Teil I
Der Junge
Wenn der Junge das Telefon abnimmt, meldet er sich mit seinem vollen Namen. Manche Anrufer, die seine Mutter sprechen wollen, sind belustigt und ahmen ihn nach, als hätte der Junge in kindlicher Selbstverliebtheit etwas gesungen, das ein zärtliches Echo verdient. Wenn er seinen ganzen Namen ausspricht, kommt er auf neun Silben. Sie haben nicht nur Klang, sondern auch Rhythmus. Wie eine Wellenbewegung. Aber das ist nicht der Grund, warum er den Mund so voll nimmt; es ist der Versuch, sein Schicksal abzuschwächen. Sein zweiter Vorname, das ist seine Hoffnung, soll die Exotik seines ersten Vornamens mildern: Ijoma Alexander Mangold.
Wenn man es so betrachtet, steht es eigentlich zwei zu eins für Deutschland. Aber nur, wenn es ihm gelingt, den anderen die Existenz seines zweiten Vornamens in Erinnerung zu rufen.
Er dringt mit seinen Versuchen nicht wirklich durch. Obwohl sein zweiter Vorname auf offiziellen Dokumenten, zum Beispiel auf Sporturkunden, auftaucht, wird ihm nicht dieselbe Bedeutung zugemessen wie seinem Rufnamen. Kein Zweifel, die Erwachsenen sind der Überzeugung, dass Ijoma der Name ist, der den Jungen am besten bezeichnet – obwohl alle erst einmal über diesen Namen stolpern. Das Stolpern löst bei ihm Schamgefühle aus. Das scheint die anderen nicht zu stören. Es scheint ihnen sogar ein besonderes Vergnügen zu bereiten, die unalltägliche Schönheit seines Vornamens zu preisen; wenn der Junge dem folgen wollte, müsste er sich glücklich schätzen, nicht Matthias, Andreas oder Oliver zu heißen.
Er sieht das anders, sagt es aber nicht. Der Druck, das spürt er, sich zu seinem Vornamen zu bekennen, ist groß. Seine Mutter hat ihm zwar schon mehrmals erklärt, er könne sich im Kindergarten oder in der Schule auch Alexander nennen lassen; aber einen regelrechten Namenswechsel kann er sich nicht vorstellen. Man kann doch den Leuten nicht sagen, sie mögen einen von jetzt an anders nennen. «Was hast du denn? Warum willst du denn deinen schönen Vornamen loswerden?», würde es dann heißen. So weit will er nicht gehen.
Seine Mutter hat ihm erzählt, Alexander heiße er nach seinem Ururgroßvater, der ein Schneider mit einigen Gesellen in Berlin gewesen sei. Immer wieder einmal ist von dem Ururgroßvater die Rede. Der Junge hört diese Geschichten gern. Er schätzt seinen Berliner Vorfahren, der gewissermaßen eine schützende Hand über seinen zweiten Vornamen hält. Sollte sein zweiter Vorname immer weiter und weiter zurückgedrängt werden, könnte er sich zur Verteidigung auf seinen Ururgroßvater berufen.
*
Sein erster Vorname ist eine Hinterlassenschaft seines Vaters. Gemessen an dem Umstand seiner völligen Abwesenheit ist das, findet der Junge, eine ziemlich nachhaltige Einmischung. Über seinen Vater weiß er, dass er in Heidelberg Medizin studiert hat, aber bald nach der Geburt des Jungen nach Nigeria zurückgegangen ist. Fotos: Da steht der Vater neben der Großmutter und hält seinen Sohn in den Armen. In Anzug und Krawatte. Im Hintergrund Weinberge, der Odenwald. Der Junge interessiert sich nicht sonderlich für die Aufnahmen, aber wenn die Mutter sie mal wieder hervorkramt – er kann das schlecht verhindern –, ist er jedes Mal verblüfft über die reine Freude, die sich dort im Gesicht der Großmutter zeigt. Nimmt sie, fragt er sich, gar keinen Anstoß an der Anwesenheit des fremden Mannes? Warum ist sie nicht irritiert von seiner Fremdheit? Kommt es ihr nicht unstatthaft vor, dass sich der unbekannte Mann so raumfüllend aufs Familienfoto drängt? Anders als bei der Mutter, die stets für Überraschungen gut ist, kann er sich bei seiner Oma eigentlich auf normale Reaktionen verlassen. Wäre es nach dem Jungen gegangen, das Foto und ähnliche wären aus dem Album aussortiert worden. Selbst gegen eine Retouche hätte er nicht protestiert. Wen es im Leben nicht gab, der musste sich auch auf Fotos nicht zu Wort melden.
Der Junge grollt dem Vater nicht, aber ebenso wenig vermisst er ihn. Er hat keine Erinnerungen an ihn, deshalb kann er keinen Grund erkennen, dass er in Fotoalben auftaucht.
Die Mutter sieht das anders. Immer wieder schwärmt sie vom Vater. Der Junge durchschaut ihre Absicht: Sie möchte ein einnehmendes Vaterbild in seiner Seele verankern. Er soll nicht schlecht über ihn denken, nur weil er nicht da ist. Soll sich nicht sitzengelassen fühlen. Ab und zu erzählt sie ihm die Geschichte, wie der Vater mit der Unterstützung des Dorfes, aus dem er stammte, nach Deutschland zum Medizinstudium gekommen sei; für ihn habe es sich von selbst verstanden, dass er die hier erworbenen Fähigkeiten, zuletzt als Facharzt für Kinderchirurgie, eines Tages seinem Heimatland zurückgeben werde. Umgekehrt sei es für sie, seine Mutter, nicht vorstellbar gewesen, mit ihm und dem Sohn nach Afrika zu gehen. Bei aller Liebe zu Afrika, dafür sei sie doch zu sehr Deutsche. Man habe sich im Guten getrennt, für Vorwürfe gebe es keinen Grund.
Die Gespräche über den abwesenden Vater sind dem Jungen nicht angenehm. Mag die Mutter den Vater noch so sehr rühmen, als hätte alles seine Ordnung – am Ende ist er, anders als die Väter seiner Freunde, nicht da. Und warum soll er sich Geschichten anhören über einen Menschen, den es nicht gibt?
Zu seiner Erleichterung kommt es nicht allzu oft zu solchen Gesprächen.
Der Vater, und das ist die gute Nachricht, hat in Nigeria eine neue Familie gegründet. Um nicht die Eifersucht seiner Ehefrau heraufzubeschwören und damit den dortigen Haussegen zu gefährden, habe man, fährt die Mutter fort, beschlossen, erst einmal nicht in Kontakt zu bleiben. Die Eifersucht der neuen Ehefrau gefällt dem Jungen, so muss er nicht damit rechnen, dass der Vater plötzlich vor der Tür steht. In Anzug und Krawatte. Der Junge hat kein Interesse an Überraschungen. Der abwesende Vater ist eine Lücke, ein Makel, aber solange man ihn nicht erwähnt, fällt die Lücke gar nicht so sehr auf. Wenn die Mutter wieder einmal feststellt, der Junge habe dieselben schönen Klavierspielerhände wie sein Vater, verdreht er die Augen. Nicht die Abwesenheit des Vaters ist das Problem, sondern die Spur, die er hinterlassen hat, die Zeichen, die auf ihn verweisen. Am meisten anwesend aber ist der Vater in seinem Vornamen; wenn der Junge ihn nennt, kommt es fast jedes Mal zu Fragen, deren Beantwortung die Leute überhaupt erst darauf stößt, dass an den Verhältnissen des Kindes etwas komisch ist. «Ach so, du hast den Vornamen von deinem Vater und den Familiennamen von deiner Mutter?» Aus irgendeinem Grund fänden es die Leute andersherum einleuchtender.
Solche Situationen kann man überstehen, sie gehen schnell vorbei. Wenn die Mutter nur nicht so einen Kult um seinen Vornamen treiben würde! Welch ungewöhnlich schönen Klang er habe; dass er «Glücksfall» bedeute; dass er in Nigeria keineswegs exotisch sei; dass es den Wohllaut immer unterstütze, wenn ein Name über drei verschiedene Vokale verfüge. Dass dieser Name, in dem der Junge seine große Schwäche erkennt, nach Ansicht der Mutter nun, im Gegenteil, Anlass zu Stolz sein soll, das stellt die Dinge auf den Kopf. Aber der Junge sagt nichts.
Ohnehin ist er überzeugt, dass sein Vorname gar nicht so viel mit dem Vater zu tun hat, mehr mit der Mutter und ihrem Hang, immer alles anders zu machen als die anderen. Sich einen Nigerianer zum Vater ihres Kindes zu wählen – auf die Idee kann nur seine Mutter kommen. Ein Familienleben durchzuziehen ohne Vater – welche Frau macht das sonst? Und dann dem Kind auch noch einen Namen zu geben, der alles andere als eine Tarnung ist – das ist der Gipfel der Furchtlosigkeit.
*
Zum Glück gibt es Dossenheim, einen Vorort von Heidelberg. Die Kraft der Wohlgeordnetheit ist dort so groß, dass sie den Jungen und seine ungewöhnlichen Verhältnisse mühelos umhüllt. Wenn die Mutter arbeitet, ist der Junge bei den Pflegeeltern. Tatie und Pfeifer-Papa. Sie sind Ur-Dossenheimer und haben selber vier Kinder, die aber schon erwachsen sind. Bei ihnen ist alles anders, manches zwar auch ein wenig unheimlich, aber doch von beruhigender Ordnung. Pfeifer-Papas linker Arm endet oberhalb des Ellenbogens. Im Krieg hat ihn ein Schuss getroffen, der Unterarm musste amputiert werden. Von welchem Krieg die Rede ist, ist dem Jungen unklar, doch dass man dabei seinen Arm verlieren kann, leuchtet ihm ein. Er kennt das. Er hat nämlich einen Onkel, mit dem man sich eigentlich nicht unterhalten kann. Der schaut einen immer so misstrauisch an, als wollte er einem gleich etwas verbieten oder hätte einen bei etwas Verbotenem erwischt; die Tante aber sagt, das liege nur daran, dass er so schlecht höre, im Krieg habe er einen Durchschuss durchs Ohr bekommen. Da ist Pfeifer-Papa mit seinem Armstumpf sympathischer. Der schaut nie grimmig. Allenfalls manchmal traurig, wenn er vom Leid der Welt spricht. Aber wie eindrucksvoll ist es zu sehen, mit welcher Geschicklichkeit er den Armstumpf zum Einsatz bringt, wenn er eine Konservendose öffnet, indem er sie zwischen Oberarm und Brust fixiert, um dann mit der gesunden Hand den Dosenöffner anzusetzen. Nur am Sonntag, zum Kirchgang, legt Pfeifer-Papa außer der Krawatte auch seine Prothese an. Das erinnert den Jungen an seine Oma, die ihre dritten Zähne auch nur einlegt, wenn sie Besuch...