Kapitel 1
Wo stehen wir gerade?
Das Letzte, was Jonny K. von seinem Vater hörte, waren die Worte: »Junge, pass auf dich auf.« Wenige Stunden später lag Jonny K. auf dem harten Asphalt in Nähe des Berliner Alexanderplatzes. Es war Nacht. Mehrere Jugendliche traten auf ihn ein. Sein Kopf blutete. Sie hörten nicht auf. Auch nicht, als Jonny sich längst nicht mehr rührte. Sie stießen in seine Rippen, trafen ihn von der Seite, von hinten und von vorne. Widerstand leistete Jonny da schon längst nicht mehr. Wenn er Glück hatte, war er zu diesem Zeitpunkt schon bewusstlos. Seine Angreifer interessierte das nicht. Sie waren nicht zu bremsen.
Das Schicksal des jungen Berliners hat nicht nur die Menschen in der Hauptstadt tief berührt. Besucher und Touristen waren verunsichert. Viele wollten wissen, ob es denn am Alexanderplatz noch sicher sei. Denn Jonny K. hatte seine Angreifer nicht gekannt. Sein Verhängnis war, dass er einem Freund helfen wollte.
Nach einer Geburtstagsfeier in einem Club war Jonny K., dessen Mutter aus Thailand stammt, noch mit Freunden unterwegs. Die Gruppe suchte ein Taxi. Einer von ihnen war zu betrunken, um noch stehen zu können. Sie setzten ihn auf einen Stuhl. Da kam eine Gruppe junger Männer auf sie zu. Sie pöbelten den Betrunkenen an und zogen den Stuhl weg. Jonny K. eilte ihm zur Hilfe. Da geriet er selbst in das Visier der Angreifer. Am darauffolgenden Tag starb Jonny K. im Krankenhaus, ohne noch einmal aufzuwachen. Zu schlimm waren die Verletzungen.
Kann man Jonny K. vorwerfen, dass er betrunken war? Nein. Hätte er nachts zu Hause bleiben sollen? Nein. Musste er in Nähe des Alexanderplatzes mit einem solchen Vorfall rechnen? Nein.
»Das Schicksal meines Bruders hat mich aus dem Leben geworfen«, sagt Tina K., seine Schwester heute. »Im Krankenhaus lag mein Bruder auf der Intensivstation, ein Polizist erklärte mir, was vorgefallen war. Es fühlte sich so falsch an. Ich kannte alle seine Freunde. Wir lebten in einem behüteten Umfeld. Mir war klar: Wenn so etwas meinem Bruder mitten in Berlin auf dem Alexanderplatz passieren kann, dann kann es jeden treffen.«
Es wäre zu leicht, den Fall Jonny K. einfach nur damit abzutun, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Denn von diesen »falschen Orten« gibt es immer mehr in Deutschland. Sie entstehen auf öffentlichen Plätzen, in Bussen und sogar im eigenen Zuhause.
Für die Polizei ist das eine Herausforderung, der sie bald nicht mehr gewachsen ist. Zu schaffen macht den Beamten dabei nicht unbedingt die Kriminalitätsstatistik. Viel schwerwiegender wirkt sich das diffuse Angstgefühl aus, das sich innerhalb der Gesellschaft breitmacht. Als Beleg für dieses Gefühl sei hier auf eine Umfrage des Markforschungsunternehmens Ipsos verwiesen, das die Deutschen nach ihren größten Sorgen befragt hat. Dabei steht die Angst vor »Verbrechen und Gewalt« mit 26 Prozent bei den Befragten an vierter Stelle. Einhergehend mit dieser Angst fürchten sich die Deutschen auch vor einem »moralischen Verfall«, also einer Verrohung der Gesellschaft (Platz acht mit 18 Prozent). (Quelle: Umfrage Ipsos – Dezember 2010).
Gegen dieses Gefühl der Angst ist die Polizei unter den derzeitigen Rahmenbedingungen so gut wie machtlos. Das weiß auch die Bevölkerung. Denn zwei Drittel (67 Prozent) der Deutschen, sagen, dass es »zu wenig Polizei in Deutschland gibt«. Nur 28 Prozent halten die Zahl der Polizisten für »gerade richtig«, und zwei Prozent glauben, es gebe »zu viel Polizei« (Quelle: Umfrage Forsa im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes dbb – Juli 2009).
In diesem Zusammenhang wird häufig den Medien eine Mitschuld gegeben. Sie würden die Situation noch zusätzlich anstacheln. Mit detaillierten Berichten von Tathergängen und reißerischen Überschriften würden sie Angst in der Bevölkerung schüren, so der Vorwurf. Dabei ist nach Meinung vieler Polizeibeamter genau das Gegenteil richtig. Ihnen ist eine schonungslose Aufklärung der Bevölkerung wichtiger als eine – sei es auch eine noch so gut gemeinte – Verharmlosung der Umstände. Denn nur dann werden die Polizisten von Politikern auch ernst genommen.
Derzeit ist oft genug das Gegenteil der Fall. Zumindest macht sich der Eindruck unter den Polizisten breit. Wie sonst auch sollten sie sich erklären, dass Stellen in Polizeistationen gestrichen und an ihrer Dienstausrüstung gespart wird. Ganz so, als habe Deutschland nicht mit einer steigenden Zahl von Wohnungseinbrüchen und zunehmender Gewalt auf den Straßen zu tun. Immerhin gab es laut Bundeskriminalamt (BKA) allein im Jahr 2013 184847 Fälle von »Gewaltkriminalität« in Deutschland. Unter diese Kategorie fällt auch der Fall von Jonny K.
Das Ende der Sicherheit ist erreicht, wenn die Polizei uns nicht mehr schützen kann. Von dieser These geht dieses Buch aus. Ist Sicherheit also ein Grundrecht? Darf, ja muss jeder Bürger erwarten können, dass der Staat ihn beschützt – komme, was da wolle? Die kurze Antwort darauf lautet: »Ja.«
In seinem Artikel zu der Frage »Supergrundrecht Datenschutz« (17. Juli 2013) diskutiert FAZ-Autor Reinhard Müller, wie die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu erreichen sei. Dabei wirft er interessante Fragen auf. »Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit«, heißt es in Artikel 5 der »Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten«. Im deutschen Grundgesetz findet sich der explizite Anspruch auf Sicherheit als Grundrecht allerdings nicht.
Trotzdem legten die verschiedenen Bundesinnenminister Deutschlands in der Vergangenheit immer wieder Wert auf die Feststellung, dass sie mit der Macht ihres Amtes im Besonderen für den Schutz und die Sicherheit der Bundesbürger verantwortlich sind.
Eine heftige Debatte über dieses Thema hatte im Sommer 2013 der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU entfacht. Auf dem Höhepunkt der Spähaffäre um den amerikanischen Geheimdienst NSA (»National Security Agency«) sagte der Minister öffentlich: »Sicherheit ist ein Supergrundrecht«, im Vergleich mit anderen Rechten sei sie deshalb deutlich herauszuheben. Der Satz fiel nach einer Sondersitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) des Bundestags im Juli 2013.
Friedrich war gerade von einer Reise nach Washington, D.C., zurückgekehrt. Dort hatte er als zuständiger Vertreter der Bundesregierung um Aufklärung über die Spionage-Aktivitäten der NSA in Deutschland gebeten, dabei aber auf Granit gebissen. Die Amerikaner blieben jede Erklärung schuldig. Kurz darauf musste Bundesinnenminister Friedrich den Mitgliedern des PKGr, die die Aufgabe haben, die deutschen Geheimdienste im stillen Kämmerlein zu befragen und so zu kontrollieren, zur NSA-Affäre zweieinhalb Stunden Rede und Antwort stehen – und konnte doch nicht viel berichten.
Nach der Sitzung des geheim tagenden Gremiums fiel dann der Satz, der viel über das Amtsverständnis von Innenminister Hans-Peter Friedrich verrät: »Sicherheit ist ein Supergrundrecht.« Nach viel öffentlicher Kritik schränkte Friedrich seine Formulierung später zwar noch einmal ein – denn natürlich dürfe für ein Mehr an Sicherheit die Freiheit nicht aufgegeben werden – doch der Satz war nun mal raus und steht seitdem für sich.
»Sicherheit ist ein Supergrundrecht.«
Gut ein halbes Jahr später – Friedrich war bereits nicht mehr im Amt – kam der neue (und alte) Bundesinnenminister Thomas de Maizière zum Antrittsbesuch beim Bundespolizeipräsidium in Potsdam vorbei und nahm Friedrichs »Supergrundrecht«-These wieder auf. An den Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums, Dieter Romann, an Führungskräfte und an Mitarbeiter der Bundespolizei gerichtet, sagte de Maizière im Januar 2014: »Es gehört zu den Kernanliegen des demokratischen Staates, die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu schützen.«
Aus dem »Supergrundrecht« auf Sicherheit war inzwischen zwar ein etwas geschrumpftes »Kernanliegen des demokratischen Staates« geworden, aber die politische Botschaft der Aussage war gleich: Die Sicherheit der Deutschen gilt es bestmöglich zu schützen.
An dieser Aussage wird sich Innenminister de Maizière messen lassen müssen. Er hat es in der Hand, zu verhindern, dass die Polizei uns nicht mehr schützen kann, dass die Verbrechensrate weiter steigt und dass die Polizeibeamten von Bund und Ländern vor lauter Frust über die mangelnde Rückendeckung aus der Politik die Schnauze voll haben von ihrem Job.
Wie es tatsächlich um die Sicherheit in Deutschland bestellt ist, geht aus der Verbrechensstatistik allein ohnehin nicht hervor. Bestimmte Verbrechen haben größeren Einfluss auf das individuelle Sicherheitsgefühl der Bürger als andere. Sobald körperliche Gewalt angewandt wird, können Bürger einen Diebstahl oder Wohnungseinbruch weniger leicht vergessen, als wenn sie keinen direkten Kontakt mit dem Täter hatten. Auch die Aufklärungsquote der Verbrechen spielt eine Rolle. Besteht selbst bei Bagatelldelikten so gut wie keine Chance, dass der Täter gefasst wird, sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei. Manche Fälle werden gar nicht mehr zur Anzeige gebracht, da sich die Opfer keine Hoffnungen machen.
Doch während die Gewalt im öffentlichen Raum...