Prolog:
Wie dionysisch war, wie dionysisch wurde Dionysos?
Warum hat Dionysos in der modernen Literatur- und Kunsttheorie Apollon vertrieben? Die Antwort scheint einfach: Apollons Eigenschaft, das Apollinische, musste der Eigenschaft des Dionysos, dem Dionysischen, weichen, weil diese Eigenschaft einer romantischen Ästhetik entsprach, welche die idealistische Norm, die Apollon seit Platons Deutung vertrat, um 1800 endgültig überholt hatte. Das ist die kurze historische Erklärung. Sie wird aber erst wirklich sprechend, sieht man sich die ästhetische Ursache der modernen Karriere des Dionysos und des Dionysischen genauer an. Sie beruht auf dem spezifischen Erscheinungsmodus des Gottes, der nicht einfach dem Begriff der Epiphanie gleichzusetzen ist, die seit Walter F. Ottos Dionysos-Buch1 ohnehin als Definitionsmerkmal dem Gott zugeschrieben wird, nachdrücklich dargestellt von Marcel Detienne2 und inzwischen durch Albert Henrichs’ Arbeiten erläutert.3 Von einer solchen epiphanen Eigenschaft, die auch den anderen olympischen Göttern, vornehmlich Zeus, Apollon, Athene und Aphrodite, zukommt, ist aber das spezifische Erscheinen des Dionysos zu unterscheiden:4 Es hat die Qualität eines opaken Ereignisses, die über das Identitätszeichen des Göttlichen definitiv hinausgeht und eben hierin – das ist das Thema des Buches – die moderne Adaption der Dionysos-Mythologie in der Literatur und ihrer Theorie begründete und fortschrieb. So in der romantischen Literatur (Hölderlin, Kleist), so in der nachromantischen Ästhetik (Nietzsche), so in der klassischen Moderne (Ezra Pound, T. S. Eliot, Paul Valéry, Rainer Maria Rilke). Das Interesse der modernen Dionysos-Thematik geht nicht auf den Mythos selbst aus, sondern auf jene mythologischen Eigenschaften, die ästhetisch besonders wirksam sind.
Und da ragt die Ereignisqualität des plötzlichen Erscheinens5 vor allen anderen heraus, insofern sie nicht mehr nur begründet ist in der Epiphanie des Gottes, also einer theologischen Figur, sondern in einem Sichtbarwerden, das rätselhaft bleibt und nicht identifizierbar ist. Man kann das opake Ereignishafte des Erscheinens des Gottes das Dionysische nennen, das nicht allen Darstellungen des Dionysos eignet. Gerade die für seinen Mythos zentrale Charakteristik der Gabe des Weins enthält das Ereignishafte nicht, eher eine gewisse bukolische Ruhe. Andererseits ist der dem Wein zugeordnete Zustand der mania (»Wahnsinn«) der mythologisch wichtigste Ausdruck des dionysischen Ereignisses. Die mythologisch verbürgten Eigenschaften des Dionysos zeigen eine Gegensätzlichkeit, die umso mehr das Opake des Erscheinungsereignisses, den eigentlich ästhetischen Effekt, zum Ausdruck bringt.
Wie »erscheint« Dionysos in der altgriechischen Mythologie? Genrebedingt zeigt die bildliche Darstellung mythologischer Motive in der griechischen Vasenmalerei zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v. Chr. nicht eigentlich das dionysische Erscheinen, sondern narrativ reichhaltige und sehr unterschiedliche Motive der einzelnen Mythen des Gottes.6 Man hat wegen der Tatsache, dass die Mythologie des Dionysos den Gott in so vielen unterschiedlichen Formen darstellt, von den »Masken des Dionysos« gesprochen – ein Aspekt, der in diesem Buch noch zentral werden wird.7 Nimmt man das Dionysos zugeordnete Opferritual8 hinzu, dann hat man die für die Ästhetik des Erscheinens wichtigsten drei Ausdrucksformen: Maske, Opfer, mania. Im Folgenden geht es nicht um die Geschichte des Dionysos-Motivs,9 sondern um dessen Rolle als ein Zeichen des ästhetischen Diskurses in der modernen europäischen Literatur.
Es sind vor allem drei klassische griechische Texte beziehungsweise Textsammlungen, in denen die Gestalt des Dionysos in der besonders epiphanen Form auftritt: die sogenannten Homerischen Hymnen, deren älteste Stücke bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, zwei Chorlieder aus Sophokles’ Tragödie Antigone von 442 v. Chr. und schließlich und vor allem Euripides’ Tragödie Die Bakchen (um 406 v. Chr.).10 Euripides’ Drama hat neben Ovids Darstellung der Pentheus-Sage und der Charakteristik des Dionysos selbst im dritten und vierten Buch der Metamorphosen sowie der Darstellung des Gottes im zweiten Buch der Oden von Horaz die spezifische Auffassung des Gottes im dionysischen Diskurs der modernen Literatur und Ästhetik geprägt. Auch beide römischen Dichter stellen die faszinierende Erscheinung des Gottes heraus.11
I
Der erscheinende Dionysos in den Homerischen Hymnen: Das älteste literarische Dokument ist die siebte der Homerischen Hymnen. Sie ist, wie die erste Hymne, an Dionysos gerichtet, und zwar innerhalb eines Hymnenzyklus, der die wichtigsten olympischen Götter beruft, zu denen Dionysos ursprünglich nicht gehört. Die siebte Hymne erzählt das Abenteuer des Gottes mit den tyrrhenischen Seeräubern.12 Wie aus dem Nichts kommend, sehen diese vor sich einen schönen Jüngling mit schwarzen Haaren und verführerischem Lächeln. »Erblicken« und »Erscheinen« ergänzen sich. Euripides wird dreihundert Jahre später das Motiv des effeminiert-romantischen Typus zum Thema der Täuschung, des nichtidentifizierenden Sehens steigern, aus der die Tragödie des Pentheus erwächst. Für das nachdrücklich betonte Aussehen des Gottes und seine Verwandlungsmacht entscheidend ist, dass von ihm im ersten Satz der siebten Hymne explizit gesagt wird, dass er »erschien« (ἐφάνη [epháne]).13 Das ist keine selbstverständliche Attribuierung. Im Falle von allen anderen Göttern wird das Wort »erschien« nicht benutzt, sondern es ist dort immer vom »Kommen« die Rede. Dass des Dionysos mythologische Identität auch als die eines »Kommenden«, nämlich aus fremden, exotischen Gegenden Nahenden, bestimmt ist, steht in keinem Widerspruch dazu, dass dieses Kommen in Differenz zu den übrigen Göttern als ein Erscheinen emphatisiert wird. Die szenarische Charakteristik erklärt, warum es ungenau wäre zu sagen, das Wort »erscheint« drücke eben die göttliche Epiphanie aus. Es steht außer Frage, dass dagegen die Beschreibung des Apollon in der dritten Homerischen Hymne an Apollon als Darstellung einer Epiphanie zu verstehen ist. Apollons Äußeres ist auch eklatant: »[E]in Glänzen umstrahlt ihn. Leuchtend funkeln die Füße«,14 aber er »erscheint« nicht. Seine verschiedenen Attribute, die des Python-Töters, des Herrschers, des Weissagenden, des Kunstspendenden und vor allem des Fernhintreffenden und des Leierspielers bilden zusammen seine Identität, die innerhalb des etablierten Kultursystems aufgeht, während des Dionysos »Erscheinung« befremdet. Zwar weiß man seit geraumer Zeit, dass sich die Mythologien Apollons und Dionysos’ überschneiden, dass Delphi ihre gemeinsame Kultstätte ist,15 aber der tradierte Mythos und seine aktualisierte literarische Form sind zweierlei. Diese Einsicht ergibt sich aus der Hermeneutik des »Erscheinens«: Diese bezeichnet das Fasziniertsein dessen, der das »Erscheinen« wahrnimmt, nämlich als etwas Fremdes, nicht als das mit dem Göttlichen Identische, nicht als Epiphanie, sondern als Phänomen.
Die Ästhetik des Phänomens lässt sich an einer dem Erscheinen des Dionysos verwandten Ausdrucksgestalt besonders gut erläutern: dem »Erscheinen« der Gorgo und ihrer Geschichte in der europäischen Kunst als Variation des Faszinosums einer »Maske«.16 Allerdings wird an dieser Verwandtschaft auch die bald einsetzende Differenz deutlich, nämlich die Differenz zwischen einer Maske des Schreckens, die im »Heiligen« begründet ist, und einer Maske des Schreckens, deren Faszination im intensiven Erscheinungsmodus selbst liegt, worauf zurückzukommen sein wird.
Der erscheinende Dionysos in Sophokles’ Antigone: Die kurze, aber nachdrückliche Erwähnung des »Erscheinens« im fünften Stasimon der Antigone ist keine Darstellung, sondern eine Berufung und Benennung des Gottes als Erscheinender, im Zusammenhang mit weiteren Charakteristika seiner Mythologie, darunter nicht zuletzt die für die ErscheinungsQualität wichtigste Charakteristik, nämlich der Jubelruf an den Sohn der »blitzgetroffenen Mutter«17 und an den Chorführer der »feuerhauchenden Sterne«.18 Des Chors Worte lauten: »Zeusentsprossenes Kind, erscheine [προφάνηθ᾽ (propháneth’)], o Herr.«19 Das Wort »Dionysos« ist in Sophokles’ Drama nur einmal benutzt: Das zitierte Stasimon spricht zunächst von ihm als »Jakchos«,20 dann in der unmittelbaren Anrede als »Bakcheus«.21 Die Ergänzung der Anrede »erscheine« durch den Hinweis auf die ihn begleitenden Bacchantinnen nimmt dem Anruf nichts von seiner spezifischen Evokationsform. Die erste Erwähnung im Einzugslied der Antigone fordert den Gott auf, als »Bakchios«, als »Erschütterer Thebens«, der Siegesfeier der Stadt (nämlich über den feindlichen Bruder) voranzugehen.22 Denn die Begleiterinnen drücken selbst in ihrem Tanz den Geist des Gottes aus, das heißt seine »dionysische Wirkung«, die durchweg als »bakchisch« bezeichnet wird.23
Auch die dem...