III. Praktische Auswirkungen einer ökonomisierten Medizin
Wir leben in einer Zeit, in der die politischen Akteure nicht den Mut haben, die Verantwortung für Entscheidungen über das Weiterbestehen oder die Schließung einzelner Krankenhäuser zu übernehmen. Für sie ist es das Einfachste, die Frage nach der Notwendigkeit einzelner Krankenhäuser dem Markt zu überlassen. Auf diese Weise werden rein ökonomische Parameter ausschlaggebend, was für die Politiker insofern entlastend ist, als dass die Schließung eines Krankenhauses dann ja »selbst verschuldet« ist. Diese Form der politischen Zurückhaltung ist jedoch gefährlich. Denn die Güte eines Hauses darf nicht allein von wirtschaftlichen Parametern abgeleitet werden, sondern muss auch die medizinische Qualität der Behandlung und der Sorge miteinbeziehen. Heutzutage stellt die Medizin zwar rein formal alles Notwendige ‒ alle Untersuchungen, Therapien und Verfahren ‒ zur Verfügung, aber in der konkreten Ausgestaltung des Notwendigen wird immer mehr dazu angehalten, eine subtile Unterversorgung in Kauf zu nehmen, weil es letzten Endes die Bilanzen sind, die über die Weiterexistenz des Hauses entscheiden. Es wird zwar alles angeboten, was man anbieten kann, aber im Zuge dessen, wie die Untersuchungen und Therapien erfolgen, entsteht bei vielen Patienten der Eindruck, nicht wirklich gut versorgt worden zu sein – gut in dem Sinne, dass sie mit ihren Nöten, Fragen und Sorgen tatsächlich Gehör gefunden hätten.
Als Einstieg in diese Thematik möchte ich die Aussage eines Assistenzarztes in der Chirurgie zitieren, der in einer Interviewstudie Folgendes zu Protokoll gegeben hat: »Das Problem, was ich sehe, ist nicht so, dass ich jetzt sage, wir machen eine Katastrophenmedizin, und wir machen eine schlechte Medizin, wir operieren die Leute nicht richtig, oder wir haben dafür keine Ressourcen. Das ist es nicht! Aber es ist eben so, dass ich bei der Aufnahme mir überlegen muss: … Wo wird die mittlere Verweildauer für Herrn Meyer liegen? Oder ich bekomme jemanden, wo ich im Prinzip sagen muss, der ist kostenmäßig schon, nehmen wir das böse Wort ›verbrannt‹, da ist so viel an Diagnostik gelaufen, dass man den eigentlich ökonomisch gar nicht mehr operieren kann. Dann hat man natürlich nicht viel Spielraum.« (Klinke 2008, S. 207 f.) – Dieses Statement gibt klar zu erkennen, wie sehr sich bereits ein neues Denken eingeschlichen hat, wie sehr bereits sich die Behandlung von Patienten nach neuen Kategorien richtet: Es wird nicht mehr allein der Bedarf des Patienten reflektiert, sondern dieser Bedarf wird immer in Abgleich mit dem Ressourcenverbrauch und der Rentabilität der Diagnose gebracht. Hieran zeigt sich eine Unterminierung rein ärztlicher Entscheidungskategorien durch betriebswirtschaftliches Denken.
Vor allem dort, wo teure Diagnostiken und Therapien anstehen, hat der Unternehmer, also die Krankenhausleitung und die Kostenträger, ein besonderes Interesse daran, diese Ausgaben zu kontrollieren, sie so zu managen, dass sie steuerbar erscheinen, um keinem Verlustrisiko aufzusitzen. Das Management hat die Aufgabe, die Kontrolle und Vorhersagbarkeit der Ausgaben und Einnahmen in der Klinik zu realisieren. Aber durch das starke Bestreben nach Steuerung ärztlicher Entscheidungen wird eine Bürokratie eingeführt, die eine ökonomisch-rationale Herrschaft erzeugt. Durch die Etablierung der Bürokratie als Steuerungsinstrument der Ärzte dominieren die Funktionserfordernisse (Kühn 2001), und es wird die Rolle des Arztes als individuell dienende Person untergraben.
Der Arzt hat ja die Aufgabe, für seinen Patienten und mit ihm die bestmögliche Behandlung auszuwählen. Hierbei ist er angehalten, jedwede Verschwendung zu vermeiden, also überall dort kostengünstiger zu behandeln, wo damit der gleiche Effekt erzielt wird wie mit aufwändig-teuren Verfahren. Wenn nun aber das Einsparen auch zu Einschnitten bei der Versorgung des Patienten führt, dann gerät der Arzt in ein Dilemma, weil er sich primär als Verantwortlicher für das Wohl seiner Patienten verstehen möchte und nicht primär als Verantwortlicher für die ausgeglichene Bilanz seines Arbeitgebers.
In der gegenwärtigen Situation der Krankenhäuser aber nimmt der Druck auf die Ärzte so zu, dass sie täglich spüren, ihrem eigentlichen Ziel, Anwalt des Patientenwohls zu sein, nicht mehr gerecht werden zu können. In beeindruckender Klarheit hat dies ein Assistenzarzt der Chirurgie zu Protokoll gegeben: »Ich könnte mir vorstellen, dass man das, was wir jetzt tun –, dass es spätere Medizinergenerationen geben wird, die das, was wir jetzt tun, uns vorwerfen werden. Zu Recht. Dass wir unter der Prämisse unglaublicher Datensammlungen und Kodierungen und Strukturierungen den Blick auf den Patienten verloren haben. Ich habe manchmal das Gefühl, nicht das Richtige zu tun.« (Braun et al. 2009, S. 161)
Häufig wird den Ärzten suggeriert, keine andere Wahl zu haben. Sie hätten dafür zu sorgen, dass die Bilanzen stimmen, weil sie ansonsten um die Zukunft des Hauses bangen müssten. Dieses Szenario muss den meisten nur oft genug ausgemalt werden, damit sie sich irgendwann den Sachzwängen beugen und so handeln, wie es die Unternehmensführung erwartet. Die Krankenhausleitungen machen zwar keine klaren Vorgaben, aber durch die Abteilungsbudgets und durch die Transparenz der Erlöse werden die einzelnen Abteilungen unterschwellig unter Druck gesetzt (Braun et al. 2009, S. 236). Man erpresst sie sozusagen, beteuert aber, dass letztendlich die Ärzte selbst entscheiden sollen. Die angebliche ärztliche Freiheit ist lediglich vorgegaukelt, denn eigentlich wird sie sukzessive durch die Rahmenbedingungen unterminiert, ohne dass man es zugibt. Man tut so, als würde jeder Arzt eigenverantwortlich entscheiden, aber dem Einzelnen bleibt oft keine andere Wahl. Mehr noch: Das Präsenthalten der ökonomischen Zahlen wird nach und nach so selbstverständlich, dass die Ärzte es schon gar nicht mehr merken, wie sie durch das System umprogrammiert worden sind. Das ist vielleicht die folgenschwerste Veränderung durch die Ökonomisierung: Die Ärzte selbst verändern sich und machen die eigentlich fremde Logik der Ökonomie Zug um Zug zu ihrer eigenen. Ganz ohne äußere Verordnung übernehmen die Ärzte die ökonomische Logik und werden auf diese Weise von der Ökonomie innerlich gekapert.
Dies kann nur deshalb gelingen, weil die Ärzte vorher durch die strukturellen Rahmenbedingungen und die neuen Machtverhältnisse in die Situation einer strukturellen Bevormundung gebracht worden sind. Zu nennen wären beispielsweise die vorgegebenen knappen zeitlichen Ressourcen, denen sich viele Ärzte geradezu ausgeliefert fühlen. Diese sorgen dafür, dass bei den Ärzten der Eindruck vorherrscht, nicht mehr genuin ärztlich entscheiden zu können, dass das System keine Rücksicht darauf nimmt, wie man als Arzt eigentlich den Patienten behandeln sollte. Dass das Ärztliche hier gar nicht mehr zählt. Infolgedessen passiert es immer häufiger, dass sie systemkonform entscheiden, ohne aber als Personen dahinterstehen zu können. Es ist diese strukturelle Bevormundung, die es ihnen verwehrt, ihrem ärztlichen Anspruch entsprechend zu handeln. Aber diese Bevormundung erfolgt nicht direkt, sondern indirekt, da unterschwellig eine Herrschaft von Arbeitsintensität und Zeitdruck etabliert wird (Braun et al. 2009).
Neben der strukturellen Bevormundung erleben wir aber auch eine ideelle Vereinnahmung der Ärzte, indem ihnen subtil eine Distanzierung von ihren eigenen Idealen nahegelegt wird. Zumindest wird ihnen implizit beigebracht, dass die Erfordernisse des Betriebs mindestens genauso wichtig sind. Das Gefährliche daran ist, dass die neue Wertehierarchie nicht explizit verordnet wird, sondern dass die Ärzte auf sublime Weise dazu angeleitet werden, diese neue, als Sachzwang ausgegebene Hierarchie so weit zu verinnerlichen, dass sie am Ende wie eine freiwillige Übernahme aussieht.
Je mehr also – grundsätzlich notwendige – ökonomische Überlegungen in Bereiche Einzug halten, in denen ärztliches Fachwissen vorherrschen sollte, desto mehr entfremdet sich die Medizin von ihrem eigentlichen Ziel: die Not des Patienten als Auftrag anzunehmen und Verantwortung zu übernehmen für eine gute Versorgung des Kranken. Und desto mehr werden die Ärzte dazu verleitet, sich nach Kriterien zu richten, denen sie sonst nicht folgen würden. Wie aber sieht diese Gefährdung der medizinischen Logik nun konkret aus? Wie manifestiert sich diese Kollision von ökonomischer Rationalität und ärztlich-fürsorgender Identität? Im Folgenden möchte ich zunächst aufzeigen, wie sich die Etablierung ökonomischen Denkens in der Medizin auf die Patientenversorgung direkt auswirkt, um im anschließenden Kapitel diese Entwicklungen aus einer übergeordneten Perspektive zu betrachten.
1. Aufnahme: Kategorisierung der Patienten nach ökonomischen Kriterien
Wie wir bereits an der Aussage des Assistenzarztes gesehen haben, besteht unter dem Einfluss der DRG-Abrechnung die Tendenz, Patienten in ökonomische Kategorien aufzuteilen. Auf diese Weise wird heute den Ärzten unterschwellig beigebracht, bei jedem Patienten stets mitzureflektieren, welche Bilanz er verspricht. Und so werden Patienten zu wirtschaftlichen Verlustposten oder lukrativen Erlöseinbringern, zu Patienten, die als budgetsprengend gelten, oder Patienten, die als budgetschonend klassifiziert werden. Potentiell budgetsprengend sind vor allem chronisch Kranke, Patienten mit Mehrfacherkrankungen, mit Komplikationsrisiken und/oder mit hohem Versorgungsaufwand. Zu den unbeliebten gehören aber nicht nur diese oft alten und schwerkranken...