. Als dann alle im Gezi-Park und auf dem Taksim standen, kam sofort die Frage auf: Wer ist das eigentlich? Diese ganzen Menschen, wer in aller Welt ist das? Manche kannte man, andere waren neue Gesichter und von wieder anderen hätte man nie gedacht, dass sie … çapullieren. Das war’s. Genau das war, was hier gerade geschah, genau so fühlte es sich an. Der Premierminister hatte in seiner herablassenden Art den Namen gefunden, den alle gesucht hatten. Der Gezi-Aufstand war das Werk der Çapulcu, das war jetzt allen klar:
Ich selbst war auch im Gezi-Park und am Taksim und zwar vom 11.-15. Juni. Am 11. Juni wurde einer der härtesten Polizeieinsätze durchgeführt und ich erlebte einen Tag äußerster Intensität. Es war überwältigend, wie wir uns gegen die Polizei wehrten – oft war es wie ein Spiel: die auf der anderen Seite mit ihren riesigen Ungetümen aus Stahl schossen ihre Gasgranaten rüber und unsere Stürmer warfen sie zurück, worauf alle »Olley!!« riefen. Das andere Team hatte, glaube ich, weniger Freude. Sie hatten sich mit »einer Generation angelegt, die bei GTA Polizisten verprügelt«, wie an vielen Wänden zu lesen war. (Für die älteren Leser: GTA ist ein Videospiel.) Die folgenden Tage verliefen entspannter und ich kostete die Gezi-Kommune voll aus, wir tanzten, aßen und sprachen miteinander – wir lernten uns kennen, wobei es oft so war, als kannte man sich schon. Hat man je etwas so Schönes gesehen? Die Menschen schlagen die schwerbewaffneten Organe des die Ausbeutung aufrechterhaltenden Staates zurück, erobern die Innenstadt und – sie fassen sich an den Händen und tanzen! Mir persönlich steigen immer noch die Tränen in die Augen, wenn ich dieses Foto sehe. Auf dem Banner im Hintergrund steht »Wir fordern die Dunkelheit heraus!«
Aber Anstatt meine eigenen Erfahrungen weiter auszuführen, möchte ich – nach einem einleitenden Kapitel, das die Hintergründe von Gezi schildert – dazu einladen, den Protagonisten zu lauschen, die Gezi ermöglicht haben, die von Anfang an dabei waren. Ich habe mich mit ihnen getroffen, sie erzählen lassen und mir wichtig erscheinende Fragen gestellt. Hinzu kommt eine detailreiche Chronologie, die hoffentlich verstehen lässt, wie sich der Aufstand entwickelt hat und zu der ich mich von verschiedenen in der Türkei erschienenen Chronologien habe inspirieren lassen. Hierauf folgt ein kurzer Abschnitt, der sich den Auswirkungen des Aufstands sowie den äußerst turbulenten Zeiten, die am 17. Dezember 2013 begannen, widmet. Damit wir, nachdem wir Gezi gefühlt haben, uns ein wenig mit der politischen Situation in der Türkei beschäftigen, habe ich mich mit ein paar klugen Köpfen getroffen, außerdem mit Menschen, deren Ansichten uns einiges darüber mitteilen, was sonst so in der Türkei vorgeht. Abgerundet wird unser Menü durch drei Artikel, die Gezi in einen größeren Kontext einbetten: Ayşe Buğra, eine Soziologin aus Istanbul, zeigt auf, wie eng Gezi und die anderen Proteste unserer Zeit mit unserer »globalisierten Gesellschaft der zugehörigkeitslosen Individuen« zusammenhängen. Erol Özkoray macht seiner Wut darüber Luft, dass der Bruch mit den alten Herrschern (dem Militär) nur die neuen (die Islamisten) an die Macht gebracht hat. Heute scheint die Herrschaft der AKP unantastbar und wird von allen Seiten als repressiv, gar faschistisch kritisiert. Vor zehn Jahren allerdings war die AKP in den Augen vieler, auch außerhalb der Türkei, eine Art Heilsbringer, die Kraft, die die Herrschaft des Militärs beenden und das Land demokratisieren könnte. Von all den Artikeln und Büchern, die zu diesem Themenfeld in der Türkei erschienen sind, halte ich den Text von Erol Özkoray für den passendsten im Hinblick auf unser Buch. Er drückt relativ knapp aus, wie das alles miteinander zusammenhängt und scheut sich nicht, die Zustände zu benennen. Erol Özkoray wurde übrigens wegen der in diesem Artikel verwendeten Formulierung ›grüner Faschismus‹ vor Gericht gestellt. Michael Hardt schließlich schlägt den Bogen zu den Aufständen weltweit, was deshalb sinnvoll ist, weil globale Konjunktur von lokalen Umständen, d.h. Dinge, die uns alle betreffen und verbinden von solchen, die nur im spezifischen Rahmen ihre Gültigkeit haben, zu unterscheiden nicht immer einfach ist. Dieser Ansatz mag für aktiv an einer Veränderung der Zustände kämpfende Menschen vielleicht der aufregendste sein – dazu noch aus der Feder von Hardt, der prophezeite, die Kämpfe der Zukunft werden Kämpfe um die Städte werden.
Der Versuch, ein Ereignis wie Gezi, mit so vielen Teilnehmer_innen, so vielen Erlebnissen, so vielen Gründen und so vielen Wahrnehmungen zu beschreiben, kann als unmögliches Unterfangen erscheinen. Nicht nur ich selbst, auch andere Menschen äußerten Zweifel daran, ob es überhaupt möglich ist, das Geschehene objektiv zu beschreiben. Wer kann sagen, wann das angefangen hat, was man Gezi nennt? Welche Menschen sind die eigentlichen Vertreter_innen von Gezi? Welche sind eher als Trittbrettfahrer zu sehen? Und sind diese nicht dennoch auch Akteure der Vorgänge?
Die Komplexität solch rasanter gesellschaftlicher Interaktion lässt jedenfalls mehrere Betrachtungsweisen des Ganzen zu, ermöglicht verschiedene Eindrücke, die sich mit der Zeit, mit der Entfernung und der Gesinnung verändern und nur schwer gegeneinander abzuwägen sind. Dies wird auch in den Gesprächen mit den verschiedenen Akteur_innen deutlich. Ich selbst bekam zuerst über Menschen aus meinem Umfeld von den ersten Ereignissen mit, als man ausschließlich über soziale Netzwerke informiert werden konnte. Alles vermittelte den Eindruck, dass hier Leute am Werk waren, die allen Formen des Lebens Respekt entgegenbrachten und gegen ein weiteres unverschämtes Vorhaben der Regierung eintraten. Doch bereits kurz darauf unterzog ich meinen Eindruck schon einer Revision, denn ein nationalistischer Ton machte sich breit, mal offen, mal ungeschickt verdeckt oder auch unbewusst, der versuchte, das Einstehen für Gerechtigkeit und Freiheit mit einem Nationalbewusstsein zu verknüpfen. Die AKP vertrete nicht das türkische Volk. Es sei an der Zeit, dass das Volk wieder die Macht übernehme, die ihm der große Führer Atatürk damals gnädig überreicht habe. Und Ende September 2013, zu Beginn meiner Recherche-Reise für dieses Buch, änderte sich mein Eindruck erneut. Ich spürte wieder den erfrischenden Wind, dass Gutes passiert und auch weiterhin passieren kann, wenn wir die Hoffnung nicht verlieren. Ich tauchte ein in die mir nur zum Teil bekannte Welt der Menschen, die das eigentliche Rückgrat der Proteste bildeten. Diese Menschen setzen sich schon seit Jahren mehr oder weniger ungesehen für eine lebenswerte Stadt ein. Es sind Naturschützer_ innen, Menschenrechtler_innen, Journalist_innen, Künstler_innen oder all dies zusammen und noch vieles mehr, verschiedene, aber gleich gesinnte Menschen, die voneinander wissen und unter gewissen Umständen zusammenkommen.
Doch was bringt all diese Leute zusammen?
Was fühlt so ein Çapulcu?
Liebe.
Der Liebe des Volkes zur Freiheit
Hat die Revolution zugezwinkert
Gegrüßt sei der Widerstand!
Gegrüßt sei die Taksim-Kommune!
Gerühmt seien die Barrikaden!
Gerühmt sei der unverhältnismäßige Witz!
Wir sind das Volk, die Arbeiter, alle Völker, die Arbeitslosen,
die Obdachlosen, die Fans, die Erniedrigten.
Sie sind die Herrschenden, die Monopole, die Geldsäcke, die Holdings,
die Regierenden, die Imperialisten und ihre Komplizen.
Es ist wir gegen sie, jeden Tag, jederzeit, jeden Moment.
Dies ist nicht das letzte Aufeinandertreffen gewesen.
Aber am 31. Mai sind wir aufeinandergetroffen, wie es so oft passiert.
Sie wollten »die Bäume fällen, deren Schatten sie nicht verkaufen können«.
Wir sind Menschen, sie Regierende.
Die Menschen sagten:...