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1. November 1955, Allerheiligen, 10.35 Uhr.
Als Johanna Mehnert zur Andacht niederkniete, murmelte sie nicht das Vaterunser, sondern ein Stoßgebet für ihren Wilfried. Sie hatte ein ungutes Gefühl, eine dunkle Vorahnung. Ihr Sohn war in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen. Kein Lebenszeichen. Nichts. Die mütterlichen Instinkte schlugen Alarm, weil so etwas zum ersten Mal überhaupt passierte.
Auf dem Heimweg drängte sie ihren Mann Heinz zur Eile. Der 56-jährige Bäckermeister versuchte zu beruhigen. »Der Junge wird bestimmt schon zu Hause warten«, tröstete er. »In seinem Alter schlägt man schon mal über die Stränge. Als ich sechs-undzwanzig war …«
Sie unterbrach ihn abrupt. »Aber Wilfried ist noch nie eine Nacht weggeblieben. Noch nie. Er hätte bestimmt angerufen. Er weiß doch, dass wir uns sonst Sorgen machen. Da muss etwas passiert sein!«
»Was soll denn schon passiert sein? Der Junge weiß sich zu helfen, er ist doch kein Kind mehr.« Mehnert gab sich alle Mühe, aber er klang nicht sonderlich überzeugend.
Und seine Frau wollte sich nicht beschwichtigen lassen. Es war etwas höchst Ungewöhnliches passiert, und alle Gründe und Erklärungen, die ihr dazu einfielen, missfielen ihr. »Vielleicht steht der Wagen jetzt vor der Tür«, versuchte sie sich und ihrem Mann wieder ein wenig Mut zu machen.
Die letzten Meter, ehe sie in die Glockenstraße einbogen, rannten die Eltern beinahe. Doch keine Spur von dem hellblauen Ford M 15, mit dem Wilfried am Abend zuvor noch einmal in die Düsseldorfer Altstadt gefahren war. Und in der Wohnung war er auch nicht. Als nach anderthalb Stunden und unzähligen Telefonaten das Schicksal ihres Sohnes nach wie vor ungewiss war, machte Johanna Mehnert sich auf den Weg. »Ich gehe zur Kripo. Du bleibst hier, falls er sich doch noch meldet«, beschied sie ihren Mann.
Wenig später saß die 53-Jährige einem Beamten in der Kriminalwache des Polizeipräsidiums gegenüber. »Helfen Sie mir! Mein Sohn ist verschwunden! Ich habe das furchtbare Gefühl, dass ein Verbrechen dahintersteckt!« Johanna Mehnert war außer sich.
Doch der Kripomann lächelte. Dass besorgte Mütter oder Väter das vermeintliche Verschwinden ihrer Töchter oder Söhne anzeigten, war nichts Außergewöhnliches. Und dass die Vermissten schon nach kurzer Zeit unversehrt und putzmunter wieder auftauchten, war der Regelfall.
»Immer mit der Ruhe, Frau Mehnert. Wir wollen nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Seit wann ist Ihr Sohn denn verschwunden?«
»Seit gestern Abend. Er hat meinen Mann und mich nach dem Theater noch nach Hause gebracht. Dann haben wir ihm unseren Wagen geliehen, er wollte noch in die Altstadt in ein Nachtlokal. Er war mit einem jungen Mädchen zusammen …«
Der Beamte unterbrach sie. »Und wer hat die beiden zuletzt gesehen?«
»Der Wirt vom ›Csikós‹. Das ist so ein Künstlerlokal, wo Wilfried manchmal verkehrt. Er sah die beiden in den Wagen meines Sohnes steigen und davonfahren.«
»Na ist doch klar«, ereiferte sich der Kripobeamte, »sie werden eine Spritztour unternommen haben. Das soll ja schon mal vorkommen, gerade in dem Alter. Meinen Sie nicht auch?«
»Vielleicht. Aber Liesel ist ein anständiges Mädchen. Die beiden wollen bald heiraten.«
»Dann ist es ja noch wahrscheinlicher, dass sie mal ein bisschen allein sein wollten. Sie waren doch auch mal jung.« Der Kommissar grinste. »Warten Sie es ab, Ihr Sohn ist bald wieder da!«
Aber Johanna Mehnert wollte sich nicht einfach so abfertigen lassen, die Sache war zu ernst. »Jetzt hören Sie mir mal zu!«, fuhr sie den Beamten an. »Ich kenne meinen Sohn. Besser als Sie. Und wenn ich Ihnen sage, dass so was überhaupt noch nicht vorgekommen ist, dann kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen Geschichten, die mit meinem Wilfried nicht das Geringste zu tun haben …«
Bevor sie sich in Rage reden konnte, wurde sie unterbrochen. »Schon gut! Kommen Sie bitte mit, wir nehmen jetzt eine Anzeige auf.«
Es war der 2. November, als gegen 22.15 Uhr im Hause Mehnert das Telefon schrillte. Heinz Mehnert hob ab und meldete sich mit Namen. Zunächst blieb es still. Dann aber sagte eine merkwürdig verstellte männliche Stimme: »Verdammtes Pack! Recht so! Ihr habt es nicht anders verdient! Es ist gut, dass das Schwein kaputt ist!« Konsterniert legte Mehnert den Hörer wieder auf die Gabel. »Wer war das denn so spät?«, fragte seine Frau. Mehnert überlegte einen Moment. Schließlich antwortete er: »Ach, nichts, vermutlich falsch verbunden.«
Am 9. November wurde im Landes-Kriminalblatt, einem periodisch erscheinenden Fahndungsjournal des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, in der Rubrik »Vermißte, unbekannte Personen und unbekannte Tote« folgende Mitteilung abgedruckt:
»1. Mehnert, Wilfried, Franz Wilhelm, Bäckermeister, 14. 4. 29 Hamborn, zuletzt Düsseldorf, seit dem 1. 11. 55.
BESCHREIBUNG: 1,90 m, schlank, ovale Kopfform, hellblondes dichtes zurückgekämmtes Haar, ovales blasses Gesicht, hohe Stirn, blaue Augen, helle bogenförmige Augenbrauen, geradlinige Nase, schmale Lippen, im Oberkiefer Brücke mit 2 Goldzähnen, große gepflegte Hände, leicht nach vorn gebeugte lässig wirkende Haltung.
BESONDERE KENNZEICHEN: Am Unterleib rechts und mittig zwei größere Operationswunden.
BEKLEIDUNG: Brauner Filzhut, Kamelhaarmantel, unigrauer Anzug, graue Weste mit grün-blauen Karos, gestreiftes Seidentuch (quergestreift gold, braun und grau), schwarze Schuhe, Marke ›Balli‹. Trägt am rechten Mittelfinger goldenen Ring mit kleinen grünen und blauen Steinen, goldene Armbanduhr mit Lederarmband, außerdem ein silbernes Kettchen mit holländischer Münze.
2. Ingensandt, Lieselotte (wird Liesel gerufen), Magdalena Ruth, kaufmännische Angestellte, 25. 10. 33 Menden, zuletzt Brilon (in Düsseldorf zuletzt mit
MEHNERT (1.) gesehen), seit dem 1. 11. 55.
BESCHREIBUNG: 1,68 m, schlank, schmales Gesicht, hellblondes schulterlanges Haar (zum Pferdeschwanz gebunden), blau-grüne Augen, geradlinige Nase (Stupsnase), schmale Lippen, kleiner Mund.
BESONDERE KENNZEICHEN: hat leichte Rückgratverkrümmung. BEKLEIDUNG: weißes Petticoatkleid mit rosafarbenen Rosen, weiße Pumps (spitz zulaufend), schwarzer Wollmantel. Trägt silberfarbenen Armreif linke Hand, goldenes Collier, goldener Fingerring linke Hand (Gravur: ›10. 08. 55 Wilfried‹).
Die Gesuchten wurden letztmals in einem Ford M 15, polizeiliches Kennzeichen BR 781-378, hellblau, Limousine, Baujahr 1955, gesehen.«
Zu dieser Zeit waren bereits sämtliche Wachen und Streifenwagenbesatzungen im Düsseldorfer Stadtgebiet über das Verschwinden informiert. Routinemäßig überprüfte die Kripo nun bundesweit alle Fälle mit »unbekannten Toten«, allerdings ohne Erfolg. Auch im Verwandten- und Bekanntenkreis der Gesuchten herrschte Ratlosigkeit, niemand hatte sie nach dem 31. Oktober gesehen, niemand hatte eine Nachricht erhalten.
Eine Woche nach Beginn der Fahndung begann das 1. Kriminalkommissariat sich für den Fall zu interessieren. Die Todesermittler vermuteten einen »kriminellen Hintergrund«. Wenn Lieselotte Ingensandt und Wilfried Mehnert tatsächlich Opfer eines »Kapitalverbrechens« geworden waren, war Eile geboten. Denn der Täter hatte mittlerweile einen enormen Zeitvorsprung und jedes weitere Zögern konnte zur Folge haben, dass Beweismittel vernichtet wurden. Aber auch ein Unglücksfall oder ein gemeinsamer Selbstmord konnten nicht ausgeschlossen werden. Zunächst mussten die Fahnder also »in alle Richtungen« ermitteln, wurde der neugierig gewordenen Presse mitgeteilt. Unerwähnt blieb indes eine weitere Vermutung der Kripo, Mehnert könnte seine Verlobte nach einem Streit getötet und sich danach mit dem Wagen der Eltern ins Ausland abgesetzt haben. Ein Verbrechen aus Leidenschaft?
Tatsächlich deuteten eine Reihe von Umständen zunächst auf eine »Beziehungstat« hin: das spurlose Verschwinden der Gesuchten und des Wagens, vor allem aber der Lebenswandel von Wilfried Mehnert, der nicht recht zu einem soliden Bäckermeister passen wollte. Schnell hatten die Ermittler nämlich herausgefunden, dass Mehnert sich nach Feierabend zu einem der elegantesten Lebemänner, Partygänger und Schürzenjäger Düsseldorfs mauserte. Er ging allerdings nie allein aus. Fast immer umringten ihn drei Freunde, sämtlich teils wesentlich älter und nicht annähernd so elegant gekleidet wie der gut aussehende, junge Beau, der nur maßgeschneiderte Anzüge trug und einen teuren Wagen fuhr. Aber die drei Männer bildeten genau den Rahmen, den Mehnert brauchte. Sie hörten ihm zu, lachten, wenn er scherzte, widersprachen nicht, stellten keine unangenehmen Fragen. Mehnert bezahlte dafür, hielt seine Freunde aus. Er hatte stets Geld bei sich, ungewöhnlich viel für jemanden aus seinem Berufsstand.
Regelmäßig fuhr das ungleiche Quartett spätabends zuerst dorthin zum Essen, wo es elegant und teuer war. Danach amüsierte man sich in Düsseldorfer Nacht- und Szenelokalen, in denen getanzt wurde und zahlreiche Frauen verkehrten, die auch zum Tanz aufgefordert werden wollten. Mehnert selbst hielt sich zurück. Er saß am liebsten an einem Tisch inmitten seiner Freunde, plauderte ausgelassen, lauschte der Musik – und überlegte, welche Frau er wohl ansprechen könnte.
Erst in den Morgenstunden stand er auf, wenn er ein Mädchen entdeckt hatte, das nach seinem Geschmack war. Mühelos gelang es ihm, die Damen anzusprechen. Nach einer Weile bezahlte er für sich und seine Kumpels die Rechnung, gab ein großzügiges Trinkgeld. Dann hakte er sich bei seiner Bekanntschaft unter und verschwand mit ihr.
Nachdem einige...