1. Unerwartetes
Wer den jiddischen Wörtern im Deutschen nachspüren will, muß sie in der Fülle des deutschen Wortschatzes erst einmal auffinden. Das ist nicht mehr so leicht wie früher, als das Wissen um diese Ausdrücke weit verbreitet war und sie von Juden und Christen gebraucht wurden. Bei deutschen Juden gehörten sie zum sprachlichen Erbe. Kindern, die sich ihrer jüdischen Herkunft kaum bewußt waren, erschienen sie als Familienwörter, die nicht einmal das Personal verstand.[1] Mit ihnen konnte man eine Aussage besonders betonen, aber auch die Verwandtschaft provozieren wie mit dirty words.[2] Manche Juden schämten sich dieser Wörter und suchten sie deshalb konsequent zu vermeiden.[3] Andererseits ließen sie sich zu mancherlei Zwecken einsetzen, von der internen Kommunikation bis zu besonderen Effekten in der öffentlichen Rede oder in der Presse.[4] Vor allem aber durfte man sich durch Kenntnis und Verwendung dieser Ausdrücke dem Judentum zugehörig fühlen, selbst wenn man sie wie Karl Kraus für »Ekelworte« hielt.[5]
Bereits mit einem einzigen Wort ließ sich das Jüdische im ganzen aufrufen. Stefan Zweig wählte daher in seinem Lebensrückblick »Die Welt von Gestern« mit Golus anstelle von Exil oder Diaspora einen jüdischen Ausdruck, der für Juden mit der Konnotation einer zweitausendjährigen Leidensgeschichte besetzt ist und den Wissenden im Jahr 1941 die Situation des jüdischen Volkes eindringlich vor Augen führte.[6] Er wird von Stefan Zweig in seiner Autobiographie nicht erklärt, dürfte aber heute kaum noch verstanden, geschweige denn in seinem vollen geschichtlichen, religiösen und kulturellen Gehalt gewürdigt werden.[7]
Daß Wörter aus dem Jiddischen, die von Juden in ihrer Alltagsrede verwendet wurden, mehr zur Sprache brachten, als es der Sonderwortschatz einer kleinen Bevölkerungsgruppe sonst vermocht hätte, war schon jüdischen Kindern klar. Ludwig Greve schreibt dazu in seinen Erinnerungen an die Kindheit: »Allemal schien es sich um so verwickelte Zustände zu handeln, daß die normalen Wörter nicht griffen. Vor den Gojim, das versteht sich, wurde nie so geredet, da genügte die Alltagssprache.«[8] Die Gojim waren in der jüdischen Ausdrucksweise die Nichtjuden, von denen man sich durch Herkunft und Schicksal, aber auch durch den Sonderwortschatz unterschied.
Das spiegelt sich auch in einer Anekdote, die Hans Ostwald 1928 noch einmal neu erzählt hat. Auf die Frage, ob sie sogenannte jüdische Ausdrücke noch kenne, antwortet eine assimilierte Jüdin: »Gar nicht, höchstens noch nebbich und melancholisch.«[9] Mit dieser Antwort wird darauf angespielt, daß die deutschen Juden den jüdischen Wortschatz am Ende der Weimarer Republik öffentlich kaum noch gebrauchten und ihn auch im privaten Verkehr mehr und mehr vermieden. Angesichts des wachsenden Antisemitismus gibt melancholisch die Stimmung unter den Juden so treffend wieder, daß es als jüdischer Ausdruck angesehen wird. Und schließlich vermag die Frau nicht zwischen eigentlich jüdischen Ausdrücken wie nebbich[10] und anderen Wörtern zu unterscheiden.
Christen war der jüdische Wortschatz weithin auch deshalb ein Buch mit sieben Siegeln, weil sie seine Bestandteile manchmal gar nicht als jüdisch erkannten. Das ist heute noch mehr der Fall, weil selbst Gebildete ein Wort wie Mauscheln nicht mit dem jidd. Personennamen Mausche ›Moses‹ in Verbindung bringen und deshalb die jahrhundertelange Geschichte dieses Wortes in der deutschen Sprache nicht angemessen beurteilen können.[11] Sonst wäre man nach 1945 mit der Wiederbelebung eines tabuisierten Ausdrucks vielleicht sensibler umgegangen. Ein Wort wie Zoff, das heute in aller Munde ist, wird eher der für Comics typischen Lautmalerei zugerechnet als aus dem Jiddischen hergeleitet.[12]
Pseudolateinisches
Golus Bei Wörtern wie Bonum, Golus, Mores oder stikum denkt mancher vielleicht zunächst an eine Herkunft aus dem Lateinischen, wie es die Endungen nahelegen. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Maskierung der Ausdrücke, sondern um Lautformen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben. Golus ›Exil‹ ist eine jidd. Form des sephard. hebr. galut, das wörtl. ›Wegführung ins Exil‹ bedeutet und auch die Exilanten bezeichnet. Von den Veränderungen, die das Wort auf dem Weg vom Hebräischen ins Jiddische erfahren hat, sind der Vokalwechsel a > o und der Konsonantenwechsel th > s in der Umschrift mit Lateinbuchstaben ausgedrückt. Die germanische Akzentverlagerung von der Endsilbe auf die Stammsilbe muß man sich hinzudenken. Als Stefan Zweig das Wort 1941 niederschrieb, war die Lautform Golus schon veraltet und mußte als traditionell gelten. Statt dessen wurde bereits im 19. Jh. die Form Goles verwendet, wie es dem gesprochenen Jiddisch entspricht. Ob der Autor, der im ganzen Buch sonst kein Wort jidd. Herkunft gebraucht, den Ausdruck bewußt in einer Form benutzte, die auch für lateinisch gehalten werden kann, muß offenbleiben.
Bonum Daß es sich bei der scheinbaren Latinisierung der Wortendung nicht um eine bewußte Verschleierung der Herkunft handelt, sondern um einen Vorgang, in dem sich die geschichtliche Entwicklung des Wortes zeigt, verdeutlicht das Beispiel Bonum ›Gesicht‹. Aus sephard. hebr. paním wird jidd. pónim, púnim, mit Abschwächung des Vokals ponem, punem. Als Ponem ›Gesicht, Aussehen‹ wird das Wort von deutschen Juden verwendet, immer mit einem p im Anlaut.[13] In den deutschen Mundarten ist es dagegen unter den Einfluß einer deutschen Konsonantenveränderung geraten und wird meist Bonem, Bunem ausgesprochen, in einigen Mundarten auch Bonum.[14] In Frankfurt am Main sagte man: Der mecht e bees Bonum ›macht ein böses Gesicht‹ und mach doch so kein mieß Bonum.[15]
Diese Lautform ließ einen Sprachforscher im 19. Jh. an frz. bonne mine ›gute Miene‹ denken.[16] Das war zu einer Zeit, als die Wissenschaft die jidd. Wörter in der deutschen Sprache noch nicht systematisch beobachtet hatte. Sonst hätte man schon gewußt, daß Ponem bei deutschen Juden zumindest in Zusammensetzungen wie Chutzpeponem ›freche Person‹[17] oder Schlamasselponem ›Pechvogel‹[18] metonymisch nicht das Gesicht, sondern den ganzen Menschen meint.
stikum Stikum und Mores sind zwei weitere Beispiele dafür, daß ein jidd. Wort wie ein lateinisches erscheinen kann. Während stikum wegen seiner Endung pseudolateinisch wirkt, ist Mores ein lat. Wort, dem allerdings ein lautgleicher jidd. Ausdruck zur Seite steht. Stikum ›stille‹ gehört zu jidd. schtiko ›Stillschweigen, Ruhen, ruhiges Verhalten‹ und wird im Rotwelschen, der historischen deutschen Gaunersprache, erstmals 1755 bezeugt.[19] Hier wie in den deutschen Mundarten zeigen verschiedene Lautformen von schtike über stieke und stigem bis zu stekkum und stikum,[20] daß das scheinbar lat. Wort nur eine Spielart des Ausdrucks unter mehreren ist. Eher zufällig ist die Form stiekum ›ganz heimlich, leise‹ als Wort der deutschen Umgangssprache festgeschrieben worden, das nun auch in der Presse und der Literatur seinen Platz gefunden hat.[21]
Mores Mores ›Sitten, Anstand‹, Mehrzahl von lat. mos, moris ›Sitte, Gebrauch‹, ist als Fachwort der mittelalterlichen Schulsprache ins Deutsche gekommen.[22] Das lat. Wort ist in der Wendung Mores lehren ›jemanden zurechtweisen‹ seit dem 16. Jh. gebräuchlich; Mores lernen sagte man in der Verkehrssprache bis zum Ende des 18. Jh.s. Die teils rotwelschen, teils mundartlichen Fügungen Mores haben, führen und kriegen, die ›Angst haben‹ bedeuten, haben mit dem lat. Wort nichts zu tun.[23] Dieses Mores geht auf den Plural des jidd. more ›Furcht‹ zurück, das westjidd. auch maure, ostjidd. mojre lautet. Studentensprachlich war die Wendung More haben ›Furcht haben‹, in der der Singular des jidd. Wortes erscheint.[24] In Frankfurt am Main ging Mores lernen nicht auf das lateinische, sondern auf das lautgleiche jidd. Wort mores zurück und bedeutete ›Angst einjagen‹.[25] Dort wurden das lat. und das jidd. Wort im Ausdruck Mores machen ›Reverenz erweisen, klein beigeben‹ miteinander verbunden.[26] Jud, mach Mores war eine derbe Aufforderung christlicher Burschen an Juden, den Hut zu ziehen. Wenn sie nicht befolgt wurde, war eine Tracht Prügel fällig. Das erklärt, warum hier im lat. Mores ›Anstand‹ eine gehörige Portion des jidd. Mores ›Angst‹ mitschwingt.
Rückentlehnungen
Am wenigsten an das Jiddische denkt man gewiß bei Wörtern, die aus...