Tief verwurzelt
In Vancouver heiratet ein grauhaariger, leicht übergewichtiger Mann eine blonde Schönheit. Sie ist eine kluge Frau, die Stadt ist ihre Heimat – und sie hat es geschafft, ihren Verlobten für das Leben und Treiben zu Füßen der Rocky Mountains zu begeistern.
Mariann Barenna McClay ist Ehefrau Nummer zwei des Mannes. Seine Tochter Katia hat er schon unter die Haube gebracht, der Sohn Davide geht seinen Weg im Beruf. Der Mann fühlt sich prächtig und mitten im Leben, das kann jeder sehen. Lässig hält er das Schampusglas in der Linken und macht sich grienend am Ringfinger seiner frisch Angetrauten zu schaffen.
Für Fotografen und Kameraleute gibt es ein virtuelles Schild: Wir müssen draußen bleiben. Trotzdem kommt das Foto vom fingernden Bräutigam in die Öffentlichkeit. Und obwohl die Feier im ganz kleinen Kreis stattfindet, werden Details bekannt.
Am 8. Juli des Jahres 2014 steht der Mann plötzlich im Fokus der Glamour-Berichterstattung seiner Heimat – etwas, das er nie angestrebt hat.
Schlagzeile: »Carlo Ancelotti hat geheiratet!« Die Reporterin von »Vanity Fair« gerät ganz außer sich, weil sie von so einer herrlichen Hochzeit berichten darf. Der Bräutigam sagt, so hört man (vielleicht lockert ihm da der Schaumwein schon die Zunge eines »pathetischen Italieners«): »Wir sind so glücklich, dass wir nun unser Leben mit gemeinsamen Farben schmücken dürfen.« Apropos Farben: Via Facebook bedankt sich das Paar für ein besonderes Hochzeitsgeschenk des Künstlers Lorenzo Quinn, Sohn der Filmlegende Anthony Quinn, der die Fingerabdrücke in den Lieblingsfarben der beiden gemalt hat.
Die beglückte Journalistin überlässt sich dann gänzlich den Emotionen:
Die Hochzeit des Carlo Ancelotti ist ein weiteres gesellschaftliches Highlight nach den Eheschließungen von Laura Chiatti, Jessica Simpson und dem Prinzen Amadeo von Belgien.«1
Wow! Jetzt wird Carlo Ancelotti, der beinharte Verteidiger, der schüchterne Bauernbub aus Reggiolo, auch noch von »Vanity Fair« geadelt. Wer hätte das gedacht!
Die Kamera fährt in den menschenleeren Straßen des lichtdurchfluteten Brescello spazieren, wir folgen ihr aufs Land und über die Äcker und die weiten flachen Felder vor dem großen Fluss. »Eine kleine Welt. Ein Landstädtchen, irgendwo in Norditalien. [...] in der klaren Helle bewahren selbst die ärgsten Konflikte noch einen Hauch von Liebenswürdigkeit. Man zankt sich, man schlägt sich – aber man bleibt Mensch. Und so können hier Dinge passieren, die nirgendwo sonst in der Welt möglich sind.«2
So beginnt eine Reihe von Verfilmungen der herrlichen Erzählungen eines eigenwilligen Satirikers, Karikaturisten und Widerborstigen aus der Region. Giovannino Guareschi hat mit »Don Camillo und Peppone« Weltliteratur geschrieben. Es geht um einen erzkatholischen Pfarrer und seinen kommunistischen Widersacher – der eine Pfaffe, der andere Bürgermeister –, die sich schlagen und vertragen. Sie können nicht miteinander – und ohne einander geht es erst recht nicht. Zwischendrin hält Don Camillo auch gern mal einen Schnack mit dem geduldig-freundlichen Jesus am Kreuz.
Das Miteinander ist fromm und eigensinnig, dickschädelig und sehr menschlich. Es wird gevöllt und gezecht, gelacht und geweint, geliebt, gelebt, gestorben – und am Lagerfeuer werden dann die dicken Friedens-Zigarren geraucht. Manchmal steigen die Gegner auch in einen Boxring oder spielen Fußball auf der Wiese.
Das ist ein Abziehbild der Heimat des Carlo Ancelotti. Und so ist es auch kein Wunder, dass er – da ist er schon ein Fußballstar – eine Nebenrolle an der Seite von Terence Hill in einem Klamauk-Streifen mit dem Titel »Don Camillo haut auf die Pauke« bekommt.
Da nietet der kurz behoste, dünne Carletto alles nieder, was fremde Trikots trägt. Das reicht locker für ein Dutzend Platzverweise.
Aber zurück in die Entstehungszeit der »Camillo«-Streifen: In dieser Welt wird am 10. Juni 1959 in Reggiolo – gar nicht weit von Brescello – Carlo Ancelotti geboren.
Er wird aus seiner Kindheit und Jugend nie viel öffentlich machen. Privates bleibt bei Ancelotti privat. Erstaunlicherweise öffnet sich der Italiener am bereitwilligsten, als er im »Exil« Chelsea London trainiert. Da erzählt er schon mal in lockerer Runde und mit einem Anflug von Heimweh nach dem Training, wie das damals gewesen ist.
Die Wurzeln stecken tief in emilianischer Erde. Ancelottis Vater war Bauer, er kann sich an den Mann eigentlich nur als harten Hand-Arbeiter erinnern. Vater Ancelotti, die Nachbarn, die Menschen aus den Dörfern ringsum waren gefangen in einem Hamsterrad der Pflichten. Morgens in den Stall, das Vieh versorgen, ausmisten. Zwischendurch ein kleines Frühstück, dann weiter in der »Mühle«: die Felder bestellen, am Parmigiano werken, schlachten, das Schweinerne verwursten, Abendarbeit im Stall, zwei Glas Wein und ein Blick in die Lokalzeitung. Bett. Am nächsten Morgen das gleiche Programm. Wieder und wieder – und keinen Tag Urlaub. Zweimal Melken pro Tag, die Hühner versorgen (»die größten hat dann immer der Landeigner bekommen«), den Garten machen, das Werkzeug in Ordnung halten.
»Als ich ein kleiner Junge war, lebten wir mit vier oder fünf Familien zusammen. Man bewohnte unterschiedliche Häuser, bewirtschaftete aber gemeinsames Land.«3 Die Erwachsenen hätten sich vor allem die Hände schrundig und die Rücken krumm gearbeitet. »Aber es gab auch Freudentage. Das Erntedankfest, ach das war so eine wundervolle Party auf dem Lande.«4
Diese immerwährende Arbeit! Wie soll ein Junge das nachvollziehen? Warum soll er sich auch groß Gedanken darüber machen. Carlo entdeckt, dass zu den Freuden des Alltags eben auch das Hinter-einem-Ball-herjagen gehört. Und er spürt, dass er dabei erfüllende Erfolgserlebnisse hat. Er kann einfach gut kicken.
Sein Vater ließ ihn machen. Er habe sich nie beschwert.
Ja, das weiß der heute fast 60-Jährige Carlo Ancelotti: Seinen Charakter hat er vom Papa, einem ruhigen Menschen mit einem so völlig anderen Leben. »Und trotzdem gibt es so viele Ähnlichkeiten.«
Im Grunde genommen hat der Trainer Ancelotti einiges mit einem guten Bauern gemein. Der versorgt das Vieh und die Äcker, er melkt, macht Käse und Schinken, er erntet. Dafür bekommt er seine Euro.
Der Trainer kümmert sich um die Spieler, und er bereitet das nächste Match vor. Er tüftelt eine Strategie aus und fährt Siege ein.
Säen und ernten, das ist es. »Es sind die Tugenden meines Vaters, die einen Sieger ausmachen. Freundlichkeit. Optimismus. Gelassenheit. Wille. Ausdauer.« 5
Carlo Ancelotti liebt die Lieder des Adriano Celentano.
Der Italo-Sänger wird 1938 in Mailand geboren. Seine Eltern waren kurz vor der Geburt des Sohnes aus dem armen italienischen Süden in die Region gezogen, um dort Arbeit zu finden. Adriano Celentano wächst zu einer Zeit auf, in der mit Stars wie Elvis Presley erstmals der Rock’n’Roll in die Haushalte gelangt.
Was Ancelotti an dem Sänger mag, ist wohl vor allem dessen »italienische« Lebeneinstellung: Der ragazzo lässt sich nicht unterkriegen. Uhrmacherlehre nach wenigen Schuljahren – dann spürt Adriano diesen Ehrgeiz, nach oben zu kommen. Spindeldürr und alles andere als ein mediterraner Schönling, rackert er als Komiker und Imitator mit Knautschgesicht und Fernandel-Lächeln (Fernandel ist übrigens der klassische »Don Camillo«-Darsteller).
Celentano hat keine Chance. Aber er wird zum Star.
Carlo Ancelotti liebt Filme, in denen Al Pacino vor der Kamera steht.
Al Pacino, geboren in Manhattan, ist der Sohn von Salvatore Pacino, geboren in der sizilianischen Stadt Corleone, und von Rose Gerard, der Tochter eines italienischen Einwanderers und einer italienisch-amerikanischen Mutter, die in New York geboren wurde.
Seine Eltern lassen sich scheiden, als er zwei Jahre alt ist. Danach ziehen Al und seine Mutter in die Bronx, Pacino wächst bei seinen sizilianischen Großeltern auf, die aus der Heimatstadt seines Vaters eingewandert sind.
Schon mit zehn will er raus. Raus aus der Bronx. Er verdient Geld als Platzanweiser im Kino. Nimmt jeden Job und jede Wette an.
Pacino ist ein Underdog ohne Zukunft. Doch er wird es bis nach Hollywood bringen. Und noch weiter.
Carlo Ancelotti könnte Mario Puzos »Der Pate« wieder und wieder lesen und sehen. In diesem Stoff verliert er sich. Was für ein Könner, dieser Puzo!
Der Schriftsteller Mario Gianluigi Puzo wird als Sohn von Eltern italienischer Abstammung am 15. Oktober 1920 in New York City geboren und wächst im Stadtteil Little Italy auf. Little Italy, das ist Bandenkrieg und der Schauplatz vieler Szenen aus dem »Paten«. Das ist die Heimat des Robert...