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Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen

Ein Essay

AutorVolker Perthes
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783518742778
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR


<p>Volker Perthes, geboren 1958, leitet die Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und gilt als einer der international renommiertesten Nahostexperten. In der edition suhrkamp erschien zuletzt seine Studie <em>Iran - Eine politische Herausforderung</em> (es 2572).</p>

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Leseprobe

Triebkräfte


Vier Jahre nach dem Beginn der arabischen Proteste und Revolten, die freundliche Zeitzeugen schnell zum »Arabischen Frühling« erklärten, ist das Gefühl der Zuversicht und des Aufbruchs einem allgemeinen Gefühl der Ungewissheit gewichen. Auch wissenschaftliche Beobachter können nicht vorhersehen, wie die politische und gesellschaftliche Landschaft des Nahen und Mittleren Ostens in fünf oder zehn Jahren aussehen wird. Wir können allerdings die wichtigsten Faktoren beschreiben, die wir im Blick haben sollten, wenn wir verstehen und einordnen wollen, was vor sich geht: die soziopolitischen Dynamiken in den einzelnen Ländern; Identitäten und ideologische Orientierungen; regionale geopolitische Konflikte und Strukturentwicklungen.

Was in Tunesien begann …


Lassen Sie uns hier zunächst aber einen skizzenhaften Rückblick auf die wichtigsten Ereignisse und Namen einblenden, auf die wir im weiteren Text gelegentlich zurückkommen werden. All diejenigen, die die regionalen politischen Entwicklungen der Jahre seit 2011 noch präsent haben, können die nächsten zehn Seiten getrost überblättern.

Die Geschichte ist oft erzählt worden: Im Dezember 2010 verbrannte sich ein junger Gemüsehändler in einer tunesischen Kleinstadt aus Protest gegen Missachtung und schlechte Behandlung durch die Behörden. Aus den Protesten, die darauf im ganzen Land entbrannten, entstand eine Revolte, die im Januar 2011 zum Sturz des langjährigen tunesischen Präsidenten Zein al-Abidin Ben Ali führte. Die tunesische Revolution entfaltete eine ungeahnte regionale Signalwirkung. Rasch kam es zu Massenprotesten in Ägypten und bald dann auch in anderen arabischen Staaten – insbesondere nachdem im Februar 2011, nach vergeblichen Versuchen, die Demonstrationen niederzuschlagen, Ägyptens Präsident Husni Mubarak stürzte und ein Oberster Rat der Streitkräfte (SCAF) im Namen der Revolution die Macht übernahm. Auch wenn der Begriff des »Arabischen Frühlings« irreleitend war – ich habe ihn möglichst vermieden, weil er in seiner jahreszeitlichen Metaphorik suggerierte, dass wir es hier mit einem Umbruch zu tun hätten, der in wenigen Monaten vollendet sein würde –, so handelte es sich doch um eine Volksbewegung für Würde und Rechte und gegen die »Korruption« oder Arroganz der Mächtigen, die fast alle arabischen Staaten in der einen oder anderen Weise erfasste.[1]

In zwei weiteren dieser Staaten führten die Aufstände zu einem Wechsel an der Spitze. So wurde in Libyen aus Antiregime-Protesten, die der Diktator Muammar al-Gaddafi mit äußerster Gewalt niederzuschlagen versuchte, rasch ein gewaltsamer Aufstand und ein offener Bürgerkrieg. Nachdem der UN-Sicherheitsrat ein bewaffnetes Eingreifen zum Schutz der Zivilbevölkerung im Osten des Landes legitimiert hatte, begann eine von Frankreich und den USA initiierte Koalition westlicher und arabischer Staaten mit Luftangriffen auf Stellungen des Regimes, die den Oppositionskräften den Vormarsch nach Tripoli sowie den Sturz (und die Ermordung) Gaddafis ermöglichten. Im Jemen dagegen wurde unter maßgeblicher Mitwirkung des großen Nachbarn Saudi-Arabien nach mehreren Monaten des Protests, der Gewalt und auch militärischer Konfrontationen zwischen unterschiedlichen Fraktionen des Regimes im Februar 2012 eine Ablösung von Präsident Ali Abdullah Salih durch seinen Stellvertreter und ein umfassender Nationaler Dialog der verschiedensten politischen und zivilgesellschaftlichen Kräfte auf den Weg gebracht. Dies stabilisierte das auch zuvor schon fragile Land, das in vielerlei Hinsicht ein »gescheiterter Staat« war, allenfalls vorübergehend. Seit Ende 2014 kämpften wieder unterschiedliche Fraktionen des Militärs, Vertreter der alten politischen Eliten und verschiedene tribale Gruppen um die Macht, weitgehend auf Kosten jener jungen, städtischen Aktivisten, die 2011 die Proteste gegen das alte Regime getragen hatten. Anfang 2015, nachdem die sogenannten Huthi-Rebellen, eine tribale Gruppe aus dem Norden, zusammen mit Anhängern Ali Abdullah Salihs erst die Hauptstadt Sanaa erobert sowie die legitime Regierung vertrieben hatten und dann in weitere Landesteile vorrückten, mobilisierte Saudi-Arabien eine Koalition arabischer Staaten und begann mit einer Serie von Luftangriffen auf die Rebellen. Aus dem Bürgerkrieg in einem weitgehend zerfallenen Staat war ein Krieg mit direkter Beteiligung der Nachbarn geworden.

In Saudi-Arabien und den meisten anderen Monarchien kam es 2011 ebenfalls zu Protesten. Nur in Bahrain, wo es neben der politischen noch eine konfessionelle Komponente gab, wuchsen diese sich zu einem umfassenden Aufstand aus, der von der Regierung mit einer Mischung aus Gewalt, Repression und politischen Versprechen niedergeworfen wurde. Saudi-Arabien und andere Golfmonarchien entsandten zudem Truppen, um die bahrainischen Sicherheitskräfte zu entlasten. Die saudische Regierung setzte im eigenen Land vor allem auf ein umfassendes Programm von Sozialleistungen und Beschäftigungsmaßnahmen, um die Unzufriedenheit eines Teils der Bevölkerung einzufangen. Sie griff zudem den Herrscherhäusern in Bahrain, Oman und Jordanien finanziell unter die Arme, um ihnen zu helfen, die Situation in ihren Ländern zu stabilisieren. Wichtiger allerdings dürfte in Oman, in Jordanien und auch in Marokko gewesen sein, dass die Regierungen bzw. die jeweiligen Monarchen nicht nur auf Repression setzten, sondern sich bemühten, ihrer Bevölkerung zu signalisieren, dass sie deren politische Botschaft verstanden hatten: In den drei Ländern wurden die Verfassungen angepasst, die Rechte der Parlamente wurden ein Stück weit gestärkt und die Regierungen ganz oder teilweise ausgetauscht. Dies waren keine allzu tief greifenden Veränderungen. Sie enthielten aber die Botschaft, dass politischer Wandel auch ohne Gewalt und Revolution möglich sei, und halfen damit den Herrscherfamilien, sich die Unterstützung zumindest der Mittelschichten zu erhalten. Die Situation in Jordanien dürfte sich vor allem auch deshalb stabilisiert haben, weil der Blick auf die grauenvolle Entwicklung im Nachbarland Syrien als Warnung diente, die Ordnung und den Zusammenhalt im eigenen Land nicht aufs Spiel zu setzen.

In Syrien begann der Aufstand im Frühjahr 2011 zunächst mit vereinzelten Protesten gegen lokale Behörden und Sicherheitskräfte, aus denen rasch eine zivilgesellschaftlich-politische Protestbewegung wurde, die große Teile des Landes erfasste. Das Regime von Baschar al-Asad setzte ebenso rasch auf das, was in seinem eigenen Jargon die »militärische Lösung« genannt wurde, reagierte also mit tödlicher Gewalt. Viele Soldaten, vor allem aus sunnitischen Gebieten, und eine Reihe von Kommandeuren desertierten, um die Bevölkerung ihrer je eigenen Dörfer oder Städte zu schützen. Seit Sommer 2011 lässt sich von einer Militarisierung des Aufstands sprechen, spätestens seit 2012 von einem anhaltenden Bürgerkrieg, in welchem das Regime aus Russland und Iran sowie von schiitischen Milizen aus dem Irak und der libanesischen Hizbullah unterstützt wurde und wird, die Opposition aus der Türkei, den arabischen Golfstaaten und aus westlichen Ländern. Dabei gewannen in den Gebieten, die dem Regime entglitten, zunehmend extremistische, politisch-islamische Gruppen die Oberhand, seit 2014 vor allem der im Irak entstandene sogenannte Islamische Staat.

Eine Konfessionalisierung und allgemeine Verrohung der Auseinandersetzungen hatte allerdings schon vorher eingesetzt. So organisierte das Regime neben den regulären Streitkräften eigene Milizen. Deren Mitglieder stammen vorwiegend aus der alawitischen Bevölkerungsgruppe, der auch der Präsident, seine Familie und seine engsten Mitarbeiter angehören. Die Alawiten sind eine vor allem in der Levante beheimatete Konfessionsgemeinschaft, die sich selbst der Schia zuordnet. Asads Herrschaftselite, wie schon die seines Vaters, bestand und besteht keineswegs ausschließlich aus Alawiten; aber wichtige Positionen im Sicherheitsbereich, von der Spitze bis hinunter zur Bataillonsebene, befanden sich überwiegend in der Hand von Alawiten, deren Familien, wie die Asads, aus den syrischen Küstenprovinzen stammen. Die neuen Milizen, die wenig später unter dem Namen »Nationale Verteidigungskräfte« zusammengefasst und der Armeeführung unterstellt wurden, traten vor allem durch Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung hervor. Auch wurde ihnen, anders als den regulären Streitkräften, offenbar erlaubt, bei feindlichen Teilen der Bevölkerung »Beute« zu machen. Das Regime setzte nahezu von Beginn an alle Waffentypen ein, die ihm zur Verfügung standen. Im August 2013 führte ein größerer Einsatz von Chemiewaffen zu einer bemerkenswerten russischen Initiative: Moskau überzeugte die syrische Führung, sich auf eine Erfassung und Zerstörung des syrischen Chemiewaffenpotenzials durch die Organisation zum Verbot chemischer Waffen (OPCW) einzulassen, und bewahrte das Regime damit vor einer offenbar unmittelbar bevorstehenden militärischen Strafaktion der USA. Präsident Obama griff jedenfalls die russische Initiative auf und blies die bereits geplanten Luftschläge, von deren Nutzen er offenbar selbst nicht überzeugt war, ab – sehr zum Verdruss der syrischen Opposition und ihrer regionalen Verbündeten.

Hoffnungen, dass die Kooperation der USA, Russlands und anderer – auch Deutschland beteiligte sich an der Vernichtung syrischer Chemiewaffen – zumindest zur Deeskalation beitragen würde, erfüllten sich nicht. Alle Versuche einer diplomatischen Lösung, insbesondere die Bemühungen von drei erfahrenen Sondergesandten der Vereinten Nationen,...

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