HALLO
Ich bin alt und erzähle gern Lügengeschichten
(Eine Art Warnhinweis)
Ich bin eine Lügnerin.
Und es ist mir egal, wenn jeder das weiß.
Ich denke mir ständig Geschichten aus.
Bevor Sie anfangen, über meinen Charakter und meine geistige Gesundheit zu spekulieren … lassen Sie es mich erklären. Ich denke mir Geschichten aus, weil ich es muss. Es geht nicht darum, ob es mir Spaß macht. Ich meine, es macht mir Spaß. Ich habe große Freude daran, mir Geschichten auszudenken. Fantastereien mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern sind das, was mich am Laufen hält, mich in Schwung versetzt, mich antreibt.
Ich erfinde gern Geschichten. Liebend gern.
Außerdem ist der Drang dazu tief in meinem Inneren verankert. Mein Gehirn neigt von Natur aus zu Halbwahrheiten, es wendet sich stets der Fiktion zu. So wie sich eine Blüte Richtung Sonne dreht. So wie ich zum Schreiben die rechte Hand benutze. Das Fabulieren ist für mich eine schlechte Eigenschaft, die sich gut anfühlt und leicht zur Gewohnheit wird, aber schwer wieder loszuwerden ist. Abenteuerliche Geschichten zu ersinnen, Fäden zu einer Erzählung zu verknüpfen ist mein schmutziges kleines Laster. Und ich mag es.
Doch es ist nicht nur eine schlechte Angewohnheit. Ich muss es tun. Es ist notwendig, dass ich es tue.
Denn wie sich herausstellte …
… ist das Ersinnen von Geschichten ein Beruf.
Wirklich.
Ganz ernsthaft.
Das, was in der katholischen St.-Mary’s-Schule in Park Forest, Illinois, dafür sorgte, dass ich die Pausen damit verbringen musste, in der Kirche zu knien und vor einer der Nonnen den Rosenkranz zu beten, ist tatsächlich ein grundanständiger Beruf.
»Erzähl es nicht weiter, aber weißt du was? Meine Mutter ist aus Russland geflohen. Sie war mit einem Typen verlobt, Wladimir, die Liebe ihres Lebens – aber sie musste ihn und alles andere dort zurücklassen. Es ist so traurig. Und jetzt muss sie so tun, als sei sie eine ganz normale Amerikanerin, sonst werden wir alle umgebracht. Natürlich spreche ich Russisch: Da! Was? Sie ist eine schwarze Russin, du Dummkopf. Die gibt es genauso wie weiße Russen. Ist ja auch ganz egal, was für eine Russin sie ist, wir können niemals dahin zurück, dort drüben ist sie so gut wie tot. Weil sie versucht hat, Leonid Breschnew umzubringen. Was soll das heißen, warum? Hast du denn gar keine Ahnung? Um uns vor dem nuklearen Winter zu bewahren. Um Amerika zu retten. Mann, ey.«
Brachte es mir Lob ein, dass ich wusste, wer Leonid Breschnew war? Verschaffte es mir Pluspunkte, dass ich mich in die russische Politik eingelesen hatte? Dankte es mir jemand, dass ich die anderen Zehnjährigen über den Kalten Krieg aufklärte?
Hinknien. Kirche. Nonnen. Rosenkranz.
Ich kann den Rosenkranz im Schlaf herunterbeten. Ich habe den Rosenkranz im Schlaf heruntergebetet.
Dafür ist das Geschichtenausdenken verantwortlich. Es ist verantwortlich für alles – für alles, was ich tat, für alles, was ich bin, für alles, was ich habe. Ohne die Geschichten, die Erzählungen, die Märchen, die ich zusammengesponnen habe, wäre ich heute wahrscheinlich eine sehr stille Bibliothekarin in Ohio.
Stattdessen sorgten meine Fantasieprodukte dafür, dass mein Leben nicht in den Abgrund führte, wie die Nonnen in der Schule es vorhergesagt hatten.
Die Geschichten, die ich mir ausdachte, brachten mich aus dem kleinen Schlafzimmer in einem Vorort von Chicago, das ich mir mit meiner Schwester Sandie teilte, in ein Studentenwohnheimzimmer einer der besten Unis der USA mitten in den Hügeln von New Hampshire und später ganz bis nach Hollywood.
Mein Schicksal reitet auf dem Rücken meiner Vorstellungskraft.
Die frevelhaften Flunkereien, die mir damals in den Pausen Strafgebete einhandelten, ermöglichen mir jetzt, im Laden eine Flasche Wein und ein Steak zu kaufen und mir keine Gedanken über den Preis zu machen. Mir eine Flasche Wein und ein Steak kaufen zu können, ohne mir über den Preis Gedanken machen zu müssen, ist mir sehr wichtig. Das war eines meiner Ziele. Denn als ich Studentin an der Filmschule war, hatte ich oft kein Geld. Und so musste ich mich regelmäßig zwischen Wein und Dingen wie Toilettenpapier entscheiden. An Steaks war nicht einmal zu denken.
Es hieß: Wein oder Toilettenpapier.
Wein.
Oder.
Toilettenpapier.
Nicht immer hat das Toilettenpapier gewonnen.
Haben Sie mich gerade schief angeguckt? War das etwa … haben Sie mich etwa verurteilt?
Nein. Sie können sich nicht einfach in dieses Buch drängen und mich verurteilen.
So werden wir uns nicht auf diese gemeinsame Reise begeben. Wir wollen eine schöne Zeit miteinander verbringen. Wir sind zusammen unterwegs, liebe Leser. Also soll sie, die ohne Wein ist, den ersten Stein werfen. Ansonsten …
Manchmal gewinnt das Toilettenpapier eben nicht.
Manchmal hat eine mittellose Frau den Rotwein nötiger.
Daher müssen Sie nachsichtig mit mir sein, wenn ich mich nicht für meine Vorliebe für die magische Wirkung kleiner Flunkereien und Unwahrheiten entschuldige.
Denn ich lebe davon, mir Geschichten auszudenken.
Das Fabulieren ist jetzt mein Beruf. Ich bin Drehbuchautorin für Fernsehserien. Ich erfinde Figuren. Ich erschaffe ganze Welten in meinem Kopf. Ich sorge für neue Wörter in der Alltagssprache – wenn Sie von Ihrer »Vajayjay« reden und Ihren Freunden bei der Arbeit erzählen, dass jemand »gepoped« wurde, geht das auf meine Serien zurück. Ich bringe Kinder zur Welt, ich beende Leben. Ich tanze es aus. Ich trage den weißen Hut. Ich operiere. Ich bin Gladiatorin. Ich entlaste. Ich erzähle, erfinde, ersinne. Ich hülle mich in Geschichten. Geschichten sind mein Beruf. Geschichten sind alles. Geschichten sind mein Ding.
Ja, ich bin eine Lügnerin.
Aber ich bin eine Berufslügnerin.
Grey’s Anatomy war mein erster richtiger Job beim Fernsehen. Dass dieser erste Job gleich eine Serie war, die ich selbst kreiert hatte, bedeutete, dass ich zu Beginn der Serie keine Ahnung davon hatte, wie es beim Fernsehen lief. Ich fragte jeden Drehbuchautor, der meinen Weg kreuzte, wie es war, für eine Staffel einer Fernsehserie zuständig zu sein. Es kamen viele tolle Ratschläge zusammen, die mir vor allem klarmachten, dass jede Serie anders und speziell ist. Doch eines war immer gleich: Jeder Drehbuchautor, den ich traf, benutzte dasselbe Bild – das Drehbuch für eine Fernsehserie zu schreiben sei wie Gleise für einen heranrasenden Zug zu verlegen.
Die Story ist das Gleis, das man stetig weiter verlegen muss, da der Zug naht. Der Zug ist die Produktion. Man schreibt und schreibt, man verlegt weiter Gleise, komme, was wolle, denn der Produktionszug donnert auf einen zu – komme, was wolle. Jede Woche muss die Filmcrew mit der Vorbereitung einer neuen Folge anfangen – Drehorte finden, das Set aufbauen, Kostüme entwerfen, Requisiten auftreiben, Aufnahmen planen. Und eine Woche später muss die Crew eine neue Episode drehen. Jede Woche. Eine Woche Vorbereitung. Eine Woche Dreharbeiten. Eine Woche, eine Woche, eine Woche, eine Woche. Was bedeutet, dass die Crew jede Woche ein funkelnagelneues Drehbuch benötigt. Und es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie es auch bekommt. Jede. Verdammte. Woche. Der Zug naht. Jede Woche muss die Crew im Studio etwas zu drehen haben. Denn das Schlimmste, was passieren kann, ist ein Produktionsstopp, eine Entgleisung, denn das kostet die Filmfirma Hunderttausende Dollar, während alle warten. So etwas macht aus einem Drehbuchautor einen gescheiterten Drehbuchautor.
Also lernte ich rasch, wie man Gleise verlegt. Kunstvoll. Kreativ. Aber schnell wie der Blitz.
Als Grundlage nehme man eine Geschichte.
Einzelne Erzählstränge, um die Löcher aufzufüllen.
Etwas Fantasie, um die Kanten zu glätten.
Stets verspüre ich die Hitze des Schnellzuges auf meinen Waden und Oberschenkeln, an meinen Fersen, auf meinen Schulterblättern und Ellbogen, auf der Sitzfläche meiner Hose, er droht, mich zu überfahren. Doch ich trete nicht einfach einen Schritt zur Seite und lasse mir den kühlen Wind ins Gesicht wehen, wenn der Zug an mir vorüberdonnert. Ich trete nie zur Seite. Nicht, weil ich nicht kann. Sondern, weil ich nicht will. Dies ist mein Job. Und für mich gibt es keinen besseren Job auf der Welt. Das Adrenalin, die Eile, das … ich nenne es »das Summen«. In meinem Kopf ertönt eine Art Summen, wenn ich einen gewissen Schreibrhythmus, ein bestimmtes Tempo erreiche. Wenn sich das Verlegen der Gleise nicht...