1 | Ein Liebling der Götter?
«Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat
niemand Gewissen als der Betrachtende.»[1]
Bei seinem Tode 1935 galt Carl Duisberg, dessen Leben hier anhand seiner eigenen Hinterlassenschaft nacherzählt werden soll, als Deutschlands bedeutendster Unternehmer, ein Erfolg, der bei einem 1861 geborenen Jungen aus Wuppertaler Heimarbeitermilieu zumindest überrascht, legt man neuere Urteile über die Rekrutierung von Wirtschaftseliten zugrunde.[2] Duisbergs Leben kann als einziger Erfolgsweg gesehen werden, und er selbst wurde nicht müde, es auch so darzustellen. Ein «Liebling der Götter» sei er gewesen, ließ er zu Ende seines Lebens seinen Sohn wissen.[3] Seine bisherigen Biographen sind ihm, wenn auch nicht mit derartigen Worten, in dieser Bewertung gefolgt, die auch schon viele Zeitgenossen teilten.[4] Der erfolgreiche Unternehmer ist auch der Ausgangspunkt dieses Buches, doch interessiert hier, um es für’s erste etwas banal auszudrücken, der Mensch hinter dem Erfolg. Was bestimmte die Karriere und den Erfolg dieses «Bilderbuchunternehmers», was waren die treibenden Kräfte, wie lassen sie sich begreifen. Dabei kann es nicht um die Freilegung einer personalen Identität gehen, die allen Erfolgen gleichsam vorauslag und ihren Weg bestimmte, sondern es wird gefragt, was einen Menschen ausmacht, der so erfolgreich ist und sich allen Erschütterungen zum Trotz bis zum Tode erfolgreich behauptet. Das unterstellt gerade nicht, dass Duisberg unverändert blieb. Vielmehr ist von einer großen Wandlungsfähigkeit auszugehen, überlebte Duisberg doch tiefe politische Zäsuren und gravierende wirtschaftliche Einschnitte und schaffte es jeweils, sich wieder aufzurappeln. Das gelingt niemandem, der zur «Identität» erstarrt ist. Der Wandel ist es, der eine Biographie interessant macht.
Duisbergs Erfolge waren in der Tat beeindruckend. Mit 22 Jahren wurde er zum Doktor der Philosophie promoviert, im Fach Chemie, das seinerzeit noch zur philosophischen Fakultät gehörte. Bereits ein Jahr nach seinem Eintritt in die Elberfelder Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. 1884 machte er wichtige Farbstoffentdeckungen, die die Firma retteten und ihren Aufstieg begründeten. Mit 27 Jahren war er Prokurist, wenig später gehörte er faktisch zur Unternehmensleitung. Er war maßgeblich für den Aufbau der Chemiestadt Leverkusen verantwortlich, gehörte seit 1900 zum Vorstand des Unternehmens, dessen alleiniger Generaldirektor er 1912 wurde. Die Gründung der Vorläufervereinigung und später der I.G. Farbenindustrie AG war vor allem sein Werk. Vor dem Krieg war er bereits Träger hoher Auszeichnungen und Mitglied der guten Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches – und er genoss Ruhm, Stellung und das Leben, das ihm so möglich wurde. Mit dem Krieg zerbrach diese Welt, auch wenn Duisberg sich nach Kräften mühte, zumindest die Möglichkeit ihrer Wiederkehr zu erhalten. Dazu gehörte auch die endgültige Gründung der I.G. Farbenindustrie AG (1916/1925), die aber zugleich das Ende seiner aktiven Unternehmerlaufbahn bedeutete. 1925 zog er sich aus der Unternehmensleitung zurück – er wurde allerdings Aufsichtsratsvorsitzender – und übernahm stattdessen den Vorsitz des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI), dem er bis 1931 präsidierte. Zahlreiche Ehrenämter, aber auch wichtige Funktionen in der Wissenschafts- und Studienförderung kamen in den 1920er Jahren hinzu, bis schließlich sein 70. Geburtstag das Signal zum Rückzug gab. Duisberg starb 1935 im Alter von 74 Jahren und wurde in Leverkusen auf dem Werksgelände beigesetzt.
Als sich Johannes Walther, Hallenser Geologe und seit der gemeinsamen Studienzeit in Jena enger Freund von Carl Duisberg, im Herbst 1893 durch ein Buchmanuskript quälte und nicht recht vorankam, gab ihm Carl Duisberg den Rat: «Schneidig zugegriffen und geschrieben, dann geht die Sache schon».[5] Ob er dieselbe Empfehlung gegeben hätte zu einem Text, der sein eigenes Leben behandelt? Wahrscheinlich schon, denn Duisberg liebte es, Probleme auf «schneidige» Weise zu lösen oder zumindest so von ihnen zu reden. Aber gerade in seinem eigenen Fall hätte er die paradoxe Erfahrung gemacht, dass sich ein «schneidiges» Leben zuweilen gar nicht «schneidig» erfassen lässt, was er wohl ahnte: «Im übrigen wird es nicht ganz so einfach …, aus der riesigen Fülle eines über 50 Jahre aufgestapelten Aktenmaterials, sowie meiner umfangreichen Autographen- und sonstigen Sammlungen das Wesentliche herauszuholen.»[6] Duisberg war von seiner eigenen Bedeutung schon frühzeitig derart überzeugt, dass er sie dokumentiert sehen wollte. Quellenmangel gibt es in seinem Fall daher nicht. Der Historiker auf den Spuren von Carl Duisberg findet sich vor einer überbordenden Quellenmenge wieder, durch die er hindurch muss. Allein im Bayer-Archiv in Leverkusen finden sich zahllose Schreiben von Carl Duisberg aus den frühen 1880er Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1935. Sie sind nie gezählt worden; die Umfangsschätzungen liegen aber zwischen 25.000 und 35.000 Stück.[7] Zu diesen Briefen kommen die Sachakten aus seiner Tätigkeit als Chemiker, Prokurist, Direktor, Vorstandsmitglied und Generaldirektor der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. hinzu, die mehrere hundert Bände umfassen und vor allem die Zeit seiner aktiven Unternehmensführung zwischen den 1890er und den 1920er Jahren dokumentieren. Des weiteren sind die umfangreichen Reden und Schriften erhalten; die wichtigsten von ihnen wurden bereits 1922 und 1933 von den Farbenfabriken in repräsentativen Bänden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.[8] Schließlich enthält das Bayer-Archiv eine Fülle an weiterem Sammlungsgut, insbesondere Zeitungsausschnitte, Photographien, Urkunden und Druckschriften, dann aber auch Sachgegenstände wie Reiseapotheken, Pharmazeutika, Medaillen und Skulpturen. Alles in allem ist der ältere Archivbestand in Leverkusen im Grunde eine umfassende Dokumentation von Duisbergs Leben und, da Duisberg eine wichtige Figur der Unternehmens- und Zeitgeschichte überhaupt war, auch ein wichtiger Quellenbestand für die deutsche Geschichte. So umfangreich die Bestände in Leverkusen sind, so gering fallen sie erstaunlicherweise in anderen Archiven aus. Duisbergs Leverkusener Omnipräsenz findet keinen Niederschlag in den staatlichen oder den Überlieferungen anderer Privatarchive. Hier sind Hinweise auf ihn eher selten, in den Korrespondenzen und Erinnerungen seiner Zeitgenossen wird Duisberg zumeist nur am Rande erwähnt, wenn überhaupt. Die Fülle der Leverkusener Überlieferung ist daher auch nicht unbedingt ein guter Gradmesser seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung. Diese wird durch die akribische Dokumentation seines Lebens eher überzeichnet.
Das Archiv und seine Bestände sind daher selbst Ausdruck der «heroischen» Phase der Unternehmensgeschichte der Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., in der Carl Duisberg eine Schlüsselrolle spielte. Diese Rolle spielte er nicht zuletzt auch als Schreiber von Denkschriften, Organisationsschemata, Reden und Vorträgen und eben von Briefen.[9] Duisberg bezeichnete sich selbst zwar als «schreibfaul», und in der Tat sind von ihm nicht sonderlich viele handschriftliche Briefe überliefert. Seit den frühen 1890er Jahren aber konnte er seine Geschäftsbriefe diktieren. Da die Geschäftsleitung zugleich verwandtschaftlich verbunden war, entstanden so in immer dichterer Folge Diktate Duisbergs zur Lage der Firma und zum Wohlbefinden der Familie. Je bedeutender seine Stellung im Unternehmen wurde, umso mehr konnte er diktieren, bis schließlich seine ganze Korrespondenz von seinem Büro mit mehreren Abteilungen und entsprechenden Mitarbeitern abgewickelt wurde, das ein Privatsekretär leitete.[10] Im Regelfall diktierte Duisberg pro Tag mehrere Stunden lang wechselnden Stenographen Briefe und arbeitete auf diese Weise die vorgelegte Post ab.[11] Auf Reisen ließ er die Postmappen durch den langjährigen Privatsekretär Carl Wichelhaus hinterherbringen und nutzte dann die Infrastruktur der großen Hotels, um den gewohnten Postverkehr aufrechterhalten zu können. Nach den Erinnerungen von Otto Meesmann, der eine Zeit lang im RDI-Büro Duisbergs gearbeitet hatte, begann «die Arbeit … – auch an den Sonn- und Feiertagen – mit der Durchsicht der eingegangenen Post, die ihm geschlossen vorgelegt wurde....