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Das Böse von nebenan

Wahre Kriminalfälle aus der Provinz

AutorSibylle Tamin
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783104021225
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Dramatisch, packend und wahr: Kriminalfälle aus einer scheinbar heilen Welt. Gründonnerstag 2009: der allseits beliebte und engagierte 18-jährige Tobias Z. richtet gemeinsam mit seinem Freund bestialisch und grausam seine beiden Schwestern hin. Danach feiern die Täter seelenruhig in einer Gaststätte mit den Eltern, um sie später ebenfalls kaltblütig zu ermorden. Die monströse Tat zweier junger Männer stürzt eine ganze Gemeinde in Entsetzen, Fassungslosigkeit und Verzweiflung. Es gibt keine Erklärung. Kein Motiv. Das Böse mitten in unserer Gesellschaft - das ist das große Thema der preisgekrönten Journalistin Sibylle Tamin. Ihre Neugier gilt der vermeintlich heilen Welt, der Provinz, in der das plötzliche Aufbrechen des Bösen die Oberflächengemütlichkeit dramatisch zersetzt. Wie konnte das passieren? Vor unseren Augen? Mitten unter uns?

Wie gehen Mörder mit ihrer zurückliegenden Tat um? Wie leben sie mit dem nicht wieder Gutzumachenden? Wie beurteilen sie selbst ihre Tat? Ein Jahr lang trifft sich die preisgekrönte Journalistin Sibylle Tamin regelmäßig mit einsitzenden oder bereits entlassenen Mördern. Im Mittelpunkt der Gespräche steht aber nicht die genaue Rekonstruktion der Tat, sondern vielmehr das Bild, das die Täter von sich selbst entwerfen. Zehn exklusive Täterbiographien.

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Leseprobe

6


Sechs Monate nach der Tat beginnt vor der Großen Jugendkammer des Landgerichts Ulm der Prozess. Drei Richter und zwei Schöffen haben sich durch die zweiundzwanzig Aktenordner mit den Ermittlungsprotokollen zu dem vierfachen Mord in Riedberg gearbeitet, die aufgereiht hinter dem Vorsitzenden stehen.

Auch das erste Gespräch, das ein Polizist an jenem Karfreitagmorgen mit dem zwischen Schluchzen und Wutausbrüchen wechselnden Tobias Schaller führte, ist hier abgelegt und wird später vom Zeugen vorgetragen werden.

Schaller habe den Verdacht zuerst auf die beiden langjährigen Freunde der Schwestern gelenkt, wird der Polizist Maler aussagen. »Warum sind die nicht da?«, habe Schaller ihn gefragt und dann vom gemeinsamen Säubern der Terrasse am Vortag erzählt und vom Abendessen im Garten und dem Streit mit den Schwestern, weil er als Einziger kein Auto habe. Und später habe ihn der Vater zu Jan, dem Freund, gefahren, wo er, Tobias, nochmals zu Abend aß, Kässpätzle habe es gegeben. Und dann sei er mit Jan noch kurz in den Blue Star gegangen, zu den Eltern, die dort mit Freunden bei Live-Musik saßen und Wein und Bier tranken, und habe dann bei Jan übernachtet.

Und er schildert dem Polizisten, wie er am Morgen in die Wohnung gekommen sei und dort erst den Fernseher ausgeschaltet habe, oben bei den Schwestern, und wie er gedacht hätte, die machten ein ›Späßle‹ mit ihm, und erst als er sie umgedreht habe, hätte er gesehen, dass sie tot sind. Und der Polizist gibt zu Protokoll, dass Tobias Schaller überraschend ruhig gewesen sei und er nicht den Eindruck hatte, dass da jemand sitze, dessen Eltern und Schwestern gerade tot aufgefunden worden sind.

Ob die Wohnungstür denn unverschlossen gewesen sei, will der Ermittler noch wissen. Ja, sagt Tobias, sie sei offen gewesen, denn wenn er den Schlüssel benutzt hätte, wäre er ihm aus der Hand gefallen vor Schreck. »Aber ich hab ihn hier in der Tasche, also hab ich ihn nicht benutzt.«

 

Von den fünfzig Sitzen des Gerichtssaals sind nur neun belegt. Die Kammer hatte sehr zum Ärger der zahlreich aus ganz Deutschland herbeigeströmten Journalisten eine eng begrenzte Öffentlichkeit verfügt und lediglich neun ausgewählte Presseleute zugelassen. Das Jugendgerichtsgesetz schreibe die Nichtöffentlichkeit des Verfahrens vor, gestatte aber aus diesem nichtöffentlichen Verfahren eine eingeschränkte Berichterstattung. Hinter den hohen Fenstern im hellen, holzgetäfelten Gerichtssaal ragt über die Dächer der Stadt das massige Gebäude einer modernen Kirche, deren Türme ihrer abgerundeten Spitzen wegen »Granatentürme« heißen. Eine kleine rundliche Frau, die gleich hinter den Wachleuten sitzt, blickt hinaus auf die Türme, neben ihr ein schmächtiger Mann im dunklen Anzug, ein kleines Notizbuch so fest in der Hand, als suche er daran Halt. Es sind die Eltern von Jan Reichel. Sie sitzen so nah wie möglich beisammen auf diesen festgeschraubten Stühlen. Still und stumm.

 

»Wenn ich das Ehepaar Reichel sehe, diese netten Leute«, sagt die Bäckersfrau in Riedberg, »dann denke ich, dass man als Eltern nie genau weiß, was in seinem Kind steckt.« Die Reichels seien so friedfertige, freundliche Menschen, aus so einer Familie könne doch kein Verbrecher herauswachsen.

 

Über ein halbes Jahr hin, an zwanzig Verhandlungstagen, werden sie da sitzen, die Eltern des wegen Mordes Angeklagten Jan Reichel, werden an jedem Prozesstag immer an derselben Stelle sitzen, dicht an der gläsernen Trennwand, hinter der jetzt nacheinander die beiden Angeklagten hereingeführt werden. In die Mitte genommen und mit Handfesseln an einen der beiden Beamten gekettet, gehen sie mit schlurfenden kleinen Schritten, bis die Fußfessel spannt, zu ihren Plätzen, als sei die Welt um sie versunken; Tobias Schaller, bleich, mit zusammengepressten Lippen, die, wenn sie sich öffnen, eine Reihe tadellos gewachsener Zähne zeigen, für deren Pflege er viel Aufwand betrieben haben soll. Er ist ein gutaussehender junger Mann in Jeans, grauem Kapuzenpulli und roten Sneakers, das braune kurze Haar leicht gelockt. Durch sein selbstbeherrschtes Auftreten wirkt er älter als sein um ein Jahr älterer Freund.

Jan Reichel, den Kopf gesenkt, das Gesicht rot wie fiebernd, auch seine Hände und Füße in Fesseln, schleppt sich zu seinem Platz. Er ist ein schmächtiger Junge. Er habe schon gedacht, sagt sein Anwalt, sein Mandant müsse wesentlich gestörter sein. Aber er mache auf ihn einen ganz normalen Eindruck. »Jan«, sagt der Anwalt, »ist wirklich ein liebenswerter Mensch, das kann ich so sagen.«

Und während Jan Reichel leicht nach vorn gebeugt sitzt und auf den Tisch starrt, wie er neben dem Anwalt verharrt, versteinert, selbst als er schweres Nasenbluten bekommt, das der Vorsitzende Richter schließlich bemerkt und deshalb eine Unterbrechung anordnet, hat sich Tobias Schaller darauf verlegt, den Prozess zu protokollieren, als ginge es darum, über das Gericht Gericht zu halten. Stunde um Stunde sitzt er schreibend, ohne aufzublicken, ohne eine emotionale Regung zu zeigen.

»Vielleicht«, sagt sein Verteidiger in einer Verhandlungspause, »schreibt er, dass alle Journalisten den Tod verdienen.« Der Anwalt ist gewitzt im Umgang mit Presseleuten. Gleich zu Prozessbeginn wird er den kompletten Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen. Ein Antrag, der vom Gericht zurückgewiesen werden wird.

 

Die Anklageschrift, die Oberstaatsanwältin Harms verliest, lautet auf gemeinsam und heimtückisch begangenen vierfachen Mord aus Habgier.

Tobias Schaller habe sich als unterdrückt empfunden, heißt es in der Anklage. Er habe sich in seiner Familie »nicht mehr wohl gefühlt« und habe zunächst sein Elternhaus verlassen wollen. Er habe das Vorhaben jedoch aufgegeben, weil er die materielle Sicherheit geschätzt habe. Als er mit achtzehn gemeinsam mit seinen Schwestern die Vollmacht über ein Schweizer Konto mit 256000 Euro erhielt, sei in ihm der Gedanke gereift, Eltern und Schwestern zu töten, um allein über das Vermögen verfügen zu können. Die beiden Freunde hätten mehrere Mordszenarien entworfen: Erschießen der vier Familienmitglieder während einer Wanderung, Vergasen mit anschließender Säurebeseitigung der Leichen, Tod durch Verbrennen.

 

Es sei bei ihm selbst, wird der psychiatrische Gutachter später sagen, nach vielen Stunden der Exploration immer noch ein beträchtliches Maß an Fassungslosigkeit und Ratlosigkeit vorhanden. »Alles von diesen angeblichen Belastungen und Dramatisierungen, alles was Tobias Schaller selbst darüber gesagt hat, bezog sich überwiegend auf den Vater. Und die Frage, die für mich nach wie vor im Raum steht, ist, warum nicht nur der Vater sterben musste, sondern auch die Mutter und die beiden Schwestern. Diese Frage bleibt weiterhin völlig ungeklärt.«

Von den drei Frauen in seiner Familie habe Tobias Schaller nichts erzählt, was auch nur annähernd traumatisierend hätte wirken können, wird der Gutachter später sagen. »Insofern würde ich mir nicht anmaßen zu behaupten, ich wüsste, wer diese beiden Angeklagten wirklich sind.«

 

Die Anklage entrollt eine kriminelle Karriere, die zwei Jahre vor der Tat begann. Man sieht die Schulfreunde in entwendeten Autos ohne Führerschein durch die Landschaft sausen, sieht sie nachts bei Einbrüchen in Schule, Supermarkt und Sportvereinen, sieht kriminelle Anfänge aus Abenteuerlust – »Wir gegen den Rest der Welt« –, bei der die Beute bloße Nebensache bleibt. Zweimal war den Freunden die Polizei auf der Spur gewesen, und zweimal waren sie unentdeckt entkommen.

Eines Nachts hocken sie mit ihrer Kletterausrüstung auf dem Dach des Supermarktes gleich um die Ecke des schallerschen Hauses. Während unten die Polizei vorgefahren ist und nach Einbrechern sucht, sagt Jan: »Ich geb auf, ich stelle mich«, aber Tobias hält ihn zurück, denn: »Ob du dich stellst oder entdeckt wirst, macht bei der Strafe keinen Unterschied.« So bleiben sie sitzen, bis die Polizei wieder abgezogen ist, steigen anschließend durchs Oberlicht ein und nehmen Spirituosen und Zigaretten mit, alles Waren, die sie selber gar nicht konsumieren. Am Morgen sitzen sie im Klassenzimmer des Wirtschaftsgymnasiums und sind die guten Schüler, von denen der Rektor sagt, dass er stolz auf sie sei.

 

Sieben Monate vor dem Mord begehen die beiden einen folgenschweren Einbruch. Das erste Mal haben sie es dabei gezielt auf die Beute abgesehen.

Tobias und Jan sind Mitglieder der Riedberger Schützengilde. Beide sind keine besonders guten Schützen. Note drei bis vier gab der Jugendleiter Tobias beim Schießen mit dem Luftgewehr; Note fünf beim Kleinkaliberschießen. Aber ihre Faszination für Waffen ist groß. »Wir wollten die Waffen besitzen«, sagt Jan seinem Anwalt, »wir wollten sie in unserer Nähe haben, aber niemanden damit schädigen.«

Eines Abends blockieren sie die Tür des Schützenhauses und dringen nachts dort ein. Sie schneiden den Schlüsseltresor mit einer elektrischen Säge auf und entnehmen dem Waffenschrank neunzehn groß- und kleinkalibrige Waffen samt 1700 Schuss Munition. Im Kofferraum des großen BMW von Jans Vater wird die Beute abtransportiert und anschließend versteckt.

Am nächsten Tag ist die Aufregung im Schützenverein groß. Das Mitglied Tobias Schaller regt sich mit auf, und als die andern rätseln, wie die Einbrecher wohl ins Schützenheim hineingekommen seien, sagt er: »Ich wär durch die Tür gegangen«, und lacht. Niemand kommt auf den Gedanken, den allseits beliebten Tobias und seinen stillen,...

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