Kapitel I
Die Gegenwart der Vergangenheit
Mit 14 Jahren erzählte mir mein Vater empathisch von seinen Kriegserlebnissen. Sie waren spannend und ich hörte ihm gebannt zu. Er erzählte, wie er ein Stilett in den Hals bekam, als er ein Haus in Jugoslawien nach Verdächtigen durchsuchte, wie er 1944 hinter den feindlichen Linien im Nahkampf durch einen Spatenstich schwer verletzt wurde, als sie mit dem Panzer auf Hirschjagd gingen. Ich war stolz auf meinen Vater. Das war um das Jahr 1968 herum.
Nicht nur meine Eltern gehorchten dem NS-Staat, es wimmelte nur so von Nazis im Nachkriegsdeutschland. Viele hatten führende Ämter in der Bundesrepublik Deutschland inne. Das aber erfuhr man weder von den Eltern, noch in der Schule, in der ebenfalls viele Nazis jetzt Demokratie lehrten.
Es waren die 1968er Bewegungen, die an unser Ohr drangen, die das untergründige Unbehagen in der Familie, in der Schule und bei der Arbeit erklärten, entschlüsselten, herausschrieen.
Plötzlich wusste man, dass ein amtierender Ministerpräsident (Filbinger, CDU) als Marinerichter Todesurteile ausgesprochen hatte, dessen Vorgänger im Amt und späterer Bundeskanzler (Kiesinger, CDU) führender Mitarbeiter im Reichsaußenministerium war, dass viele Bosse in Politik und Wirtschaft führende Nazis waren.
Heute wissen wir, dass in fast allen Behörden, in fast allen staatlichen Institutionen über 50 Prozent des leitenden Personals ehemalige NSDAP-Mitglieder und auch SS-Angehörige waren. Besonders hoch war der Anteil in den nicht ganz neu aufgebauten Geheimdiensten (Organisation Gehlen/BND) und in der Polizei.
Das war der nationalsozialistische Untergrund derjenigen Generation, die für Deutschland die ›Stunde Null‹ ausgerufen hatte.
Und seit dem verdienstvollen Buch von Malte Herwig ›Flakhelfer – wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden‹ verstehen wir, warum alle Bundesregierungen bis in die 90er Jahre hinein alles dafür taten, dass das Archiv des Berlin Document Center/BDC das deutsche Nachkriegsgewissen nicht belastete: »Die im BDC verwahrte Mitgliederkartei der NSDAP gab fast 50 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes vertraute Namen preis, darunter drei Bundespräsidenten – Walter Scheel (FDP), Karl Carstens (CDU) und Heinrich Lübke (CDU), den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Bundestages Richard Stücklen (CSU), die Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Walter Scheel (beide FDP), Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller (SPD) und Liselotte Funcke (FDP), Kanzleramtschef Horst Ehmke (SPD), den ehemaligen Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger und viele mehr…
Man gewann den Eindruck, das Land sei in seinen frühen Jahren von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern regiert worden. Der Eindruck täuschte nicht. Allein in der Regierung Willy Brandts saßen zwölf ehemalige Nationalsozialisten.« (FR vom 22.6.2013)
An dieser Renazifizierung beteiligten sich Regierung und Opposition in großer Eintracht: »Das Desinteresse an den Dokumenten des BDC war (…) allumfassend und parteiübergreifend. Union, SPD und FDP waren sich darin einig, eine neue ›Entnazifizierung‹ um jeden Preis verhindern zu wollen.« (s.o.)
Mit Blick auf das, was noch kommen sollte: Ein nationalsozialistischer Untergrund, der mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland – für sich – die ›Stunde Null‹ ausgerufen hatte.
Ende der 70er Jahre wurde das oft unterschwellige, das nicht offensichtliche sichtbar: Es entstanden viele neofaschistische Kameradschaften, viele neonazistische Gruppierungen, deren Hauptziel die Linke war und alles, was nicht deutsch genug war. Die Zahl der rassistischen Überfälle, der bewaffneten Auseinandersetzungen wuchs.
Schließlich kam es auch zu terroristischen Aktionen, wie dem Bombenanschlag auf das Oktoberfest in München 1980. In ganz Westeuropa kam es zu solchen Anschlägen, die nur ein einziges Ziel verfolgten:
»Man musste Zivilisten angreifen, die Bevölkerung, Frauen, Kinder, Unschuldige, Unbekannte, die mit der Politik nichts zu tun hatten. Der Grund dafür war einfach. Die Anschläge sollten das italienische Volk dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten. […] Diese politische Logik liegt all den Massakern und Terroranschlägen zu Grunde, welche ohne richterliches Urteil bleiben, weil der Staat sich ja nicht selber verurteilen kann.« (Prozessaussage von Gladio- und Ordine Nuovo-Mitglied Vincenzo Vinciguerra, 1990)
Diese Strategie des Terrors war in Italien besonders furchtbar (wie der Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof in Bologna 1980, wo 85 Menschen ermordet und über 200 verletzt wurden). Das Anwachsen neofaschistischer Gruppierungen, die bewaffnet und gezielt linke Projekte angriffen, Menschen zusammenschlugen und ermordeten, die nicht ihre Hautfarbe hatten oder ihre neofaschistische Gesinnung nicht teilten, wurde zu einem (west)europaweiten Phänomen.
Das offene, das geradezu demonstrative Auftreten, das Gewährenlassen vonseiten staatlicher Stellen, das Bagatellisieren neofaschistischer Überfälle als Taten einzelner ewig Gestriger, der beständige Versuch der Regierenden, für diese Terrortaten die Linke verantwortlich zu machen, machte damals nicht nur mich stutzig.
20 Jahre später lagen die Beweise vor: Es gab in vielen Ländern Europas, besonders dort, wo die außerparlamentarische Linke stark war, eine systematische Zusammenarbeit von neonazistischen Gruppierungen mit Polizei- und Geheimdienststellen. Man bewaffnete sie, man ließ sie Depots anlegen, man besorgte ihnen Sprengstoff, man schützte sie vor Strafverfolgung, man gab ihnen Hinweise über ihre Gegner aus der parlamentarischen wie außerparlamentarischen Linken. In Italien bekamen diese staatsterroristischen Aktivitäten den Namen ›Strategie der Spannung‹.
Der Aufbau und die Bewaffnung neonazistischer Terrorgruppen war ein transnationales Unternehmen. Sie wurden von NATO-Stellen geleitet, in den jeweiligen Ländern über die Geheimdienste umgesetzt. Das Programm nannte sich ›Gladio‹ und sah vor, in Krisensituationen, in bürgerkriegsähnlichen Zuständen neofaschistische Kampfverbände hinter den Linien einzusetzen, um so einen illegalen, schmutzigen Krieg zu führen, der je nach nationalen Bedingungen auch die Liquidierung linker ParlamentarierInnen einschloss. Die Verflechtung, die Zusammenarbeit von neofaschistischen Gruppierungen und staatlichen Organen wurde damals, als dieser Verdacht aufkam, vehement zurückgewiesen. Im schlimmsten Fall sprach man von Ungereimtheiten, von tragischen Pannen – wie heute. Wer damals hingegen eine Systematik vermutete, wurde als VerschwörungstheoretikerIn lächerlich gemacht. Heute ist dieser Staatsterrorismus eine bewiesene Tatsache.
Wieder zwanzig Jahre später, wollte ich auch biografisch, familiengeschichtlich dieser Blutspur nachgehen. Die Kriegsabenteuer meines Vaters bekamen einen anderen Ton, eine andere Farbe. Ich machte mich auf, die Wehrmachtsakten meines Vaters zu studieren. Ich bekam heraus, dass er sich mit 17 Jahren freiwillig zur SS meldete, dass das, was er für Kriegsabenteuer hielt, Kriegsverbrechen waren: Er war an der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien genauso beteiligt gewesen wie an dem letzten Versuch von SS-Verbänden, noch einmal bis Budapest zu gelangen, um die begonnene Ermordung der dort lebenden Juden zu vollenden.
2012 verurteilte das Amtsgericht Dresden den Antifaschisten Tim H. zu einem Jahr und 10 Monaten Haft – ohne Bewährung. Es sah es als erwiesen an, dass Tim H. im Zuge der Gegendemonstrationen gegen einen Neonaziaufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden folgende Straftaten begangen habe: Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch und Beleidigung. Letztere soll er mit dem Wort »Nazi-Schwein« gegenüber einem Polizeibeamten begangen haben. Die beiden schweren Straftaten habe er zwar nicht selbst begangen, aber so gut wie: Mittels eines Megafons habe er andere dazu »aufgeheizt«, was den Richter zu dem Fazit führte: »Was andere getan haben, müssen Sie sich mit anrechnen lassen.«
Damit habe er sich der Mittäterschaft nach § 25, Absatz 2 StGB schuldig gemacht. Ein Paragraf, der in seinen traumwandlerischen Ausdeutungen darlegt, wie man Täter ohne Tat werden kann:
»Mittäter ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint. (…) Für eine Tatbeteiligung als Mittäter reicht ein auf der Grundlage gemeinsamen Wollens die Tatbestandserfüllung fördernder Beitrag aus, der sich auf eine Vorbereitungs- oder Unterstützungshandlung beschränken oder in einer geistigen Mitwirkung liegen kann.«...