Vorwort
Neue Entwicklungen in der Psychotherapie – insbesondere innerhalb der Kognitiven Verhaltenstherapie – betonen, wie zentral die Validierung unseres Erlebens und das Erlernen von Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Mitgefühl und Akzeptanz für unsere Gesundheit ist. Wie kommt das? Studienergebnisse zeigen uns immer deutlicher, welche transdiagnostischen und universellen Mechanismen uns psychisch krank machen, welche unserer psychischen Gesundheit zuträglich sind und welche Mechanismen in der Psychotherapie eine schulübergreifende Wirkung zeigen (Schanche et al., 2011).
Ein wegweisendes Forschungsergebnis ist, dass unser ganzer Organismus sich am optimalsten entwickeln kann, wenn wir uns geborgen und geliebt fühlen (Gerhardt, 2006). Mit der Evolution der Säugetiere und der benötigten Brutpflege bedurfte es eines neuen psychophysiologischen Systems, welches das Geben und Empfangen von Fürsorge und Zuwendung ermöglichte. Diese Fürsorgementalität ist maßgeblich an der Fähigkeit, unsere Gefühle zu regulieren, beteiligt. Wir bedürfen eines Gefühls von sozialer Geborgenheit, Zugehörigkeit und Verbundenheit, damit unser Organismus zur Ruhe kommen und sich regenerieren kann. Wir sind also darauf angelegt, Kontakt mit anderen zu suchen, uns auszutauschen, anzuvertrauen und uns ineinander einzufühlen, Freude und Leid zu teilen und damit soziale und emotionale Unterstützung zu erleben. Nur wenn wir uns sicher genug fühlen, um uns fallen zu lassen und somit den Kampf-, Flucht- oder Erstarrungszustand zu verlassen, können wir zum Beispiel unsere Trauer zeigen und weinen, was erleichternd und regulierend auf uns wirkt. Wenn wir weiterhin Bedrohungen erleben oder wahrnehmen und es keine Zuflucht in eine sichere und gütige Beziehung – zu anderen oder zu uns selbst – gibt, dann verharren wir in einem Bedrohungszustand, und es kann keine heilsame Regulierung stattfinden.
Psychotherapeutische Methoden – insbesondere in der Kognitiven Verhaltenstherapie – haben sich bisher vorwiegend auf unser Antriebssystem (zum Beispiel durch Aktivierung) und unser Bedrohungssystem (zum Beispiel durch Exposition) fokussiert. Dabei wurde der grundlegenden Funktion des sogenannten Besänftigungs- und Affiliationssystems in der Entwicklung von psychologischen Kompetenzen wie Emotionsregulation, Mentalisierungs- und Empathiefähigkeit und Bindungs- und Beziehungsfähigkeit nur wenig Beachtung geschenkt.
Paul Gilbert und Kollegen entwickelten den Ansatz der Compassion Focused Therapy in der Arbeit mit Patienten, die an schweren psychischen Störungen litten und oft traumatische Erfahrung in der Kindheit durchlebt haben. Bei Menschen, die nur wenig Zuwendung, Einfühlung und Geborgenheit erfahren haben, treten vermehrt psychische Erkrankungen auf. Paul Gilbert beobachtete in seiner psychotherapeutischen Arbeit, dass das Erleben dieser Menschen oft von starker Scham und Selbsthass geprägt war. Diese Patienten versuchten ihre negativen Gefühle von Nichtgewollt- und Ausgegrenztsein durch Selbstverurteilung zu regulieren, was die Beschwerden üblicherweise verschlimmerte. Das Besänftigungs- und Affiliationssystem war in diesen Fällen meist unterentwickelt. Ziel der Compassion Focused Therapy ist es, dieses Hauptemotionsregulationssystem wieder durch die Kultivierung von Mitgefühl mit uns und anderen zu aktivieren. Die Aktivierung dieses Systems kann jedoch starke Ängste und Widerstände gegenüber positiven affiliativen Gefühlen wie Freude, Liebe und Güte hervorrufen. Aufgrund von früher Konditionierung können zum Beispiel das Erleben von Freude mit Bestrafung oder Verlust oder das Wohlwollen von anderen mit Missbrauch assoziiert sein. CFT setzt an diesen Ängsten an und hilft, diese Widerstände stufenweise zu überwinden, um Patienten einen sicheren Zugang zu dieser inneren Ressource des festverdrahteten Besänftigungs-und Affiliationssystems zu ermöglichen.
Paul Gilbert führt in diesem Buch die Erkenntnisse aus der Evolutions-, Sozial- und Entwicklungspsychologie sowie der Neurowissenschaft und aus mehr als 30 Jahren klinischer Forschung und Psychotherapiepraxis, worauf das theoretische Modell der CFT basiert, zusammen. Er schafft es, komplexe Prozesse in ein leicht verständliches Erklärungsmodell und leicht umsetzbare Interventionen zu übersetzen, die Patienten in Studien durchweg als hilfreich und entlastend erlebt haben.
Seit der 1. Auflage dieses Buches (auf dem englischsprachigen Markt) im Jahr 2010 ist die Anzahl der veröffentlichten Studien über Mitgefühl und mitgefühlsbasierte Ansätze rasant angestiegen. Die Forschung zeigt deutlich, dass erhöhtes Mitgefühl mit uns selbst mit geringerem Stress, einer Abnahme von Angst und Depression (MacBeth & Gumley, 2012) sowie besserem Gesundheitsverhalten, Resilienz und zufriedeneren Beziehungen einhergeht (Neff, 2012). Die Wirksamkeit von Mitgefühlstraining mit nichtklinischen Gruppen zeigt sich durch positive Auswirkungen auf unser „empathisches“ Gehirn, Immunsystem, psychisches Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Sozialverhalten. CFT konzentriert sich als bisher einziger Ansatz auf die Anwendung von Mitgefühl bei komplexen, schambasierten psychischen Störungen. Die Evidenz für das theoretische Modell der CFT nimmt zu (Hutton et al., 2012; Kelly & Carter, 2012; Matos, Pinto-Gouveia & Gilbert, 2012). Eine wachsende Anzahl experimenteller, unkontrollierter und kontrollierter Studien zeigt, dass CFT ein hilfreicher Ansatz ist, der zu signifikanten Verbesserungen führt und die bisherigen KVT-Verfahren zu ergänzen scheint. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen berichteten nach 16 Sitzungen CFT-Gruppentherapie, dass Scham, Selbsthass und Depression abgenommen und sich ihr Wohlbefinden, Selbstberuhigung und Arbeitsfähigkeit verbessert haben (Lucre & Corten, 2012). Das Training des mitfühlenden Denkens bewirkte eine Verbesserung des Selbstmitgefühls im Rahmen des KVT-Ansatzes bei Traumata (Beaumont, Galpin & Jenkins, 2012) und zeigte auch Wirksamkeit bei der Behandlung nach Hirnläsionen (Ashworth, Gracey & Gilbert, 2011). Die Integration von CFT in ein KVT-Behandlungsprogramm bei Essstörungen führte zum Rückgang der Symptome, insbesondere bei Bulimie (Gale, Gilbert, Read & Goss, 2012). Die erste randomisierte kontrollierte Studie zur Gruppen-CFT zeigte stärkere klinischen Verbesserungen (65 %) im Vergleich zur Standardbehandlung (5 %) bei Psychose. Nur in der CFT-Bedingung erlebten Teilnehmer eine Zunahme von Mitgefühl, die mit einem verminderten Gefühl des Ausgegrenztseins und der Depression einherging (Braehler et al., 2012).
CFT ist ein schulübergreifender und integrativer Ansatz. Sie kann sowohl als eigenständige Therapieform angewendet werden als auch in Form eines „affiliativen Blickwinkels“ in die therapeutische Arbeit mit integriert werden. Paul Gilbert zeigt auf, dass Psychotherapie meist nur „greift“, wenn wir direkt mit dem affiliativen System des Patienten arbeiten. Dieses Buch ist somit eine Einladung an Psychotherapeuten verschiedenster Ausrichtungen, das Besänftigungs- und Affiliationssystem sowohl in der therapeutischen Beziehung, im Krankheitsverständnis als auch in direkten Interventionen mit zu berücksichtigen und zu stärken.
München, im Frühjahr 2013
Christine Brähler
Psychologische Psychotherapeutin,
hat ihre Ausbildung in der CFT
bei Paul Gilbert absolviert.
Verwendete Literatur
Ashworth, F., Gracey, F. & Gilbert, P. (2011). Compassion focused therapy after traumatic brain injury: Theoretical foundations and a case illustration. Brain Impairment, 12(2), 128-139.
Beaumont, E., Galpin, A. & Jenkins, P. (2012). Being kinder to myself: A prospective comparative study, exploring post-trauma therapy outcome measures for two groups of clients, receiving either Cognitive Behaviour Therapy or Cognitive Behaviour Therapy and Compassionate Mind Training. Counselling Psychology Review, 27(1), 31-43.
Braehler, C., Gumley, A., Harper, J., Wallace, S., Norrie, J. & Gilbert, P. (2012). Exploring change processes in compassion focused therapy in psychosis: Results of a feasibility randomized controlled trial. British Journal of Clinical Psychology, n/a-n/a. 10.1111/bjc.12009.
Gale, C., Gilbert, P., Read, N. & Goss, K. (2012). An Evaluation of the Impact of Introducing Compassion Focused Therapy to a Standard Treatment Programme for People with Eating Disorders. Clinical Psychology & Psychotherapy, n/a-n/a. 10.1002/cpp.1806.
Gerhardt, S. (2006). Why love matters: How affection shapes a baby’s brain. Infant Observation, 9(3), 305-309.
Hutton, P., Kelly, J., Lowens, I., Taylor, P. J. & Tai, S. (2012). Self-attacking and self-reassurance in persecutory delusions: A comparison of healthy, depressed and paranoid individuals. Psychiatry Research(0). 10.1016/j.psychres.2012.08.010.
Kelly, A. C. & Carter, J. C. (2012). Why self-critical patients present with more severe eating disorder pathology: The mediating role of shame. British Journal of Clinical Psychology, n/a-n/a. 10.1111/bjc.12006.
Lucre, K. M. & Corten, N. (2012). An exploration of group compassion-focused therapy for personality disorder. Psychology and Psychotherapy: Theory, Research and Practice, no-no. 10.1111/j.2044-8341.2012.02068.x.
MacBeth, A. & Gumley, A. (2012). Exploring compassion: A meta-analysis of the association between...