1. Ein unerwünschter, aber hartnäckiger Gast
Gott kapituliert. Er verliert die Geduld und weiß sich keinen anderen Rat mehr als: »Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, von der Erde vertilgen.« Auf welche Weise? Durch eine Sintflut – »Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.« Und warum? Weil »die Bosheit der Menschen groß und alles Dichten und Trachten ihres Herzens böse ist«, weil »die Erde verderbt und voller Frevel« ist und weil er darum »bereut, die Menschen gemacht zu haben«. Also lässt er es regnen, vierzig Tage lang, und »die Wasser nahmen überhand und wuchsen so sehr auf Erden, dass alle hohen Berge unter dem ganzen Himmel bedeckt wurden. Da ging alles Fleisch unter, das sich auf Erden regte ... Alles, was Odem des Lebens hatte auf dem Trockenen, das starb«. Außer Noah, dem Gerechten. Dem einzigen.
Die Sintflut – was ist sie anderes als die Reaktion eines Ratlosen, eines Fassungslosen? Ratlos, fassungslos und abgrundtief enttäuscht von einer Menschheit, die nicht zur Vernunft kommen will, die stur ihr eigenes Unheil sucht, die sich wie Fäulnis über die Erde ausbreitet. Der Gott der Bibel ist aber nicht der einzige Enttäuschte. Ratlos ist auch der höchste Gott der Griechen.
»Zeus, dem Weltbeherrscher, kam schlimme Botschaft von den Freveln der Menschen zu Ohren. Da beschloss er, selber in Menschengestalt die Erde zu durchstreifen. Doch allenthalben fand er das Gerücht noch milder als die Wahrheit.« Auch er ist fassungslos. Auf den Olymp zurückgekehrt, hält Zeus mit den Göttern Rat und beschließt, das ruchlose Menschengeschlecht zu vernichten. Wie? Durch »ungeheure Wolkengüsse und Regenfluten ohne Ende«.
Das Ergebnis ist dasselbe wie im ersten Fall. Nur ein einziges Menschenpaar überlebt, Deukalion und Pyrrha, »beide unsträflich, beide Verehrer der Gottheit«. Zwar geht es mit der Menschheit hinterher weiter, da wird nach der großen Flut ein neuer Anfang gemacht, am Grundproblem aber ändert sich nichts – die Menschen sind, wie sie sind, sie bleiben, wie sie waren, und selbst Noah der Gerechte hat nach seiner Rettung nichts Besseres zu tun, als sich einen kräftigen Rausch anzusaufen. Wer hier als Einziger zur Besinnung kommt, ist Gott. Ernüchtert findet er sich mit der Unverbesserlichkeit des Menschen ab – »denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf« – und schließt seinen Frieden mit dem Pack: »Ich will hinfort nicht mehr alles schlagen, was da lebt, so wie ich es getan habe.« Zu welchem Fazit Zeus kommt, das verschweigt der griechische Mythos. Aber auch er stellt alle weiteren Versuche, das Übel bei der Wurzel zu packen, ein.
Aussichtlos. Der Mensch von Grund auf böse, verdorben bis ins Mark, und Gott selbst fassungslos. »Nichts schauerlicheres als der Mensch, weil er zu allem fähig ist«, lässt sich der griechische Tragödiendichter Sophokles aus der Tiefe der Zeit vernehmen, und Spätergeborene werden den Menschen mit einer Bestie vergleichen, für Seinesgleichen gefährlich wie ein Wolf. Wenn sich der Menschheitsgeschichte eine Lehre entnehmen lässt, dann die: Lasst alle Hoffnung fahren ...
Ist dieses Urteil zu hart? Wird es uns Menschen nicht gerecht? Eins immerhin müssen wir zugeben: Auch uns ist diese Fassungslosigkeit angesichts des Bösen nicht fremd. Wir brauchen gar keine Gerichtsakten zu studieren; ein Blick in die Geschichtsbücher genügt, ein Ohr für die Unterhaltungen am Nachbartisch in Kantinen und Cafés reicht völlig aus – tausendfach hallen Kriegs-, Rache- und Schmerzensschreie durch die Geschichte der Menschheit, und tausendfach finden sie ihr Echo in den Klagen über alltägliche Gemeinheiten, verübt von treulosen Freunden, rücksichtslosen Nachbarn, missgünstigen Verwandten, unverschämten Kollegen und selbstgefälligen Vorgesetzten. Das Böse scheint aus unerschöpflichen Quellen zu sprudeln, und wo es sich Geltung verschafft, selbst wo es bloß zur Sprache kommt, reichen die Reaktionen vom Kopfschütteln bis zu ungläubigem Entsetzen: Wie kann man bloß? Wie kann man bloß so sein, so etwas tun, sich so verhalten, verstellen, vergreifen, verrennen, vergehen? Da ist es auch ganz gleich, ob uns das Böse in der eher harmlosen Gestalt einer Bürointrige oder der abstoßenden Gestalt eines Kinderschänders begegnet – verstehen können wir es nie. Sprachlos macht es uns immer. Als wäre das Böse ein unheimlicher Eindringling mysteriöser Herkunft, etwas, das nicht zu uns gehört und in dieser Welt grundsätzlich nichts zu suchen hat.
Aber – gehört es denn zu uns, das Böse? Ist es uns nicht tatsächlich fremd? Regelrecht wesensfremd?
Das zu behaupten wäre kühn. Wer könnte bestreiten, dass es das Privileg des Menschen ist, böse zu sein? Alles, was uns sonst Ärger bereiten, bedrohen, in Panik oder Todesangst versetzen könnte – wilde Tiere, Unfälle, Naturkatastrophen –, fällt unter bedauerliche Zufälle, unter Unglück oder Tragödie. Nie würde es uns einfallen, einem Erdbeben, einem bissigen Wachhund Bosheit zu unterstellen, aus dem einfachen Grund, weil wir Tieren und Naturgewalten keine Absicht beilegen können. Zum Bösen gehört die Vernunft, der freie Wille, die Verantwortlichkeit, gehört gerade das, was den Menschen auszeichnet und vom Rest der Schöpfung unterscheidet. Wie soll ihm das Böse da fremd sein?
Und dennoch ...
Dennoch wollen wir ganz entschieden nichts damit zu tun haben. Dennoch verstehen wir sofort die Entrüstung der alten Dame, die mir sagte, als unser Gespräch auf die Beichte kam: «Ich wüsste wahrhaftig nicht, was ich zu beichten hätte! Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, soweit ich mich entsinnen kann.« Und in der Tat, beim Blick ins eigene Innere dürfte den meisten von uns nichts auffallen, was auch nur entfernt an Bosheit erinnert, und noch der überführte Serienmörder wird von sich sagen: Ich bin kein schlechter Mensch. Ist das bloßer Selbstbetrug? Bloßes Selbstmitleid? Oder können wir es bestätigen, dieses Gefühl, in etwas verstrickt zu werden, in etwas hineinzurutschen und sich mit einem Mal selbst nicht mehr zu verstehen? Scheint das Böse nicht wirklich aus heiterem oder vielmehr bedrohlich zugezogenem Himmel zu kommen – als würde es außerhalb dieser Ordnung, dieser Weltordnung existieren, in einer anderen Dimension, durch einen Abgrund von uns getrennt, die wir ein selbstverständlicher Teil dieser Ordnung sind – oder uns jedenfalls nichts sehnlicher wünschen als das?
An dieser Stelle kommt mir der Verdacht, Gott könnte im Irrtum gewesen sein, als sein Zorn gegen die Menschen ergrimmte. Hatte er die Sachlage wirklich gründlich geprüft? Mir ist klar, dass wir uns hier in die Gedankengänge desjenigen vertiefen, der die Sintfluterzählung verfasst hat – es überfordert uns, die Gedanken Gottes nachzuvollziehen. Aber bleiben wir einmal in der Geschichte, folgen wir der Logik dieses Gottes, der die Sintflut schickt. Kommt bei seinem Entschluss nicht Folgendes zu kurz: dass nämlich die Menschen das Böse genauso verfluchen. Dass sie darunter ebenfalls leiden und im Bösen einen unerwünschten, wenngleich hartnäckigen Gast erblicken – einem Parasiten vergleichbar, der sich die Menschen als Wirtstiere ausgesucht hat. Hätte Gott dann nicht in den Menschen Verbündete suchen sollen – und auch gefunden? Geändert hat die Sintflut jedenfalls nichts – sie war ein Fehlschlag, sie taugt allenfalls als Beispiel für die Unausrottbarkeit des Bösen. Denn wie in einem Horrorfilm überlebt es an Bord der Arche, eingenistet in der Seele des gerechten Noah, und bricht, als das Leben auf Erden weitergeht, erneut aus. Alles bleibt beim Alten. Gott hätte bei seinem Kampf gegen das Böse wohl anderswo ansetzen müssen. Aber wo?
Beim System zum Beispiel – um einen Bogen von der Sintflut in unsere Zeit zu schlagen. Beim perfiden politischen System oder den ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen. Armut sei das Grundübel, lautet eine Diagnose, die sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hat. Erst komme der Magen, dann die Moral, weshalb der Satte stets verträglicher als der Hungrige und der Wohlhabende grundsätzlich friedlicher als der Bedürftige sei. Solche Ansichten sind in linken Kreisen beliebt. Sie laufen auf eine partielle moralische Unzurechnungsfähigkeit des einzelnen Menschen hinaus, und es gibt ja tatsächlich genug Beispiele dafür, wie das Gewissen sich den gegebenen bösen Verhältnissen anpasst oder vor einer Verkettung widriger Umstände gänzlich kapituliert, wie dumme Zufälle und unglückliche Konstellationen unsere besten Absichten zunichtemachen.
Andere werden in der biologischen Grundausstattung des Menschen fündig. Sie sehen alle Ursachen menschlichen Verhaltens in einer Art automatischer chemischer Reaktion, die sich im menschlichen Nervenzentrum abspielt, bevor sie der Mensch in seinem Bewusstsein nachvollzieht. Oder sie entdecken den Egoismus der Gene, der uns leider keine Wahl lässt. Solchen Befunden nach zu urteilen wären wir unserer natürlich-biologischen Verfassung ähnlich willenlos ausgeliefert wie den gesellschaftlichen oder politischen Verhältnissen im ersten Fall – der Gedanke an eine Fernsteuerung drängt sich auf. In welchem System wir die Ursache des Bösen also immer ausfindig machen – im politischen, im gesellschaftlichen, im biologischen –, stets wird das Böse unserer Reichweite entzogen, und wir dürfen uns endlich verstanden fühlen: Ja, das Böse ist ein Resultat der Zwangslagen, in die wir als Menschen hineingeboren oder hineingeraten sind, unvorhersehbar wie ein Betriebsunfall und unserer Kontrolle entzogen.
Hätte Gott also dort ansetzen sollen? Bei der Gesellschaft, der Politik, der Funktionsweise des menschlichen...