Ich betrachte mich, im Vergleich zu anderen Menschen, als Neuling in der modernen Welt. Und obwohl ich schon 1959 aus meiner Heimat fliehen mußte und mich mein Leben als Flüchtling in Indien seitdem viel enger mit der gegenwärtigen Gesellschaft in Verbindung gebracht hat, verlebte ich doch, im Hinblick auf die Realität des 20. Jahrhunderts, meine prägenden Jahre weitgehend ohne Außenkontakte. Das ist zum Teil auf meine Ernennung zum Dalai Lama zurückzuführen: Ich wurde dadurch schon in jungen Jahren zum Mönch. Auch spiegelt sich darin der Umstand wider, daß wir Tibeter uns, was in meinen Augen ein Fehler war, dafür entschieden hatten, hinter den hohen Bergketten isoliert zu bleiben, die unser Land von der übrigen Welt trennen. Heute dagegen reise ich sehr viel, und zu Hause wie im Ausland habe ich das Glück, immer wieder neue Menschen kennenzulernen.
Mehr noch: sehr unterschiedliche Menschen kommen zu mir. Viele von ihnen – besonders jene, die sich die Mühe machen, bis in die Hügel meines indischen Exilorts Dharamsala zu reisen – sind auf der Suche nach etwas. Unter ihnen sind Menschen, die schweres Leid durchmachen: Manche haben ihre Eltern oder Kinder verloren, bei anderen hat ein Freund oder Verwandter Selbstmord begangen, wieder andere leiden an Krebs, AIDS oder ähnlichem. Und dann sind da natürlich auch meine tibetischen Landsleute, ein jeder mit seiner eigenen Geschichte von Not und Elend. Leider gehen viele Menschen von ganz unrealistischen Vorstellungen aus: Sie glauben, daß ich heilende Kräfte besitze oder so etwas wie einen Segen erteilen könnte. Doch ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ich kann lediglich versuchen, ihnen zu helfen, indem ich ihr Leid teile.
Die unzähligen Leute aus aller Welt, die ich kennenlerne und die aus allen Schichten und Berufen kommen, erinnern mich immer wieder daran, daß uns alle die Gemeinsamkeit verbindet, menschliche Wesen zu sein. Je mehr ich von der Welt sehe, um so deutlicher wird mir, daß wir uns alle nach Glück sehnen und Leid vermeiden wollen – ganz gleich, in welcher Lage wir uns befinden, ob wir reich oder arm, gebildet oder ungebildet sind, dem einen oder anderen Geschlecht, dieser Rasse oder jener Religion angehören. Jede bewußte Handlung und in gewisser Weise sogar unser ganzes Leben, das wir uns unter den gegebenen Beschränkungen einrichten, läßt sich als Antwort auf die große Frage auffassen, die uns alle beschäftigt: »Wie werde ich glücklich?«
Was uns bei dieser großen Suche nach dem Glück aufrechterhält, ist die Hoffnung. Selbst wenn wir es uns nicht eingestehen, wissen wir doch, daß es keine Garantie für ein besseres, glücklicheres Leben als unser jetziges gibt. Ein altes tibetisches Sprichwort lautet: »Im nächsten Leben oder morgen«, und wir können nie sicher sein, was zuerst kommt. Aber wir hoffen, daß wir weiterleben. Wir hoffen, daß diese oder jene Handlung uns zum Glück führt. Alles was wir tun, nicht nur als einzelne Person, sondern auch gesellschaftlich gesehen, läßt sich unter dem Aspekt dieses elementaren Strebens betrachten. Und das gilt für alle empfindenden Geschöpfe. Der Wunsch und das Streben danach, ein glückliches Leben zu führen und Leid zu vermeiden, kennt keine Grenzen. Es entspricht unserer Natur. Und darum braucht es keine Rechtfertigung, sondern findet seine Gültigkeit in dem einfachen Umstand, daß wir es aus unserem Wesen heraus zu Recht wollen.
Und genau das sehen wir in armen wie in reichen Ländern. Überall streben die Menschen mit allen nur erdenklichen Mitteln danach, ihr Leben zu verbessern. Doch seltsamerweise habe ich den Eindruck, daß diejenigen, die in den materiell weiterentwickelten Ländern leben, trotz aller technischen Errungenschaften weniger glücklich sind und auf gewisse Weise mehr leiden als jene, die in weniger fortschrittlichen Ländern leben. Wenn man die Reichen mit den Armen vergleicht, scheint es in der Tat oft so zu sein, daß die Besitzlosen weniger von Ängsten geplagt werden, obwohl sie mehr körperliches Leid erdulden müssen. Die Reichen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wissen dagegen meist nicht, wie sie ihr Vermögen sinnvoll einsetzen sollen: nämlich nicht im Rahmen eines luxuriösen Lebensstils, sondern als Beitrag zum Wohl der Bedürftigen. Das Streben nach weiterem Besitz nimmt sie derart gefangen, daß sie nichts anderem mehr in ihrem Leben einen Platz einräumen können, ja, ihnen entgleitet darüber sogar der Traum vom Glück, den ihre Reichtümer ihnen doch eigentlich erfüllen sollten. Und infolgedessen sind sie ständigen Qualen ausgesetzt: einerseits zerrissen zwischen der Ungewißheit über das, was kommen mag, und der Hoffnung auf Zugewinn, andererseits von psychischem Streß heimgesucht, auch wenn sie nach außen hin ein erfolgreiches und bequemes Leben zu führen scheinen. Zu diesem Schluß gelangt man jedenfalls, wenn man das beträchtliche Ausmaß und die beunruhigende Verbreitung von Angstgefühlen, Unzufriedenheit, Frustration, Unsicherheit und Depressionen innerhalb der Bevölkerungen materiell führender Länder betrachtet. Dazu steht dieses innere Leiden in deutlichem Zusammenhang mit einer wachsenden Verunsicherung darüber, was Moral ausmacht und worauf sie sich gründet.
Auf Auslandsreisen stoße ich oft auf folgenden Widerspruch: Wenn ich in einem neuen Land eintreffe, scheint zunächst alles besonders wunderbar und harmonisch zu sein. Jeder ist ausgesprochen freundlich zu mir; alles ist vollkommen in Ordnung. Doch wenn ich dann den Menschen Tag für Tag zuhöre, lerne ich ihre Anliegen, ihre Probleme und Sorgen kennen – unter der Oberfläche sind viele beunruhigt und mit ihrem Leben unzufrieden. Sie fühlen sich vereinsamt, und das führt zu Depressionen, woraus schließlich jene belastete Stimmung resultiert, die so kennzeichnend für die entwickelten Länder ist.
Anfangs überraschte mich das. Zwar hatte ich nie angenommen, daß materieller Reichtum allein in der Lage sei, Leid zu überwinden, doch wenn ich von Tibet aus – einem Land, das materiell immer sehr arm war – auf die fortschrittlichen Länder der Welt blickte, dann, so muß ich zugeben, glaubte ich durchaus, daß der Wohlstand dort mehr an Leid abschaffen würde, als es tatsächlich der Fall ist. Ich dachte, für Menschen, denen die körperlichen Mühen so sehr abgenommen werden, wie es bei den meisten Bewohnern der entwickelten Länder der Fall ist, müßte das Glück viel leichter zu erlangen sein als für jene, die unter härteren Bedingungen leben. Statt dessen scheinen die außergewöhnlichen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften diesbezüglich kaum mehr zustande gebracht zu haben als eine lineare Steigerung. Vielfach bedeutete Fortschritt kaum mehr als eine größere Anzahl an luxuriösen Häusern in immer mehr Städten, zwischen denen immer mehr Autos hin- und herfahren. Zweifellos ist in manchen Bereichen das Leid gemindert worden, besonders was bestimmte Krankheiten angeht. Doch soweit ich erkennen kann, hat es keine Gesamtverbesserung gegeben.
Dabei fällt mir ein Ereignis ein, das ich bei einem meiner ersten Besuche im Westen hatte. Ich war bei einer sehr reichen Familie zu Gast, die in einem großen, gut ausgestatteten Haus lebte. Alle waren ganz reizend und zuvorkommend zu mir. Das Dienstpersonal las einem jeden Wunsch von den Augen ab, und in mir wuchs allmählich das Gefühl, daß dies hier vielleicht der Beweis dafür war, daß Reichtum eben doch eine Quelle für Glück sein könnte. Meine Gastgeber strahlten immer entspannte Zuversicht aus, doch als ich in einem Badezimmer hinter einer halb geöffneten Schranktür eine ganze Ansammlung von Beruhigungs- und Schlafmitteln entdeckte, wurde mir wieder einmal schmerzhaft bewußt, daß zwischen dem äußeren Schein und der inneren Wirklichkeit oft eine große Lücke klafft.
Dieser Widerspruch, daß inneres Leid – man kann auch sagen: psychisches oder emotionales Leid – so oft mit materiellem Wohlstand einhergeht, ist in weiten Teilen der westlichen Welt nur allzu verbreitet. Ja, er ist derart allgegenwärtig, daß man sich fragen könnte, ob der westlichen Kultur etwas zu eigen ist, was die Menschen dort für derartiges Leid besonders anfällig macht. Ich bezweifle das. Zu viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, und zweifellos gehört die Entwicklung des Wohlstands selbst auch dazu. Aber es läßt sich auch die zunehmende Verstädterung der modernen Gesellschaft anführen, die dazu führt, daß sehr viele Menschen sehr dicht beieinanderwohnen. In diesem Zusammenhang darf man auch nicht vergessen, daß wir uns anstatt auf die Nachbarschaftshilfe heute zunehmend auf Apparate und Dienstleister verlassen. Wo Bauern früher zusammen mit der ganzen Familie die Ernte einbrachten, da rufen sie heute lediglich einen entsprechenden Unternehmer an.
Das moderne Leben ist so durchorganisiert, daß eine direkte Abhängigkeit von anderen auf ein Minimum reduziert ist. Das offenbar überall vorherrschende Ziel scheint für jedermann darin zu bestehen, ein eigenes Haus, ein eigenes Auto, einen eigenen Computer et cetera zu besitzen, um so unabhängig wie möglich zu sein. Auch die wachsende Unabhängigkeit, die die Menschen aufgrund wissenschaftlicher und technologischer Fortschritte genießen, gehört dazu. Heute kann man in der Tat von anderen unabhängiger sein als je zuvor. Doch mit dieser Entwicklung stellt sich auch das Gefühl ein, daß wir zur Gestaltung unserer eigenen Zukunft nicht mehr auf unseren Nachbarn, sondern auf unseren Job angewiesen sind – bestenfalls also auf unseren Arbeitgeber. Und das wiederum führt bei uns zu folgender Einstellung: Da andere für mein Glück unmaßgeblich sind, ist auch...