Die Gesundheitsformel
Wir sollten perfekt sein. Der Mensch, unser Körper und unsere Kultur – das ist die beste Antwort der Evolution auf die Herausforderungen des Lebens auf diesem Planeten. Wir und alles, was um uns herum lebt, jeder Baum und jedes Tier, sind das logische Ergebnis einer Kette von Ereignissen, die vor 13,8 Milliarden Jahren in einem einzigen Punkt im Zentrum des Alls ihren Anfang nahm. Alles, was dann geschah, nachdem der Urknall zunächst Materie und Zeit hervorbrachte, dann Sterne und Planeten, war bedeutsam für unsere Existenz und hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind.
Dreieinhalb Milliarden Jahre Zeit nahm sich die Natur zur Konstruktion des Menschen. In unvorstellbar vielen Experimenten nach dem Trial-and-Error-Prinzip, durch Versuch und Irrtum, optimierte sich unsere Biologie auf die speziellen Bedingungen der Erde, auf ihre Gravitation und Temperatur, die Mischung der Elemente im Wasser und in der Atmosphäre. Wir sind maßgeschneidert für diese Welt.
Jeder Einzelne von uns ist das letzte Glied einer ununterbrochenen Kette des Lebens, die zurückreicht bis zu den heißen Quellen am Grunde des Ozeans unseres noch jungen Planeten. Moleküle ordneten sich zu immer komplexeren Strukturen, Zellen entstanden, Mikroorganismen, Tiere und schließlich der Mensch. Stets musste sich die gefundene Ordnung unter den wechselnden Bedingungen der Erdgeschichte bewähren, sich entwickeln und reproduzieren. Wer überleben wollte, musste sich immer wieder anpassen. Wenn Bedrohungen auftauchten, fanden unsere Vorfahren, darunter Einzeller, Würmer, Fische, kleine Nager und Primaten, einen Weg, ihnen zu entgehen. Sie kämpften, nutzten ihre Chancen und siegten. Nur eine kleine Elite schaffte das. Die übrigen mehr als 99 Prozent aller Spezies, die je auf unserem Planeten liefen, flogen oder schwammen, sind ausgestorben.
Keiner unserer Vorfahren starb kinderlos. Jeder wuchs mindestens bis zur Geschlechtsreife heran, fand genug Nahrung und entkam seinen Feinden. Er war attraktiv genug, einen Partner für sich zu gewinnen, und lebte lange genug, den Nachwuchs großzuziehen. Wir Menschen der Gattung Homo sapiens sind das aktuelle Spitzenmodell der Evolution, dessen Konstruktionspläne sich durchgesetzt haben. Sonst gäbe es uns nicht. Das Gleiche gilt für alles Leben um uns herum: Bakterium, Topfpflanze und Schoßhund – alles Gewinner einer ununterbrochenen Ahnenreihe von Gewinnern im Kampf ums Überleben. Unser genetisches Erbe ist das von angepassten Siegern. Das Erfolgsprodukt von Milliarden Jahren gnadenloser Auslese.
Wir sollten also perfekt sein, und als Ausdruck dieser Perfektion sollten wir gesund sein. Wer wollte das nicht? Aber wir sind es nicht. Krankheiten von Herz und Gefäßen, der Psyche, von Knochen und Gelenken sowie Tumorleiden sind so häufig, dass sie fast schon normal sind. Unsere Körper offenbaren ihre Schwachstellen, wo wir sie entgegen ihrer Konstruktion über das verträgliche Maß hinaus beanspruchen. Schäden an kritischen Stellen sind der Grund für eine Behinderung oder einen zu frühen Tod.
Etwas stört die Harmonie zwischen unserer Biologie und unserem Planeten. Etwas in unserer Umwelt hat sich verändert, was nun nicht mehr zu unseren alten Konstruktionsplänen passt. Wir sind Produkte der Evolution und leben mit den alten Patenten unserer Vorfahren: Mit den Zellvorgängen der Bakterien und Amöben, der Wirbelsäule und Organen der Fische, mit alten Hirnfunktionen der Primaten und Verhaltensweisen aus der Steinzeit. Aber wir leben heute, in einer modernen und urbanen Welt.
Es sind neue Welten, in denen wir leben, für die wir biologisch nicht geschaffen sind und die viele von uns krank machen. So genannte Zivilisationskrankheiten erfassen ganze Bevölkerungsteile, die dem schädigenden Druck von außen nicht standhalten. Wir sollten uns fragen, welche schädlichen Einflüsse auf uns alle einwirken. Wir sollten sie identifizieren und wenn möglich ausschalten. Wir sollten uns an unsere neuen Lebensumstände besser anpassen, so, wie es alle unsere Vorfahren erfolgreich getan haben.
Das klingt einfacher, als es ist. Denn es gibt wahrscheinlich nichts Komplizierteres auf dieser Welt als den Menschen. Denken wir nur an seine ineinanderverwobene Biologie und die Funktionen der Organe: Knochen, Muskeln, das Herz-Kreislauf-System, das Gehirn mit den davon ausgehenden Nerven, die alle Organe koordinieren müssen. Denken wir an das komplexe Zusammenspiel der Hormone im Gehirn, im Magen-Darm-Kanal und in den Sexualorganen. Denken wir an die lebenswichtigen Abwehrmechanismen gegen Angreifer von außen, die Haut und das Immunsystem, um Bakterien und Viren in Schach zu halten, um nur einige zu nennen. Aus jeder entwicklungsgeschichtlichen Epoche tragen wir Detaillösungen in unseren Genen, teilweise Millionen Jahre alt, die ihre je eigene Belastungsgrenze mitbringen.
Eine Schwäche an vermeintlich unbedeutender Stelle kann sofort Folgen für den ganzen Körper haben und über Gesundheit und Krankheit, über Leben und Tod entscheiden. Und es gibt ja nichts Wichtigeres als Gesundheit und Krankheit, als Leben und Tod. Das ist so für uns selber, für Personen, die uns nahestehen, und für die Gesellschaft als Ganzes.
Darum wird für medizinische Forschung viel Geld ausgegeben. Mediziner bemühen sich um die Heilung von Kranken mit dem Ziel, ihre Gesundheit wiederherzustellen. Um dies zu erreichen, haben sie eine riesige Industrie erschaffen. Allein in Deutschland arbeiten 4,5 Millionen Beschäftigte in über 800 Gesundheits- und Pflegeberufen. Jeder zehnte Arbeitsplatz liegt im Gesundheitssektor, und jeder neunte Euro des Bruttoinlandsprodukts wird dafür ausgegeben. Die Gesundheitswirtschaft ist inzwischen der größte Wirtschaftsbereich weltweit, fünfmal größer als etwa die Automobilindustrie. Der enorme Einsatz von Ressourcen ist durchaus erfolgreich. Niemals zuvor lebten die Menschen, zumindest in unserem Land, länger und gesünder. Es sind auch große Fortschritte in Diagnose und Therapie von Krankheiten gemacht worden. Im Grunde wird aber alles immer komplizierter und teurer, und immer noch sind die Ärzte allzu oft hilflos.
Gesundheit ist viel mehr als Medizin
Eine immer aufwändigere Medizin kann nicht die einzige Lösung sein, schon gar nicht für die ganze Weltbevölkerung. Für uns alle, für uns sieben Milliarden Menschen auf der Erde, brauchen wir eine Medizin, die allen hilft, nicht nur den wenigen Privilegierten. Wenn wir aber so weitermachen, wird die Medizin immer teurer und nur noch für wenige bezahlbar. Schon jetzt genießen vielleicht eine Milliarde Menschen die Vorzüge moderner Medizin. Fünf bis sechs Milliarden sind schlecht oder gar nicht versorgt.
Die Biologie ist nur ein Teil der Ursache von Krankheit. Gesundheit ist viel mehr als Medizin. Ärztliches Eingreifen und Heilen kranker Menschen ist teuer, ineffektiv und oft nicht mehr möglich, wenn der Arzt zu spät gerufen wird und keine Therapie und kein Medikament mehr helfen. Die Lebensumstände, die Umwelt in all ihren Ausprägungen, sind häufig viel wichtiger als die Medizin. Die sozialen Lebensbedingungen, die finanzielle Situation, Umweltverschmutzung, das Klima, die physikalische und geologische Umwelt und viele andere Faktoren beeinflussen Gesundheit und Krankheit manchmal entscheidender als unsere Biologie und die Verfügbarkeit medizinischer Versorgung.
Unser eigenes menschliches Verhalten, unser Lebensstil, wissen wir heute, ist der entscheidende Faktor, der unsere Biologie, mit der wir geboren sind, und unsere Umwelt, in der wir gewollt oder ungewollt leben, miteinander verbindet. Wir müssen über uns und über Gesundheit und Krankheit neu und in größeren Zusammenhängen nachdenken. Zivilisationskrankheiten bedrohen uns alle und können nur durch Maßnahmen verhindert werden, die allen zugutekommen. Krankheiten beginnen nicht mit dem Auftreten von Symptomen, sondern lange vorher. Umgekehrt beginnt die Gesundheit schon im Mutterleib und muss von dort an gefördert werden.
Gesundheit wird als Formel verständlich
Die Entstehung von Gesundheit in all ihren Dimensionen zu erfassen, scheint aufgrund der Komplexität eine schier unlösbare Aufgabe. Bei einem anderen, hochkomplexen System ist dies aber schon gelungen: bei der Entstehung der Welt und des Weltalls. Der Sternenhimmel ist Teil unserer Umwelt, und auch hier sind wir weit davon entfernt, alles zu verstehen. Mathematiker und Physiker, die sich mit dem Kosmos beschäftigen, haben zunächst so viel wie möglich beobachtet und gemessen, dann aber nach einfachen Beschreibungen oder Umschreibungen für ihre Erkenntnisse gesucht. Eine Formel halten sie für umso schöner, je kürzer und gleichzeitig umfassender sie ist. Die kompliziertesten Zusammenhänge lassen sich physikalisch-mathematisch durch Integration ihrer Variablen so verdichten, bis sie maximal reduziert sind und dennoch alle Einflussfaktoren in sich tragen.
Auch Dichtern gelingt es, komplexe Gedankengänge und Gefühle in wenigen Zeilen so zu »verdichten«, dass man sofort erfasst und spürt, was damit gemeint ist. Ohne zu viele Worte, diese aber sorgfältig gewählt.
Die Suche nach der Weltformel, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, beschäftigte Wissenschaftler, Physiker und Philosophen seit vielen Jahrhunderten. Lange galt beispielsweise die Newton’sche Physik als die Lösung. Albert Einstein gelang es, mit der kurzen Formel E = mc² die Kräfte des Universums neu zu beschreiben. Eine radikalere Reduktion komplexer Systeme ist kaum vorstellbar. Einsteins Formel zur Äquivalenz von Masse und Energie ist fast schon zu einem Symbol für die radikale...