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Ich bin im Jahre 1922 an einem steilen Hang im Schwarzwald geboren worden, in einem kleinen abgelegenen Bauerndorf. Ich machte eine kaufmännische Lehre und besuchte die Handelsschule in Lörrach. Anschließend arbeitete ich als kaufmännische Angestellte. 1941 heiratete ich einen Schweizer, der in Weil am Rhein wohnte. Mit ihm flüchtete ich in den letzten Kriegstagen nach Basel. Kurz darauf kam unser Sohn zur Welt. 1955 zogen wir nach Liestal, wo ich bei der kantonalen Verwaltung als Büroangestellte arbeitete. Ich blieb dort, bis ich 62 Jahre alt war. Acht Jahre später verstarb mein Mann nach langer Krankheit.
Nach dem Tod meines Mannes war ich allein, allein mit viel unausgefüllter Zeit. Ich musste mir überlegen, wie ich meine Tage verbringen wollte.
Putzen und Haushalten für mich alleine genügten mir nicht. Man sagte mir, dass ich, nun im Alter angelangt, doch vermehrt an mich denken solle. Man riet mir, mich meiner Gesundheit zu widmen, mich viel zu bewegen, wandern zu gehen, beim Altersturnen mitzumachen, mich einem Seniorenverein anzuschließen. Doch das entsprach alles nicht so ganz meinem Charakter. Ich wollte endlich nicht mehr so viel müssen, sondern einfach das machen, was ich gerne mache. So setzte ich mich eben vor den Fernseher und verfolgte die mir interessant erscheinenden Sendungen.
Die meiste Zeit aber verbrachte ich mit Lesen. Ich wurde eine eifrige Benützerin der Bibliothek meines Wohnortes. Besonders die Regale mit zeitgeschichtlicher Literatur und jene mit Biografien bekannter Persönlichkeiten hatten es mir angetan. Es war Zeit, mein Wissen etwas zu verbessern.
Mein Interesse galt vor allem dem 19. Jahrhundert. Die Literatur dieser Epoche war und blieb für mich wohl deshalb so spannend, weil sie den damals herrschenden Zeitgeist und die Lebensverhältnisse der Menschen beschreibt. Dadurch wurde mir nämlich das Leben meiner Groß- und Urgroßeltern nähergebracht. Sie waren damals noch ein unbekanntes Kapitel für mich.
In dieser Zeit interessierte ich mich immer weniger für die Gegenwart, dafür immer mehr für die Vergangenheit. Fast alle meine Gedanken bewegten sich dorthin zurück, wo mein Leben begonnen hatte. Mein Sohn besorgte mir freundlicherweise einen Computer, für den ich mir in den letzten Monaten meiner Berufstätigkeit noch die wichtigsten Grundkenntnisse hatte aneignen können. Dann fing ich an, die Erinnerungen an meine Kindheit niederzuschreiben. Mir bedeutete dies ein großes Vergnügen. Und ich dachte, dass sich meine Nachkommen über meine Erzählungen später einmal freuen würden. Nachdem ich mich intensiv mit der Vergangenheit befasst hatte, zweifelte ich allerdings, ob meine Aufzeichnungen nur Freude bereiten werden. Schließlich war darin nicht nur Schönes, sondern auch viel Trauriges und Aufregendes beschrieben.
Meine Notizen wurden immer zahlreicher, die Seiten füllten sich. Und so drängte sich alsbald die Frage auf, ob ich aus meinen Erinnerungen nicht ein Buch machen sollte.
Zu meiner Überraschung zeigte sich ein Verlag bereit, meine Erinnerungen abzudrucken. In diesem Buch ging es nur am Rande um meine Vorfahren. Es war vielmehr ein dokumentarischer Bericht über die Zeit meiner Kindheit, über den Alltag in einem kleinen Dörfchen Süddeutschlands und im Basler Grenzland. Es ging um mich (Edith Flubacher, Das Bauerndorf im Schwarzwald. So haben wir gelebt. Geschichten aus Elbenschwand und aus dem Basler Grenzland, Verlag elfundzehn, 2007).
Ich realisierte damals, dass ich eigentlich nur sehr wenige Informationen über meine Vorfahren besaß. Unsere Familie hatte während meiner Kindheit kaum Kontakt mit Verwandten, und es wurde auch fast nicht über sie gesprochen. Mir kam es vor, als ob dichter Nebel über diesem Teil der Vergangenheit liege – insbesondere die Familie meines Vaters blieb mir ein Rätsel.
Ich habe zwar im Laufe meines Lebens gewisse Dinge aus dem Leben meines Vaters und seiner Eltern erfahren – unter anderem durch meine ältere Schwester, die einmal ein ganzes Jahr bei unserer Urgroßmutter verbracht hatte. Während jenes Aufenthalts bekam sie viele Einzelheiten mit, die sie mir dann weitererzählt hat. Aber ehrlich gesagt, interessierte mich dies alles lange Zeit nicht besonders.
Später jedoch, im Alter angelangt, interessierte mich diese Geschichte schon. Mehr als das, sie begann mich zu fesseln.
Das Leben meines Vaters stand schon bei seiner Geburt unter keinem guten Stern. Er wurde 1896 unter traurigen Umständen in einem Krankenhaus in Straßburg auf die Welt gebracht. Seine Mutter, noch ein Mädchen, hatte den eisernen Vorsatz gefasst, den Namen des Kindsvaters nicht zu nennen. Doch die Geburt war allzu schmerzhaft und schwer, und der Druck, den das Spitalpersonal auf das Mädchen ausübte, war zu groß, sodass es den Namen bekannt gab. Eine unglaubliche Familiengeschichte gelangte damit an die Öffentlichkeit. Sonst, wer weiß, wäre alles unter dem Mantel des Schweigens geblieben.
Da die Mutter meines Vaters sehr jung verstarb, wuchs mein Vater zuerst bei einer Großtante und später bei seiner Großmutter auf. So richtig daheim war er aber nirgends. Ich vermute, dass er sein ganzes Leben lang unter seiner Kindheit gelitten hat beziehungsweise unter den Gründen seines Daseins. Manchmal hat er mir dieses oder jenes von seiner Familie erzählt – zu wenig, wie ich feststellen musste. Nur einmal in meinem Leben machte er mit uns eine Reise in seine Heimat. Ich war damals aber noch klein.
Als ich beim Verfassen des Buches tief in die Vergangenheit eingetaucht war, kam mir eine Episode aus meiner Kindheit wieder in den Sinn:
Es muss etwa im Jahre 1932 gewesen sein, als eines Tages ein fremder Mann bei uns zu Hause anklopfte. Es war ein Hausierer, der über die Schwarzwaldhöhen zog und auch in unserem Haus seine Ware zum Verkauf anbot. Hausierer wussten durch ihre pausenlose Wanderschaft bestens Bescheid über alles, was in der Gegend lief. Und dieser Mann, Deckel hieß er, war besonders begabt, Geschichten zu sammeln. Er war besser informiert als jede Tageszeitung und verfügte über eine ausgezeichnete Spürnase, mit der er all die Geschichten aufstöberte, die das Leben schrieb.
Jenem Mann war sogleich unser Familienname aufgefallen, der in der Gegend sonst kaum vorkam. Er erzählte meiner Mutter, dass vor vielen Jahren, noch im vergangenen Jahrhundert, im Pfarrhaus seiner Heimatgemeinde zwei Frauen gleichen Namens gewohnt hätten, die mit dem Pfarrer verwandt und in einen von ihm verschuldeten Skandal verwickelt gewesen seien.
Es stellte sich im Verlauf des Gespräches heraus, dass es sich bei der älteren Frau um eine Urgroßtante handelte und bei der jungen, einem erst vierzehnjährigen Mädchen, um die Mutter meines Vaters.
Deckel konnte sich nur zu gut an die Empörung und Aufregung erinnern, als die Bevölkerung von der heimlichen Flucht des Pfarrers erfuhr. Wie ein Lauffeuer habe sich herumgesprochen, was dieser dem Mädchen angetan hatte.
Ich bekam von der ganzen Geschichte, die Deckel erzählte, nur wenig mit. Sie war ja auch nicht für meine Ohren bestimmt. Ich konnte aber an der Reaktion meiner Mutter erkennen, dass sie sehr bewegend sein musste.
Als ich mich mit der Niederschrift meiner Erinnerungen beschäftigte, wollte ich mehr über die geheimnisvolle Geschichte wissen, über die der Hausierer berichtet hatte. Ich begann, Informationen über das Leben meines Großvaters zu sammeln, und stellte dabei mit großem Erstaunen fest, wie viel in Urkunden, Kirchenbüchern, Archiven und Chroniken festgehalten wurde – in meinem Fall war es in gewisser Hinsicht mehr, als mir lieb war. Ich schrieb dennoch alles auf, was ich in Erfahrung brachte, und erkannte, dass sich die Einzelteile immer mehr zu einer Geschichte entwickelten, die möglicherweise ein weiteres Buch hergeben würde. Allerdings ein ganz anderes Buch als das erste.
Das fromme Elternhaus
Wie fast jeden Frühling strahlte auch im Jahre 1835 die fruchtbare Gegend des Kraichgaus in unbeschreiblich schönen Farben. Die Obstbäume, die Pflanzen auf den Feldern und in den Gärten blühten in voller Pracht. Und auch an den Rebhängen zeigte sich die Natur von ihrer besten Seite.
Als in den letzten Apriltagen auf dem Bauernhof der Familie Schreiber1 zu den sechs Geschwistern ein weiteres Kind dazukam, war die Freude groß. Für die strenggläubige katholische Familie bedeutete ein Kind ein Geschenk Gottes. Noch am Tag seiner Geburt ließ man das Büblein auf den Namen Antonius taufen.
Die Wohnverhältnisse im Bauernhaus der Schreibers waren eng. Wie die meisten Dorfbewohner in Rittersbach beherbergten auch sie unter ihrem Dach mehrere Generationen. Das Zusammenleben von Jung und Alt verlief nicht überall harmonisch, aber auf dem Schreiberhof blieb es vornehmlich ruhig, friedlich und gesittet....