2. Sabbat
„When we live without listening to the timing of things, when we live and work in twenty-four-hour shifts without rest – we are on war time, mobilized for battle.”
(Wayne Muller12)
Wenn wir aktiv sind, werden wir als ambitioniert, fleißig oder sogar schlichtweg als normal angesehen. Nichts zu tun hat keinen großen Stellenwert oder gilt als faulenzen. Für viele von uns ist Erholung zu einem „notwendigen Übel“ geworden – etwas, das wir tun „müssen“, um leistungsfähig zu bleiben.
Bereits das Wort „faul“ ist moralisch aufgeladen, da wir in unserer Kultur Aktivität und Leistung wertschätzen und sehr hoch bewerten. Jemanden faul zu nennen ruft beim Gegenüber häufig Rechtfertigungen hervor, weil es in den meisten Köpfen bedeutet, man mache etwas schlecht oder falsch. Umgekehrt haben die Worte aktiv oder ambitioniert (zumindest in den meisten Kontexten) eine positive Konnotation.
Möchten wir in Dankbarkeit leben, ist es wertvoll, Momente der Erholung, der Achtsamkeit und Kontemplation in unseren Alltag zu integrieren. In seinem Buch „Sabbath“ bezeichnet Wayne Muller den Sabbat als einen „Zeitschutzraum“ und argumentiert, dass wir einen heiligen Bereich in uns brauchen, in dem ein gewisser Rhythmus die innere Balance wiederherstellt. Einen heiligen inneren Raum, in dem wir innehalten und achtsam wahrnehmen können, was gerade geschieht und worum unser Leben sich dreht. Mir gefällt die Idee eines inneren Ortes, den wir aufsuchen können, um uns daran zu erinnern, was wichtig für uns ist und durch was wir uns lebendig fühlen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich im Alten Testament das Gebot, einen Ruhetag zu nehmen, gleich neben Geboten wie „Du sollst nicht töten“ findet.
In unserem modernen Alltag haben viele von uns die Balance zwischen Ruhe und Aktivität verloren. Wir hetzen umher und versuchen so viel zu schaffen wie nur irgend möglich.
In der Natur aber gibt es einen zugrunde liegenden Rhythmus, den viele von uns offenbar vergessen haben. Da folgt Ruhe auf Aktivität, Winter auf Sommer, Tod auf Geburt, Ebbe auf Flut und Nacht auf den Tag. Auf die gleiche, kreisende Weise bewegt sich die Natur in uns, in unserem Körper und in unseren Interaktionen. Nach jedem Herzschlag folgt ein kurzer Moment der Ruhe, auf jeden Atemzug ein stiller Augenblick. Die Natur strebt nach Ruhe und Aktivität in Balance, nach einem ewigen Strom.
Im Nachhinein fiel mir auf, dass ich in Zeiten, in denen ich ohne innezuhalten sehr aktiv war, vieles als selbstverständlich hingenommen habe. Ein Teil der Motivation, dieses Buch zu schreiben, resultierte aus der Beobachtung, wie leicht ich in das Muster verfiel, einfach drauflos zu hetzen, nicht innezuhalten und nicht dankbar für das Vorhandene zu sein. Vielleicht erkennen Sie sich in der Vorstellung wieder, dass Dinge immer etwas perfekter, etwas besser werden können, wenn Sie noch etwas mehr tun, sich noch etwas mehr anstrengen. Wir haben Gottes Schöpferrolle übernommen (vielleicht aus Angst, das Göttliche ganz zu verlieren und damit auch die Zuversicht und Akzeptanz, dass alles gut ist, so wie es ist). Wir glauben vielleicht, das Schöne und der Spaß seien noch da, wenn wir endlich die Zeit dafür finden. Aber Menschen – auch Kinder – werden mit jedem Tag, der vergeht, einen Tag älter, und dieser Tag kommt nie wieder. Ich habe mehr und mehr begonnen, dies zu akzeptieren, statt mich deswegen zu stressen. Diese Haltung unterstützt mich dabei, meinen Fokus auf die Dinge zu richten, denen ich in meinem Leben Raum geben möchte.
Aktiv zu sein ist in vielerlei Hinsicht schön und sinnstiftend und natürlich an sich kein Problem. Besorgniserregend ist es, wenn wir die Richtung und den Überblick verlieren, wenn auf Aktivität nicht Ruhe folgt. Wie in einem Auto, das die Autobahn entlangrast, verlieren wir die Aufmerksamkeit für das, was um uns herum passiert, und entwickeln einen Tunnelblick. Wir haben vergessen, warum wir überhaupt fahren und wohin wir unterwegs sind. Wenn wir so rasen, verpassen wir leicht Augenblicke der Stille und des Friedens, die uns Klarheit darüber schenken können, was uns in unserem Leben wichtig ist. Wir riskieren es, Liebe zu verpassen, die uns Kraft und Zugehörigkeit geben kann. Wir verpassen womöglich das Spielerische und die kleinen Zeiträume im Leben, in denen wir ohne jegliche Anstrengung Sinn und Energie als Vorrat für die Zukunft tanken können.
Es macht den Eindruck, als seien wir durch den Glauben vergiftet, unser Leben erhalte Sinn dadurch, dass wir die ganze Zeit etwas TUN. Aber der Rhythmus zwischen Ruhe und Aktivität ist naturgegeben und ruft sich selbst immer wieder in Erinnerung. Nehmen wir keine Rücksicht auf diese natürliche Kraft, wird sie ihre eigenen Wege finden; manchmal auf tragische Weise, indem wir einen Burnout erleiden oder auf andere Weise erkranken und so dazu gezwungen werden, uns auszuruhen. Das Leben strebt nach Ruhe und Aktivität in einem sich ständig abwechselnden Strom.
Wie fantastisch ist es also, dass der Zeitschutzraum immer einen Ort für uns bereithält – er ist rund um die Uhr für uns zugänglich. Wann immer wir wollen, können wir uns entscheiden, dort Zeit zu verbringen. Es ist nicht schwierig oder kompliziert. Wir müssen nichts dafür tun, um uns dort ein Aufenthaltsrecht zu verdienen. Wir müssen nur innehalten und der Zeitschutzraum steht uns sofort offen. Ich möchte alle dazu einladen, diese fantastische Möglichkeit zu genießen.
Es inspiriert mich, wie Michael Lerner, Rabbi und Autor, den Sabbat beschreibt13. Er ist der Ansicht, jeder könne davon profitieren, den Sabbat als wiederkehrendes Ritual zu nutzen. Ob man sich als religiös versteht oder nicht, spielt dabei keine Rolle, denn Lerner meint damit keinen speziell umrissenen Ritus oder festgelegte Regeln, die es zu befolgen gilt. Er versteht den Sabbat eher als eine Haltung oder eine Verhaltensweise.
Es ist prinzipiell egal, welchen Wochentag Sie wählen, aber am leichtesten ist es, den Sabbat am gleichen Tag zu halten, an dem die Menschen in Ihrer Umgebung sich ebenfalls ausruhen oder frei haben. Es ist schlicht ein Tag, an dem wir aktiv den Fokus von dem abwenden, was uns bekümmert, was wir noch in Ordnung bringen oder bewerkstelligen wollen, und an dem wir uns stattdessen auf das konzentrieren, wofür wir dankbar sind.
Während des Sabbats liegt die Aufmerksamkeit auf dem, was funktioniert, dem, was geschaffen wurde und woran wir teilhaben durften. Meinem Verständnis nach besteht der innerste Kern des Sabbats darin, sich Zeit zu nehmen, um sich über das Vorhandene zu freuen. Ein Zeitfenster, währenddessen wir die Schöpfung nicht verändern oder verbessern wollen, sondern ihre Gaben genießen. Wenn Sie so möchten: Gottes Gaben.
Für mich war es sehr stimulierend, folgende Liste von Regeln für den traditionellen jüdischen Sabbat zu lesen. Nach einer Zeit der Eingewöhnung können sie eher als befreiende denn als einschränkende Regeln erlebt werden. Obwohl sie modernisiert sind, spiegeln sie die gesammelte Weisheit der Menschen wider, die den Sabbat während der vergangenen dreitausend Jahre praktiziert haben. Die Liste gab mir neue Inspiration, wie ich „einen Ruhetag heiligen“14 kann.
- Konzentrieren Sie sich auf das Genussvolle, auf leckeres Essen, guten Sex, Gesang, Tanz, Spaziergänge, Spiel, Scherze und Lachen. Sehen Sie die Größe der Schöpfung, lesen Sie geistliche Texte, hören Sie auf Ihre innere Stimme oder tun Sie das, was gut und schön ist – all dies gehört zum Programm des Sabbats dazu.
- Verwenden Sie kein Geld, berühren Sie es nicht einmal.
- Arbeiten Sie nicht und denken Sie auch nicht an die Arbeit.
- Vermeiden Sie jegliche Form von Haushaltsarbeit, wie Essen zubereiten, aufräumen, nähen oder bügeln.
- Schreiben Sie nicht, nutzen Sie keinen Computer, kein Telefon, kein Handy oder sonstige elektronische Hilfsmittel.
- Machen Sie kein Feuer. Entzünden Sie nicht einmal eine Kerze, machen Sie kein Licht.15
- Bessern Sie nichts aus und reißen Sie auch nichts auseinander. Lassen Sie die Welt, wie sie ist.
- Organisieren Sie nichts, ordnen Sie nichts und machen Sie auch keine Besorgungen. Legen Sie alle Listen beiseite.
Was Sie während Ihres Sabbats tun, spielt eine Rolle, aber am wichtigsten ist, mit welcher Intention Sie es tun. Wenn Sie beispielsweise trainieren, um Ihre sportlichen Leistungen zu verbessern, möchten Sie an diesem Tag vielleicht überhaupt nicht trainieren. Aber wenn es Ihr Anliegen ist, sich mit Ihrem Körper zu verbinden und Stress abzubauen, ist Sport an diesem Tag vermutlich genau das Richtige für Sie. Wenn Sie malen, weil Sie es genießen, gibt dies Ihrem Sabbat Qualität. Aber falls Sie in sich den Vorsatz entdecken, beim Malen etwas zu leisten, sollten Sie es an diesem Tag besser unterlassen.16
Selbst wenn wir uns keine Zeit nehmen, um auszuruhen, einen „Sabbat“ gibt es immer: den Schlaf. „Heil dem Mann, der den Schlaf erfand“, schrieb Cervantes. Im Schlaf laden wir unsere Batterien für einen neuen Tag auf. Wayne Muller beschreibt in seinem Buch „How Then, Shall We Live“, wie er morgens dafür dankt, dass er aufwachen darf und Gott in ihn zurückgekehrt ist.17
Fakt ist, dass wir frische Kraft tanken, wenn wir schlafen, und dass wir diese Energie während unserer Dankbarkeitsmomente am nächsten Tag freisetzen können. Unser Körper hat die Batterien aufgeladen und wir erhalten die Möglichkeit, diese Kraft während des Tages zu nutzen, um unser eigenes und das Leben anderer zu...