EINLEITUNG
Lasst Stadtkinder auf eine Wiese springen. Mit hellem Freudenruf stürzen sie sich auf die nächsten Blumen und pflücken sie. Heißhungrig pflücken sie Hände voll, Arme voll, als könnten sie nie genug bekommen. Sie sind genau wie Tiere, die in der Wüste zur Tränke stürzen. Sie löschen einen gewaltigen Durst ihrer Seele, den Durst nach Schönheit. Einige unter uns erinnern sich, wie wir in den Alpen oder im Himalaja zum ersten Mal Schneeberge erblickten. Wir rufen uns ins Gedächtnis zurück, wie unser Herz den Bergen entgegensprang, wie wir mit verhaltenem Atem staunten, wie unsere Augen sich gierig volltranken an dem herrlichen Schauspiel.
In Fällen dieser Art ist in der Naturerscheinung irgendetwas, das an etwas in unserem Wesen rührt. Etwas in uns stürmt dem Etwas in der Naturerscheinung entgegen. Eine verwandte Saite ist angeschlagen, eine Beziehung ist hergestellt. Es ist zum Zusammenklang zwischen uns und der Naturerscheinung gekommen. In der Blume, in dem Berg, in der Landschaft haben wir etwas erkannt, was wir in uns selbst wiederfinden. Eine leidenschaftliche Liebe zu der Naturerscheinung erfasst uns. Eine Verbindung findet statt. Unsere Seele vermählt sich der Seele der Naturerscheinung. Und im Augenblick dieser Verbindung wird die Schönheit geboren. Sie entspringt der Liebe, wie die Liebe selbst ihren Ursprung hatte in der Verbindung von Mann und Frau der Vorzeit.
Bei diesem Vorgang hängt alles von der Stimmung ab. Sind wir nicht in der richtigen Stimmung, so sind wir für Natureindrücke unempfänglich, und es bleibt stumm in uns. Wir kommen daher nicht zur Berührung mit der Natur. Darum sehen wir auch keine Schönheit. Sind wir dagegen feinfühlig und empfänglich gestimmt, sind unsere Gedanken nicht mit anderem beschäftigt, liegt unsere Seele den Eindrücken offen, die die Natur immerwährend auf sie niederträufeln lässt, dann antworten wir auf den Ruf der Natur. Wir fühlen uns mit ihr im Einklang, wir kommen zur Gemeinschaft mit ihr, und nun sehen wir die Schönheit.
Wenn wir in Stunden der Sorge und Betrübnis auf die Natur blicken, während sie gerade vor Licht und Heiterkeit strahlt, werden wir uns mit ihr nicht im Einklang finden, wir werden ohne Fühlung mit ihr sein und darum die Schönheit nicht schauen können.
In überquellender, froher Stimmung dagegen werden wir den Ruf der Natur außergewöhnlich empfänglich aufnehmen, und auch in einer knorrigen, entblätterten Eiche, in einer ärmlichen Alten an der Ecke einer armseligen Straße werden wir noch Schönheit finden können. Wenn in einer solchen Stimmung die Natur sich uns auch noch gerade in ihrem schönsten, strahlenden Licht zeigt, an einem Frühlingsmorgen etwa, wird die Schönheit, die wir dann erblicken, überwältigend groß sein, und wir werden uns, hingerissen von Freude, kaum zu fassen wissen.
Wir haben dann eine Übereinstimmung entdeckt zwischen dem, was in der Natur lebt, und dem, was in uns selbst lebt. Von der Betrachtung der Natur sind wir vor das Antlitz einer Macht geleitet worden, die größer ist als wir, jedoch uns gleicht; sie ruft die Gefühle hervor, die sich jetzt in uns regen. Wenn wir die Schönheit in der Natur erkennen, machen wir zugleich die Entdeckung, dass die Natur nicht bloß Körper ist, dass sie eine Seele hat oder eine Seele ist. Und die Freude in uns entspringt der Befriedigung, die unsere Seele im harmonischen Zusammenklang mit dieser Naturseele empfindet. Unsere Seele entdeckt die Wesensgleichheit in sich und in der Naturseele und empfindet Freude an dieser Erkenntnis.
Der Trieb zur Gemeinschaft aber mit unserer Art drängt uns, anderen das mitzuteilen, was wir selbst empfunden haben. Wir möchten den anderen erzählen, was wir gesehen und was wir erfahren haben.
Wir haben auch Sehnsucht danach, an der Freude teilzunehmen, die andere bei der Betrachtung der Natur gefühlt haben müssen. Wir möchten vor allem wissen und nachfühlen können, was jene empfunden haben, deren Seelen weit feinfühliger sind als die unsere, die großen Dichter, Maler, Musiker. Darum teilen wir unsere Gefühle anderen mit und darum suchen wir mit anderen die Verbindung, entweder unmittelbar oder durch Vermittlung der Bücher, der Bilder, der Tonschöpfungen, um von ihnen zu erfahren, was wir noch weiter suchen sollen, und um besser zu erkennen, wie wir es suchen sollen. Indem wir das tun, wird unsere Seele empfänglicher für die Eindrücke, die von der Natur ausgehen; wir werden fähiger, diese Eindrücke wiederzugeben. Unser Sehvermögen nimmt zu. Unser seelisches Auge kommt zu schärferem Einblick, zu tieferem Schauen in die Seele der Natur. Wir können uns inniger in den Geist der Natur einfühlen, und leichter findet dieser Geist Eingang in uns. Wir gelangen zu vollkommenerem Einvernehmen mit der Natur, zu innigerem Zusammenklang mit ihr und sehen darum ein Mehr an Schönheit.
Wir sehen das, was die Natur tatsächlich ist. Wir sehen die Wirklichkeit hinter der Erscheinung, den Gehalt, den die Außenform umschließt. Für den Augenblick haben wir es nicht mit dem Ursächlichen der Natur, sondern mit ihrer Wesensart zu tun. Wir sehen das »Ich« hinter der äußeren Erscheinung. Und wenn wir Mitempfinden und Verständnis genug besitzen, wenn uns wirkliche Einfühlung in die Seele der Natur gelingt, so werden wir hinter ihrem gewöhnlichen Alltags-Ich ihr wahres Ich erblicken, ebenso wie die wenigen, die von einem Großen vertrautere Kenntnisse haben, den wahren Menschen erblicken hinter dem Mann, wie er der Allgemeinheit erscheint – den wahren Beaconsfield oder Kitchener hinter dem Beaconsfield oder Kitchener der Tagespresse. Und in dem Maß, wie wir mehr von diesem wahren Ich der Natur erkennen und es uns besser gelingt, in harmonischen Zusammenhang mit ihr zu kommen, werden wir auch höhere Schönheit in ihr erblicken.
Ist unsere Seele klein und armselig, so werden wir mit der großen Naturseele nur wenig Gemeinsames besitzen und infolgedessen auch nur eine oberflächliche Schönheit sehen. Haben wir eine große Seele, so wird mehr Gemeinsames zwischen uns bestehen, und wir werden mehr Schönheit erkennen. Um aber zum vollen Verständnis der wahren Natur zu gelangen, müssen wir sie unter jedem Gesichtspunkt betrachten und sie von allen Seiten sehen.
So nur werden wir ihr wahres Selbst erfassen und ihre volle Schönheit schauen können. Ihr Bild aber und die Gesichtspunkte, unter denen es zu betrachten ist, wechseln so unaufhörlich, dass auch der Größte unter uns verzagt. Je mehr wir von der Natur sehen, desto mehr, entdecken wir, gilt es in ihr zu begreifen.
Und je tiefer wir sie erfassen und mit ihr Zwiesprache halten, desto mehr Schönheit gilt es zu schauen. Aber zu vollem Verständnis der Natur zu gelangen, ihre ganze Schönheit zu schauen, geht über die Befähigung von uns Sterblichen hinaus.
Dennoch treibt es uns, fort und fort danach zu streben, dass wir so viel sehen wie nur möglich. Auf den folgenden Seiten soll versucht werden zu zeigen, wie sich noch mehr Schönheit in der Natur entdecken lässt.
Oft habe ich im Himalaja zugeschaut, wie ein Adler über mir kreiste. Ich habe am Berghang gesessen und seinen hoheitsvollen Segelflug verfolgt, die vollendete Leichtigkeit und Ausgeglichenheit in seinem anmutsvollen Kreisen und Schwingen. Himmelhoch über der Erde zog sein Flug, und scheinbar mühelos glitt er über Landstriche hinweg, die zu betreten uns armen Menschenwesen nur durch ungeheure Kräfteanspannung möglich wäre. Von der Anmut seiner Bewegungen gefesselt, um seine Freiheit ihn beneidend, konnte ich ihm stundenlang zuschauen. Und diesem Adler – ich konnte es an der Höhe und der Entfernung sehen, aus der er immer niederstieß auf seine Beute – war neben seiner Bewegungsfähigkeit eine Sehkraft von unerreichter Schärfe gegeben.
So eigneten also diesem Vogel Möglichkeiten, die Erde zu sehen und was auf ihr ist, wie sie keinem Menschen, nicht einmal einem Fliegen zuteilwerden. Nach Belieben konnte er über die höchsten Bergketten hingleiten, nach Belieben konnte er über den lieblichsten Tälern schweben. Nach Belieben konnte er sich auf irgendeinem Punkt niederlassen und die Dinge ganz in der Nähe betrachten. An einem einzigen Tag konnte dieser eine Adler die größten landschaftlichen Schönheiten der Welt geschaut haben – das höchste Gebirge, die abwechslungsreichsten Wälder, dicht bevölkerte Niederungen ebenso wie kahle und weite Ebenen, Völkerschaften, Tiere, Vögel, Insekten, Bäume, Blumen, alles von der mannigfaltigsten Art. An einem Tag und im gewohnten Verlauf seines Kreisens und Schwebens mochte er gesehen haben, was Menschen vom anderen Ende der Welt zu schauen kommen, befriedigt, wenn sie nur den hundertsten Teil dessen erblicken, was der Adler alle Tage sehen kann.
Von seinem Berghorst im oberen Sikkim mochte er gesehen haben, wie im Morgenrot die Schneegipfel des Kantschindschanga aufglühten und in weiter Ferne der Mount Everest. Im Aufsteigen mochte der Adler dann über die volkreichen Ebenen...