Sommernachtstraum und Höhlengleichnis
Vielleicht habe ich nur angefangen, mich für Politik zu interessieren, weil ich verliebt war. Im Mai 1986 führten wir im Schultheater Shakespeares »Ein Sommernachtstraum« auf. Das Stück passte zu meinem Leben. Das Herumirren der Liebenden durch den Wald, das Sich-Finden und Sich-Verlieren – das war die Metapher meines damaligen Lebens. Ich war sechzehn und das Leben verführerisch und verlockend.
An einem Abend nach der Aufführung begann es leicht zu nieseln. Panisch rissen die Zuschauer auf dem Weg nach Hause die Regenschirme heraus, schützten sich mit allem, was sie hatten, vor dem Niederschlag. Was sonst ein herrlich warmer Frühlingsregen gewesen wäre, vielleicht die Kulisse für Küsse mit nassen Haaren, war jetzt plötzlich eine tödliche Bedrohung.
Eine Woche zuvor war der Reaktor von Tschernobyl in der Ukraine explodiert. Das hatte Folgen, auch für Deutschland. Ich erinnere mich gut an die verwaisten Spielplätze, an Verbote, Pilze und Fleisch zu essen, an die Fernsehbilder, an den anfänglichen Gleichmut vieler Menschen und ihre spätere Panik und die Hamsterkäufe. Der Zweite Weltkrieg war ja erst seit einer Generation vorbei. Viele Menschen kannten noch die Bedrohung ihres Lebens aus heiterem Himmel, das Kriegsende liegt genauso nah an meiner Geburt wie die deutsche Einheit an meiner Gegenwart.
Für mich war der GAU ein jäher Einbruch ins Glück des Erwachsenwerdens. Mitten in meinen Lebenshunger, in das Glück des Verliebtseins, brach ein endzeitliches Szenario.
Ich glaube, ich hatte damals gar nichts groß gegen Atomkraft. Ich wusste wenig von Gorleben und war zu jung oder vielleicht auch zu sehr damit beschäftigt, mein Leben auf die Reihe zu bekommen, um die Proteste um das AKW Brokdorf mitbekommen zu haben. Aber dass mein Leben plötzlich konkret bedroht war, dass wir vielleicht alle verstrahlt werden würden, mindestens aber nicht mehr mit Sommernachtsträumen im Regen spazieren gehen durften, dass mir vielleicht die Möglichkeit geraubt würde, glücklich zu werden, mein Leben zu leben, vielleicht die Liebe meines Lebens zu finden und Kinder zu bekommen, machte mich in diesen Tagen zum Atomkraftgegner. Die Grünen und die Anti-AKW-Bewegung, schön und gut. Es ging um mein Leben und dass mir da niemand reinpfuschen sollte. Es war die Verteidigung meines kleinen Glücks, wegen der ich mich für die große Politik zu interessieren begann. Eine Politik und ein Staat, der meine Freiheit und mein Leben durch seine Entscheidungen zur Atomkraft bedrohte, brauchte Widerstand. So sah meine Welt mit 16 aus.
Aber noch heute geht es für mich in der Politik im Wesentlichen darum, dass Menschen um die Möglichkeiten zur freien Entfaltung ringen, um die Souveränität über ihre Entscheidungen. Vieles ist mit der politischen Erfahrung komplexer und komplizierter geworden, immer gibt es eine Widerrede, ein Aber und ein Abwägen. Wenig steht für sich allein und ist unbestritten. Freiheiten müssen geschützt und organisiert werden, sind voraussetzungsreich, schließen Bildung, Arbeit, auch freie Zeit und eine halbwegs intakte Natur mit ein. Das ganze politische Panoptikum ist eigentlich ein Wirrwarr aus Widersprüchen und Abhängigkeiten.
Mein Bedürfnis, mich politisch zu engagieren, entstammte also dem Impuls, gegen etwas zu sein, als ich merkte, dass falsche Politik das eigene Leben beeinflussen kann. So ist es ja bei vielen Menschen. Man ist gegen Krieg, gegen Nazis, gegen Windräder, gegen Fracking oder Kohlekraftwerke, und sucht sich Verbündete. Wird daraus eine Mehrheitsbewegung, wird aus dem Protest eine Partei, die die Dinge wirklich ändern will und nicht nur kritisieren, kommt irgendwann der Moment, in dem man sich entscheiden muss, ob man tatsächlich politische Verantwortung will. Übernimmt man dann Verantwortung, wird aus dem Protest schnell eine Realität, die Positives wollen muss. Denn etwas abzulehnen bedeutet, etwas anderes zu bejahen. Wer gegen Atomkraft ist, hat die Wahl zwischen Windkraftanlagen oder Wohlstandsverzicht. Was allerdings nicht geht, ist gleichzeitig weniger und mehr zu wollen. Wahrhaft politisch zu sein bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Und jede Entscheidung hat Folgen und Konsequenzen, die wieder neue Schwierigkeiten und Fragen aufwerfen. Die erneuerbaren Energien verändern die Landschaft, und Menschen fühlen sich durch sie bedrängt. Flüchtlinge aufzunehmen hat verstärkte Integrationsanstrengungen zur Folge. Sich europapolitisch zu engagieren erfordert, mit solchen Leuten wie dem ungarischen Premier zu verhandeln.
Aber obwohl aus Protest schnell etwas Kompliziertes wird, obwohl ich jetzt als Minister die Verantwortung habe, dass Atomkraftwerke tatsächlich rückgebaut und entsorgt werden, geht es mir unter dem Strich immer noch um das Motiv des Anfangs: Selbstbestimmung. Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Und eine Politik, die das unmöglich macht, ist keine gute Politik. So ist die Energiewende eben neben allen ökologischen Notwendigkeiten zuvorderst die Rückkehr des Prinzips Verantwortung in die deutsche Energiepolitik. Selbst zu bestimmen heißt, verantwortlich sein zu wollen. Das Prinzip Verantwortung gilt nicht für die Produktion von Atomstrom und die Verbrennung fossiler Energien.
Ich bin auch Mitglied der deutschen Endlagersuchkommission. Ihre Aufgabe ist es, die Bedingungen für die sichere Endlagerung des Atommülls für eine Million Jahre zu finden. Erst dann strahlt der Müll nicht mehr. Eine Million Jahre! Wann wurde noch mal Jesus geboren? Eine Million Jahre, das ist eine so absurd lange Zeit, dass vernünftigerweise niemand für diesen Zeitraum überhaupt irgendetwas verantworten kann. Erderwärmungen und Eiszeiten werden kommen und gehen und vermutlich werden die Wesen nach uns, die wahrscheinlich keine Homo sapiens mehr sein werden, weder Deutsch noch Englisch sprechen. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie wir sie warnen sollen, dass der Atommüll gefährlich ist. Unsere Schriftzeichen werden sie jedenfalls aller Voraussicht nach nicht mehr entziffern können.
Auch die Verbrennung von Kohle, Öl oder Gas ist nicht verantwortlich im vollen Sinn des Wortes. Denn wir sind für die Spätfolgen unseres jetzigen Tuns nicht mehr selbst verantwortlich zu machen. Kinder und Kindeskinder werden auszubaden haben, was wir anrichten. Sie werden von Dürren, Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Flucht und Krieg bedroht und heimgesucht werden. Die Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien dagegen sind leicht zu beseitigen. Wenn uns die Windkraft- und Solaranlagen irgendwann nicht mehr passen oder wir sie nicht mehr brauchen, dann bauen wir sie halt wieder ab. Die Energiewende ist die Rückkehr des Prinzips Verantwortung in die deutsche Energiepolitik.
Zwischen jenem Abend nach der Aufführung des Sommernachtstraums und meinem Alltag als verantwortlicher Minister für Atomausstieg und Energiewende in Schleswig-Holstein liegt ein langer Weg. Es hätte alles auch anders kommen können. Aus lauter Einzelentscheidungen und Zufällen wird nur rückblickend eine Geschichte. Rückblickend aber ist es merkwürdig, wie viele Ereignisse von früher heute wie Fingerzeige aussehen, wie Wegweiser, die ich damals nicht entziffern konnte.
Auch hinter meiner Partei, den Grünen, liegt ein weiter Weg. Sie kamen von der Straße. Und jede Bewegung, die als Protestbewegung beginnt, artikuliert erst einmal eine Minderheitenmeinung, braucht also zur Rechtfertigung ihrer Existenz einen Standpunkt höherer Moral. Bei den Grünen wurde diese Legitimation der politischen Rolle aus einer ökologischen Wahrheit abgeleitet. Gerade weil eine Bewegung Legitimation nicht aus der Mehrheitsmeinung ziehen kann, da sie erst einmal keine Macht hat, braucht sie eine nicht zu hinterfragende Position der eigenen Legitimität und Dringlichkeit. Der Satz »Mit dem Klima lässt sich nicht diskutieren« etwa bedeutet eben auch, dass gar nicht mehr diskutiert werden soll. Aber diese Gewissheit ist letztlich nichts anderes als die moralische Form der Alternativlosigkeit. Andere Meinungen zuzulassen und trotzdem Lösungen zu finden ist anstrengender, aber am Ende überzeugender, demokratischer und tragfähiger.
Der Punkt ist, dass die Grünen heute keine Minderheitenpositionen mehr vertreten, auch wenn sie keine Mehrheiten in Umfragen haben. Wir sind in so vielen Landesregierungen wie nie zuvor vertreten, erzielen 30-%-Ergebnisse, stellen einen Ministerpräsidenten und sind in Bereichen wie Energiepolitik, Landwirtschaftspolitik, Verbraucher- und Umweltpolitik auf den Fachministerkonferenzen Meinungs- und Mehrheitsführer. Daraus folgt, dass wir neu und anders argumentieren sollten. Wir sollten ein neues und anderes Selbstverständnis aufbauen, wenn wir diese Mehrheiten im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft auch bei Wahlen für die Demokratie nutzbar machen wollen: und zwar ein republikanisches statt ein sektiererisches, ein offensives statt ein defensives, ein progressives statt ein regressives Selbstverständnis. Wir müssen uns nicht mehr hinter der Behauptung verstecken, die Wahrheit zu besitzen, wir haben die Argumente für die Gegenwart. Dieses Land ist ganz schön grün. Es ist vielleicht sogar grüner und besser, als wir Grünen es manchmal selbst glauben.
Und das ist die Herausforderung: nach den Protestjahren und den rot-grünen Projektjahren eine neue Phase einzuläuten, eine Phase, die bisher nur in Parteitagsreden mit »Haltung« und »Orientierung« umschrieben wurde. Aber was heißt...