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Max Horkheimer

Unternehmer in Sachen »Kritische Theorie«

AutorRolf Wiggershaus
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783104023014
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Max Horkheimer: Outsider des Bürgertums und Unternehmer in Sachen Kritischer Theorie Niemand steht so wie Max Horkheimer für das, was in den 1960er Jahren die Bezeichnung »Frankfurter Schule« erhielt. Der Sohn eines Textilfabrikanten übernahm 1930 die Leitung des marxistischen »Instituts für Sozialforschung« mit dem Ziel, der von Konkurrenz und Gewinnstreben bestimmten Welt seines Vaters die Alternative eines der Erkenntnis gewidmeten und von Solidarität geprägten Lebens gegenüberzustellen. Durch die Nazis ins Exil gezwungen, wurde das Institut zu einem Ort der Zusammenarbeit von Intellektuellen verschiedener Disziplinen und prägte auch nach der Rückkehr nach Deutschland die geistige Entwicklung der Bundesrepublik. Die neue, aktuelle Darstellung von Horkheimers Leben und Werk bietet eine Einführung und eine Gesamtschau dieses zentralen Denkers des 20. Jahrhunderts.

Rolf Wiggershaus studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Tübingen und Frankfurt am Main. Seine große Studie zur Geschichte der Frankfurter Schule ist zu einem vielfach übersetzten Standardwerk geworden. Darüber hinaus hat er mehrere Werke über Adorno, Wittgenstein und Habermas verfasst. Er lebt als freier Publizist bei Frankfurt am Main.

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Leseprobe

I Kindheit, Jugend und die Utopie
einer »île heureuse«


Max Horkheimer kam am 14. Februar 1895 in Zuffenhausen bei Stuttgart, der Residenzstadt des Königreichs Württemberg, zur Welt. Er blieb das einzige Kind von Moses – genannt Moritz oder Moriz – Horkheimer und dessen Frau Babette. Der Vater (*1858) und die Mutter (*1869), eine geb. Lauchheimer, hatten 1892 geheiratet und die württembergische Staatsangehörigkeit erworben. Nach dem geschäftlichen Misserfolg des Großvaters war der Vater als Teilhaber einer neuartigen Kunstbaumwoll-Fabrik, die er 1885 zusammen mit einem Bruder gegründet hatte, in kurzer Zeit zu einem reichen Mann geworden. »Aus den Abfällen der Webereien und Spinnereien, die natürlich ganze Züge von Wagen ausmachten«, so Max Horkheimer später im Rückblick, »machte er Kunstbaumwolle, die genau die Nuance hatte, die dann die Spinnereien oder die Webereien brauchten und unmittelbar verwenden konnten.« (Das Schlimme erwarten und doch das Gute versuchen. Gespräch mit G. Rein, 1972/HGS 7, S. 442) Die Horkheimer’schen Kunstbaumwollwerke beschäftigten 8090 Mitarbeiter und produzierten jährlich 5000 Tonnen Ware, die im In- und Ausland verkauft wurden (cf. J. Toury: Jüdische Textilunternehmer in Baden-Württemberg 16831938, Schriftenreihe Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 42, Tübingen 1984, S. 199f., zitiert nach A. Heuß: Die Sammlung von Moses Moritz Horkheimer, in: Exilforschung, Bd. 29, 2011, S. 139). Um die Jahrhundertwende war Moritz Horkheimer, der »Lumpenhändler in großem Stil« (Heuß), Millionär – »mehrfacher Goldmillionär«, wie sein Sohn Max später im Alter stolz betonte.

Die einzige Quelle für Informationen über seine Kindheit sind Max Horkheimers eigene verstreute Erinnerungen. Als er geboren wurde, lebten die Eltern »noch in einem gewissen strengen, ich würde nicht sagen orthodoxen, aber konservativen jüdischen Sinne« (HGS 7, S. 443). Als er mit etwa sieben Jahren schwer erkrankte, der Arzt als stärkendes Frühstück »ein Butterbrot mit Schinken« empfahl und der zu Rate gezogene Rabbi diesem Bruch mit einer koscheren Küche zustimmte, wurde fortan »einfach gekocht wie in einem anderen Hause – mit gewissen Hemmungen« (ibid.). Im Übrigen ging es im Elternhaus zu wie bei anderen Familien dieses Milieus. »Als Kind einer bürgerlichen, deutsch-jüdischen Familie hatte ich hingebend mit Zinnsoldaten gespielt, auch Kindergewehre mit Korkpfropfen und eine Pistole mit Zündblättchen gehörten zu meinem Arsenal. Bis ich etwa 10 Jahre zählte, um 1905, bedeutete der Sonntag eine besondere Freude, weil man vom Erker unserer Wohnung (in der Militärstraße) den Platz vor der Stuttgarter Garnisonkirche überblicken konnte. Dort trafen die Detachements der verschiedenen Truppenteile, der Musketiere und Grenadiere, gelben und weißen Dragoner, gelegentlich auch der Ulanen, mit ihren bunten Uniformen ein, und boten ein anregend farbiges Bild, bis sie in gewohnter Ordnung in dem für sie bestimmten Eingang der Kirche verschwanden.« (Nachwort zu Thilo Koch, Hg.: Porträts zur deutsch-jüdischen Geistesgeschichte, Köln 1961, S. 256) Der Vater, stolz darauf, ehemals ›Einjährig-Freiwilliger‹ gewesen zu sein, erklärte dem Sohn die edlen Absichten des Kaisers und des Königs von Württemberg. »Es war ›unser‹ Militär, gehörte zur Sphäre gesicherten Lebens, zum Bewusstsein dauernden Friedens und Fortschritts, in dem ich wie andere Kinder erzogen wurde.« (Ibid.) Von Antisemitismus wurde zwar zu Hause gesprochen, doch wenn ein Junge Horkheimer in der Klasse oder auf dem Schulweg »Jude« nachrief und der Lehrer davon erfuhr, wurde das geahndet und hinterließ keine großen Wunden. »Vom Judentum wusste ich als meinem Religionsbekenntnis, vom Deutschen Reich als meinem Heimatland.«

Max Horkheimer 1908

Vom Vater von Anfang an dazu bestimmt, sein Nachfolger in der Unternehmensleitung zu werden, verließ Max Horkheimer im Herbst 1910 nach Abschluss der Untersekunda das Gymnasium und wurde für ein bis zwei Jahre Lehrling in der väterlichen Fabrik. In dieser Zeit begann seine Freundschaft mit dem ein Jahr älteren Friedrich Pollock. Der war erst kurz vorher mit seinen Eltern von Freiburg nach Stuttgart gekommen. Sein Vater war Teilhaber der Reiseartikel- und Lederwaren-Fabrik Nördlinger & Pollock. Horkheimer lud Pollock zur Teilnahme an einer Tanzstunde für die Jugendlichen der jüdischen Gemeinde ein. Er war erstaunt und irritiert, als der nur einmal kam und eine weitere Teilnahme ablehnte. Er bat ihn um eine Aussprache.

Sie seien, so Pollock später, einander äußerst unsympathisch gewesen, seien ja auch ganz verschieden erzogen worden. Er entstamme einem Elternhaus, das sich rigoros vom Judentum abgewandt hatte, Horkheimer dagegen einer konservativ-jüdischen Familie mit einer ehrgeizigen und Protz liebenden Mutter. Sie habe den Vater gezwungen, Kommerzienrat zu werden, und habe die Medaillen, die der Sohn in jeder Klasse bekam, schön gerahmt auf samtenem Hintergrund aufgehängt. Mit seiner blumigen Sprache habe Horkheimer ihn zur Weißglut gebracht. Dieser Affektiertheit wegen hätten er und die meisten anderen Tanzstundenteilnehmer und -teilnehmerinnen eine eigene Tanzstunde aufmachen wollen. Das habe Horkheimer erfahren und um die Aussprache gebeten. Er sei nicht, was er scheine, sondern ein ganz verzweifelter Mensch, und er werde wahnsinnig werden, wenn ihm niemand helfe. »Und hat also einfach plötzlich wie ein Mensch zu mir gesprochen und nicht wie der einzige Sohn von Herrn und Frau Kommerzienrat Horkheimer. Ich war sehr beeindruckt. Horkheimer erzählte mir aber dann, daß es für ihn wie eine kalte Dusche war, als ich gesagt habe, ›Ja, das will ich mir alles durch den Kopf gehen lassen.‹ Also nicht etwa, nachdem er sich völlig nackt und bloß sozusagen gezeigt hat, ihm die Hand gegeben habe und gesagt habe, ›Komm, also ich helfe dir!‹ Sondern offenbares Misstrauen.« (Horkheimer/Pollock: »Biographische Interviews« 1965/66, MHA: X 132b) Diese Urszene mit pathetischer Selbstentblößung des einen, bedächtigem Eingehen darauf seitens des anderen lässt ahnen, warum es nach dieser Aussprache zu einer lebenslangen Freundschaft dieser beiden so unterschiedlichen Personen kam. Ihr Zusammenspiel machte es möglich, einen gewissen Überschwang mit Bodenhaftung zu versehen.

Pollock erschloss dem Freund eine neue Welt jenseits religiöser und konservativer Traditionen. Er machte Horkheimer aufmerksam auf Kritiker eines selbstzufriedenen und heuchlerischen Bürgertums wie Ibsen und Strindberg, Zola und Tolstoi. Für Philosophie hatten sie laut Pollock zunächst nur Verachtung. Das hatten sie zu Hause gelernt.

Villa Azenbergstraße 25 in Stuttgart-Zuffenhausen

Vor allem für Horkheimer wurde es eine Freundschaft mit konspirativen Zügen, die sich gegen den übermächtigen Vater richtete. Es kam zu einem ersten schriftlichen Freundschaftsvertrag, dem in späteren Jahren weitere schriftliche Abmachungen folgten. Genaue Regeln legten fest, wie Meinungsunterschiede ausgetragen und gemeinsame Beschlüsse erreicht werden sollten. Sogar die Länge der Debattierzeit und die dafür zu benutzende Tageszeit waren festgelegt. Das Ganze sollte »Ausdruck eines kritisch-humanen Elans« sein und der »Schaffung der Solidarität aller Menschen« (H. Gumnior/R. Ringguth: Horkheimer, Reinbek 1973, S. 16) dienen. Was an dem ersten Freundschaftsvertrag und ebenso an den späteren Neuformulierungen und Programmen so befremdlich anmutet – die Förmlichkeit des Ganzen und die Pedanterie der einzelnen Verhaltensvorschriften – war offenbar die den beiden Freunden angemessene Form eines Kompromisses zwischen Schwärmerei und Nüchternheit, zwischen Sehnsucht nach wesentlichem Leben und einem bürgerlicher Sozialisation entstammenden Sekuritätsbedürfnis.

Max Horkheimers Zimmer in der elterlichen Villa

Ein Fotoalbum der Villa in der Stuttgarter Innenstadt, die der Vater erbauen ließ, zeugt vom beträchtlichen Wohlstand der Familie Horkheimer. Zum Haus gehörten u.a. ein Musikzimmer und ein Bauernzimmer. Im Zimmer des Sohnes hingen expressionistische Grafiken an den Wänden. Besonders auffällig ist ein gerahmtes Plakat für eine neue Nummer der Zeitschrift »Der Sturm«: ein 1911 entstandenes Selbstbildnis von Oskar Kokoschka, der auf eine blutende Wunde auf seiner Brust deutet (cf. A. Heuß, a.a.O., S. 141). Der Vater war ein Mäzen der württembergischen Malerschule und sammelte Bilder arrivierter akademischer Künstler. »Daß eine moderne Abteilung hinzugefügt wurde«, so Horkheimer, »hing nicht zuletzt damit zusammen, daß ich als einziges Kind seit etwa 1910 mich leidenschaftlich für bildende Kunst und Literatur interessierte und meine Eltern meine Neigungen gerne unterstützten.« (Horkheimer-Dieter Koepplin,...

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