1 Aufgabe und Stellung des Gutachters
T. Brusis
1.1 Begutachtung als ärztliche Aufgabe
Durch die Aufgabe einer Begutachtung befindet sich der Arzt in einer anderen Situation und wird vor andere Probleme gestellt, als sie ihm von seiner sonstigen ärztlichen Tätigkeit her vertraut sind. Die Unterschiede liegen sowohl auf psychologischem als auch auf wissenschaftlichem Gebiet.
1.1.1 Psychologische Sicht
Der zu Begutachtende kommt in der Regel nicht aus eigenem Antrieb als hilfesuchender Patient zum Arzt, sondern wird vielmehr von dem ihm unbekannten Arzt zu einer Untersuchung einbestellt. Der Arzt handelt hierbei im Auftrag einer Behörde, Versicherungsgesellschaft oder eines Gerichts, also von Institutionen, zu denen der zu Begutachtende kaum eine persönliche Beziehung hat.
Es ist daher verständlich, dass die typische vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung nicht besteht. Sie kann auch nicht das Ziel der Begegnung sein. Ein Arzt, der sich mit den Wunschvorstellungen des zu Begutachtenden identifiziert, ist ein ebenso schlechter Gutachter wie derjenige, der sich zum Interessenanwalt des Versicherungsträgers macht. Er hat vielmehr in nüchterner und objektiver Weise die Erkenntnisse seiner Wissenschaft auf die zu entscheidenden Fragen anzuwenden. Es liegt aber in der Natur der medizinischen Wissenschaft, dass es eine absolute Wahrheit und Objektivität nicht geben kann, und darum bleibt dem ärztlichen Gutachter immer ein gewisser Ermessensspielraum. In ihm darf er sich, geleitet von rationalen Überlegungen und unter Abwägung von mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeiten, bewegen.
Wenn auch die typische Arzt-Patient-Beziehung bei der Begutachtung nicht aufgebaut wird, so sollte doch alles getan werden, um in dem zu Begutachtenden die Überzeugung zu wecken, dass über seinen Gesundheitszustand mit derselben Unvoreingenommenheit und Sachlichkeit geurteilt wird, wie sie in anderen Bereichen von einem Richter erwartet würde. Eine solche Vertrauensbasis ist die beste Vorsorge gegen eine Ablehnung des Sachverständigen, die besonders dann beantragt wird, wenn der Untersuchte den Eindruck gewinnt, dass er oberflächlich oder voreingenommen beurteilt worden ist. Die Einsicht in die psychologische Situation des zu Begutachtenden muss den Arzt leiten, diese Vertrauensbasis zu schaffen.
Kurze Hinweise auf den Sinn der verschiedenen Untersuchungen wecken die Kooperation und das Verständnis. Es ist jedoch im Allgemeinen nicht zweckmäßig, mit dem zu Begutachtenden einzelne Befunde oder gar die Aussichten seines ganzen Verfahrens zu diskutieren. Der Gutachter tut gut daran, sich hier jeglicher Stellungnahme zu enthalten und darauf zu verweisen, dass die Entscheidung bei der Behörde, dem Gericht usw. liegt und dass neben den rein medizinischen auch juristische Gesichtspunkte berücksichtigt werden.
1.1.2 Wissenschaftliche Sicht
In wissenschaftlich-medizinischer Hinsicht bestehen zwischen der gutachterlichen und der sonstigen ärztlichen Tätigkeit ebenfalls wichtige Unterschiede. Der Gutachter muss sich bewusst sein, dass seine Ausführungen sehr kritisch von den verschiedensten Seiten unter die Lupe genommen werden: vom Auftraggeber des Gutachters, vom Begutachteten und dessen Rechtsbeistand, von anderen Gutachtern usw. Er muss sich deshalb auf nachprüfbare Befunde und Tatbestände stützen und über eine hervorragende Sachkenntnis verfügen. Die Sachkenntnis muss sich an der allgemeinen Lehrmeinung orientieren; für die Auffassungen von Außenseitern ist bei der Begutachtung kein Raum.
Während die Erhebung der medizinischen Befunde bei der Begutachtung der allgemeinen ärztlichen Tätigkeit noch weitgehend entspricht – wenn man einmal von den Fällen der Simulation absieht –, sind die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen sehr wesensverschieden. In der allgemeinen ärztlichen Tätigkeit steht im Vordergrund die Frage: Wie kann ich dem Kranken helfen? Die Fragen nach der Art und Ursache der Gesundheitsstörung sind dabei nur Hilfen auf der Suche nach einer kausalen Therapie. Bei der Begutachtung werden sie dagegen zum Hauptanliegen: Welche Gesundheitsstörung liegt vor? Was ist ihre Ursache? Sind mehrere Ursachen beteiligt und mit welchen Anteilen? Welche Rolle spielt die individuelle Konstitution? Usw.
Auch hinsichtlich des Schweregrads einer Gesundheitsstörung ergeben sich bei der Begutachtung völlig neue und dem ärztlichen Denken zunächst fremde Fragestellungen: Wie ist der Zustand des Verletzten oder Kranken im Vergleich zu seinem individuellen vorangegangenen Zustand? Wie verhält er sich im Vergleich zu anderen normalen Personen? Wie wirkt er sich in seiner speziellen Berufsausübung aus? Wie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt? Das soll teils in konkreten Angaben, etwa über die noch zumutbare Arbeitsleistung, teils mit abstrakten Prozentsätzen der MdE beantwortet werden. Der Gutachter hat sich hierbei ganz nach den Bestimmungen der jeweiligen Rechtsgebiete zu richten und muss mit den einschlägigen juristischen Begriffen vertraut sein. Er sollte aber auch nie aus den Augen verlieren, welche Auswirkungen sein Urteil in materieller und ideeller Hinsicht für alle Beteiligten hat.
1.1.3 Leitlinie „Grundlagen der medizinischen Begutachtung“
Diese Leitlinie (Stand 2018) der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) erstellt wurde, soll die medizinischen und juristischen Grundlagen des Sachverständigen – aus Sicht aller Fachgebiete – einschließlich der hierzu ergangenen Rechtsprechung beschreiben.
Sie verfolgt das Ziel, medizinische Sachverständige zu unterstützen sowie Probanden und Auftraggeber vor willkürlichen und wissenschaftlich nicht hinreichend begründeten Einschätzungen zu schützen. In den einzelnen Abschnitten werden die Rolle des Gutachters und die an ihn gestellten Anforderungen in den unterschiedlichen Versicherungs- und Rechtsgebieten ebenso dargestellt wie Fragen der gutachterlichen Haftung und Vergütung.
Diese Richtlinie ist allgemein gehalten und bezieht sich nicht auf ein einzelnes Fachgebiet. Bei der Überarbeitung 2018 waren Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. sowie der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V. beteiligt. Die Leitlinie findet sich im Internet unter www.awmf.org.
1.2 Häufige Fehler bei der Begutachtung
Im Folgenden sollen einige der typischen Fehler aufgeführt werden, denen man in Gutachten immer wieder begegnet. Teilweise sind sie formaler Art und bezeugen, dass der Gutachter seine Rolle im gesamten Verfahren nicht richtig einschätzt. Teilweise sind sie sachlicher Art und können dann so gravierend sein, dass sie das Gutachten als Beweismittel unbrauchbar machen oder sogar Anlass zu einer Fehlentscheidung werden.
1.2.1 Fehler beim Aktenstudium
Wichtige, aber unscheinbare Eintragungen werden übersehen, obwohl sie vielleicht entscheidend sind, etwa für das Datum des Eintritts des Versicherungsfalls bei einer Lärmschwerhörigkeit oder einem behaupteten ursächlichen Zusammenhang.
1.2.2 Fehler bei der Erhebung der Anamnese
Die Anamnese wird oft schematisch gehandhabt und nicht auf die speziellen gutachtlichen Fragen ausgerichtet. Dadurch fehlen wesentliche Informationen. Widersprüche zwischen Anamnese und Akteninhalt werden nicht bemerkt und nicht aufgeklärt.
1.2.3 Fehler bei der Befunderhebung
Routinemäßig wird eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt, ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles. Dadurch werden einerseits unnötige und kostspielige Untersuchungen vorgenommen, z. B. Röntgenaufnahmen in verschiedenen Projektionen bei einer einfachen Lärmschwerhörigkeit, andererseits wesentliche Untersuchungen unterlassen, z. B. Kalt- und Warmspülung bei einem pathologischen Vestibularisbefund.
Der Gutachter wird durch Simulation getäuscht oder stützt sich auf fehlerhafte, von unzureichend geschultem Hilfspersonal erhobene Befunde, z. B. Fehldeutung einer einseitigen Taubheit als kombinierte Schwerhörigkeit durch fehlende Vertäubung bei der Audiometrie.
Anwesenheit einer Begleitperson
Im Regelfall ist eine Vertrauensperson bei der Begutachtung zuzulassen. Dann sollte der Sachverständige von der Möglichkeit Gebrauch machen, seinerseits Hilfspersonen hinzuzuziehen, um bei ggf. auftretenden Konflikten auf einen Zeugen verweisen zu können. Soweit der Gutachter die Teilnahme einer Begleitperson ablehnt, ist vorab unter Darlegung der Gründe Rücksprache mit dem Auftraggeber zu nehmen. Das Gericht entscheidet im Rahmen seiner Leitungsfunktion nach § 404a Abs. 1 ZPO, ob bei Abwägung der jeweiligen Interessen die Begleitperson zuzulassen ist oder nicht. Wird die Anwesenheit einer Begleitperson vom Sachverständigen zu Unrecht abgelehnt, kann dieser Mangel im Einzelfall zur Unverwertbarkeit des Gutachtens führen (Urteil des Landessozialgerichts [LSG] Rheinland-Pfalz vom 20. 07. 2006, Az.: L5 KR 39/05) (Drechsel-Schlund u. Brusis 2008 ▶ [142]).
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