1 Demenz braucht breites Denken und Handeln
Markus Horneber und Janine Hübner
Immer mehr Menschen erkranken an einer Demenz: Laut des Welt-Alzheimer-Berichts 2016 leiden weltweit 47 Millionen an dieser Krankheit. Ihre Zahl wird aufgrund des demografischen Wandels bis 2050 voraussichtlich auf 131 Millionen Erkrankte ansteigen (Alzheimer‘s Disease International 2016). Von diesem global zu verzeichnenden Trend ist auch Deutschland betroffen. Aktuell wird die Zahl der in Deutschland erkrankten Männer und Frauen auf rund 1,6 Millionen geschätzt (Statista 2018). Im Rahmen des demografischen Wandels wird eine Steigerung des Anteils der Bürger mit einem Alter über 65 Jahren von aktuell ca. 22% auf etwa 32% im Jahr 2050 prognostiziert (Statistisches Bundesamt 2015). Einhergehend mit dem Umstand, dass das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, mit dem Alter signifikant ansteigt, ist eine deutliche Zunahme der an Demenz erkrankten Personen zu rechnen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2018).
Versorgung von Menschen mit Demenz als zukünftige Herausforderung
Das Gesundheitswesen steht daher in den nächsten Jahren vor der Herausforderung, die quantitativ mehr und qualitativ immer älter und multimorbider werdenden Menschen adäquat zu versorgen. Von dieser Entwicklung betroffen sind vor allem Krankenhäuser: Personen, die kognitive Defizite aufweisen, sind nicht oder nur bedingt in der Lage, sich auf neue Situationen einzustellen und entsprechend anzupassen. Eine Einweisung ins Krankenhaus stört die gewohnten Abläufe und verändert die Umgebung von Demenzpatienten drastisch, so dass hieraus eine unmittelbare Verschlechterung ihres Gesundheitszustands resultieren kann. Die Behandlung eines Patienten mit Demenz stellt das Krankenhaus, seine Organisation und die Mitarbeitenden vor besondere Herausforderungen. Ziel einer jeden Gesundheitseinrichtung muss es daher sein, ihre Strukturen und Prozesse an den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz auszurichten und nicht, wie häufig noch praktiziert, die Betroffenen in Standardabläufe zu zwängen.
Der Mensch steht im Mittelpunkt
Dieses Werk orientiert sich an diesem Grundsatz und nimmt die Haltung »Der Mensch steht im Mittelpunkt« als Leitgedanken auf. Dies wird in der Auswahl der Themen und der Inhalte deutlich: Die einzelnen Kapitel umfassen die verschiedenen Rahmenbedingungen und versorgungsspezifischen Aspekte, die für Menschen mit Demenz und Delir im Zuge eines Krankenhausaufenthaltes von Bedeutung sind.
Herausforderung: Behandlung »Nebendiagnose Demenz«
Ein Mensch mit Demenz wird eher in Ausnahmefällen stationär im Krankenhaus aufgenommen, weil er an Demenz erkrankt ist. Häufig ist seine kognitive Einschränkung vor seiner Aufnahme noch nicht einmal bekannt. Der Krankenhausaufenthalt wird vielmehr durch akute Situationen wie z. B. ein traumatisches Ereignis (z. B. Sturz), Verschlechterung des Allgemeinzustandes oder eine geplante Operation ausgelöst. Entsprechend fokussiert sich die Behandlung des Patienten auf die festgelegte Einweisungs- bzw. Hauptdiagnose. Die Demenz kann, wenn sie vorher bekannt ist oder während des Aufenthaltes diagnostiziert wird, dann als Nebendiagnose abgebildet werden. Die Herausforderung seitens des Krankenhauses besteht nun darin, den Patienten nicht nur entsprechend seiner Hauptdiagnose, sondern auch entsprechend seiner Demenz bestmöglich zu versorgen. Die Organisation, Strukturen und Prozesse müssen darauf ausgerichtet sein, durch verschiedene Konzepte und Maßnahmen zum einen den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz gerecht zu werden, zum anderen bei gefährdeten Patienten die Entwicklung eines Delirs zu verhindern. Die verschiedenen Ansatzpunkte und Umsetzungsmöglichkeiten stehen im Zentrum dieses Buchs.
Bei der Konzeption des Werks wurde besonders auf Praxisnähe und Praxisrelevanz geachtet.
Zur praxisnahen Strukturierung der Themen sind diese nach Führungs-, Kern- und Unterstützungsprozessen unterteilt. Die Qualitätsmanagementnorm DIN EN ISO 9001:2015 mit ihren Normkapiteln dient ebenfalls als Bezugssystem, um qualitätsrelevante Aspekte mit einzubinden ( Abb. 1.1).
Durch den prozessorientierten Aufbau fügen sich die Inhalte zu einem umfassenden und ineinandergreifenden Gesamtkonzept zusammen. Durch die jeweiligen Schwerpunkte der (Unter-)Kapitel erschließen sich die Inhalte einzelner Abschnitte, aber auch isoliert.
Kapitel 1: Rahmen und Einstieg in Demenz und Delir
In Kapitel 1 wird deutlich, wie die Zusammenarbeit zur Herausgabe des Buches zustande gekommen ist und welcher Intention diese folgt. Das Konzept sowie die Inhalte werden vorgestellt ( Kap. 1) und ein erster thematischer Zugang zu »Demenz und Delir« geschaffen ( Kap. 1.1). Da sich die kognitive Störung der Patienten als sehr komplex darstellt, ist es zu Beginn wichtig, ein grundlegendes Verständnis der Erkrankung zu schaffen. Anzuerkennen ist, dass es unterschiedliche Ausprägungen des Menschen mit Demenz gibt, so dass die geeigneten Maßnahmen und Notwendigkeiten grundsätzlich je nach Krankheitsausprägung variieren. In diesem Werk stehen die mobilen, körperlich aktiven Betroffenen im Fokus, die kognitiv leicht bis schwer durch ihre Demenz eingeschränkt sind.
Kapitel 2: Architektur, Mitarbeitende und Kommunikation
In Kapitel 2 wird das »demenzsensible Krankenhaus« auf der Ebene der Unterstützungsprozesse beleuchtet. Die den Unterstützungsprozessen zugeordneten Themenbereiche sind nicht direkter Bestandteil des Behandlungs- und Therapieprozesses, sondern wichtige Rahmenbedingungen, deren demenzorientierte Ausgestaltung positive Auswirkungen auf den Menschen mit Demenz und seine Behandlung, die Mitarbeitenden und damit auch auf die Organisation erzeugen.
Menschen mit Demenz als besonders vulnerable Patientengruppe sind in einer fremden Umgebung durch viele Faktoren wie Reizüberflutung und Verlust der eigenen Routinen stärker gefährdet, dass sich ihr Gesundheitszustand weiter verschlechtert und sich z. B. ein Delir entwickelt. Eine demenzsensible Ausgestaltung der baulichen und räumlichen Gegebenheiten, die Sicherheit
Abb. 1.1: Struktur der Buchkapitel nach DIN EN ISO 9001:2015 als Bezugssystem
und Orientierung bietet, kann dem positiv entgegenwirken ( Kap. 2.1). Hilfreich sind hier vertraute Gegenstände sowie gestalterische und strukturelle Elemente, die die räumliche Wahrnehmung unterstützen und Geborgenheit bieten.
Da bei (nahezu) allen Leistungen, die der Patient während seines Krankenhausaufenthalts erhält, zwischenmenschliche Interaktion erfolgt, tragen die Mitarbeitenden wesentlich zum Erfolg eines jeden demenzsensiblen Krankenhauses bei ( Kap. 2.2). Hier gilt es, die folgenden Aspekte zu berücksichtigen:
Fachlichkeit und Professionalität sind wichtige Bestandteile in der Behandlung und Betreuung von demenziell Erkrankten ( Kap. 2.2.1). Sie sind die Basis einer dem aktuellen Wissensstand entsprechenden, erfahrungsbasierten und interdisziplinären Therapie durch die verschiedenen beteiligten Professionen.
Mit der Stärkung der persönlichen Ressourcen von Mitarbeitenden ( Kap. 2.2.2) wird eine Win-win-Situation geschaffen, denn zwischen Gesundheit und Arbeitszufriedenheit von Mitarbeitenden besteht ein direkter Zusammenhang. Beides wirkt sich wiederum auf die Adhärenz des Menschen mit Demenz aus und kann damit das Behandlungsergebnis und den Gesundheitszustand positiv beeinflussen.
Eine besondere Rolle in der Patientenversorgung und im Mitarbeiterkontext kommt dem ehrenamtlichen Engagement zu ( Kap. 2.2.3). Ehrenamtliche leisten durch das Angebot von Beziehung und Bindung einen wichtigen Beitrag in der Stabilisierung und Förderung des Menschen mit Demenz während seines Krankenhausaufenthaltes. Dafür bedarf es der Entwicklung und Implementierung strukturierter Ehrenamtskonzepte mit klaren Aufgaben und Grenzen, organisatorischer Planung und Verantwortlichkeiten sowie Schulungsangeboten.
Krankheitsbedingt kann die Kommunikation mit Menschen mit Demenz massiv erschwert sein. Es gilt daher, seitens der Mitarbeitenden auf verbaler und nonverbaler Ebene bedürfnisgerecht mit diesem zu interagieren ( Kap. 2.3). Eine personzentrierte Haltung und der Aufbau einer empathischen und wertschätzenden Beziehung sind hierfür eine wichtige Basis.
Kapitel 3: Aufnahme, Diagnose, Behandlung und Entlassung
Der Kernprozess ( Kap. 3) umfasst alle Tätigkeiten und Abläufe von der Aufnahme über die Behandlung bis hin zur Entlassung. Dabei beinhaltet jeder Teilprozess mögliche kritische Situationen für den Menschen mit Demenz, die (bei einer unzureichenden Kenntnis über den psychischen Zustand des Patienten) jeweils zu einer Verschlechterung des kognitiven Zustands bis hin zum Delir führen können.
Der Aufnahmeprozess eines Patienten unterscheidet sich, je nachdem ob es...