KAPITEL 3
Neurobiologische Prozesse – das Gehirn als Überlebenswächter
In diesem Abschnitt werden die zu verschiedenen Zeiten der Menschheitsentwicklung entstandenen Bereiche des Gehirns mit seinen jeweiligen Funktionen vor allem in Bezug auf Traumabewältigung beschrieben.
Das Gedächtnis
Neurobiologische Prozesse finden immer statt, egal wo wir uns befinden, was wir tun, was wir fühlen oder denken. Sie bedeuten, dass wir leben. Das Gehirn ist eine riesige Steuerzentrale mit unübersehbaren Schaltstellen in Form von Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen. Es nimmt Reize aus den verschiedenen Wahrnehmungskanälen auf, entschlüsselt sie, lenkt sie zur weiteren Verarbeitung in verschiedene Teile des Gehirns, um schließlich eine adäquate Antwort auf die eingegangene Botschaft zu finden, die wir dann im Körper spüren, fühlen, denken und in Handlungen und Sprache umsetzen können. Das Gehirn ist auch ein riesiges Speicherorgan. Alles, was hier hineinfließt, bearbeitet wird und wieder herausfließt, wird im Gehirn auch aufgehoben, d. h. gespeichert. Das Ergebnis dieses Prozesses ist unser Gedächtnis. Es gibt uns die Möglichkeit, Dinge, Ereignisse, Worte, Gefühle und Gesichter zu erinnern. Dies geschieht, weil wir Gleiches oder Ähnliches schon einmal erlebt haben und weil es im Gedächtnis bereits eine Folie gibt, auf die die neue Erfahrung fällt. Das Gehirn ist ein wichtiger Teil des »Organismus Mensch«. Es hat sich über die Zeit der Phylogenese durch Evolution an immer komplexere Lebensbedingungen angepasst und dabei herausgefunden, wie es auf diese Bedingungen am günstigsten reagieren und wie es damit Umwelt und Lebensbedingungen nach eigenen Bedürfnissen mitgestalten kann. Mit jedem Speicherungsprozess veränderte es sich selbst. Das ist Entwicklung. Betrachten wir die Funktion des Gedächtnisses, müssen wir zwischen zwei verschiedenen Formen der neuronalen Speicherung unterscheiden (vgl. Abb. 17 und 18).
- Prozedurales Gedächtnis, es speichert automatische Bewegungsabläufe
- Unbewusstes Gedächtnis, seine Inhalte sind nicht präsent
- Prägungsgedächtnis
- Traumagedächtnis
- Körpergedächtnis
- Implizites Gedächtnis, affektive Inhalte werden ohne Sprache, gekoppelt an Wahrnehmungsqualitäten und fragmentiert aufgehoben
Abb. 17: Das implizite Gedächtnis
- Explizites Gedächtnis, bewusstseinsfähig
- Episodisches Gedächtnis, es speichert Fakten zur eigenen Biographie
- Narrative werden gebildet
- Semantisches Gedächtnis, es speichert Wissen, z. B. Fakten aus der Geschichte, der Politik
- Fakten können vergessen, aber wieder erinnert werden
Abb. 18: Das deklarative Gedächtnis
Ein mit unüberschaubaren Qualitäten ausgestatteter »Organismus Mensch« baut im Kontakt mit seinen jeweils individuellen Umweltbedingungen hochkomplexe Netzwerke auf. Sie existieren innerhalb des Menschen, zwischen allen Teilen seines Gewordenseins, zwischen dem Menschen und all dem, was ihn umgibt. Dieser Prozess beginnt schon vor der Geburt und endet erst mit dem Tod. Dabei hat das Gehirn eine wesentliche Steuer- und Speicherungsfunktion. Die jeweiligen Erfahrungen mit der Umwelt lenken die individuellen Aktionen und Reaktionen und bestimmen die daraus folgenden Entwicklungsschritte (Ontogenese). Erfahrungen wirken also gleichzeitig verändernd auf die individuelle Entwicklung und gestaltend auf die jeweiligen Umweltbedingungen ein. Jede Kommunikation zwischen Anteilen im Inneren des Menschen und jede zwischen dem Menschen und seiner Umwelt hinterlassen zusammen mit ihren Wechselwirkungen Spuren in verschiedenen Teilen des Gehirns (Gedächtnis). Durch bestimmte Reize können diese Erfahrungen aktiviert werden, sie können Handlungen, Gedanken und Gefühle auslösen, diese steuern und beeinflussen. Zudem wirken sie ihrerseits wiederum verändernd auf die jeweils beteiligten Innen- und Umweltbedingungen.
Hüther hat die Entwicklung des Gehirns unter phylogenetischen Gesichtspunkten betrachtet und festgestellt, dass die Entstehung der ersten Nervenzelle in Organismen erst notwendig war, als es sinnvoll wurde, sich an komplexere Lebensbedingungen anzupassen, um das Überleben auf bestmöglichste Art zu gewährleisten. Der Mensch steht am bisherigen Ende einer phylogenetischen Entwicklungslinie und verfügt als einziger Organismus über ein Gehirn, welches in der Lage ist, komplexe Konstruktionspläne zu bilden und sie in Form von genetischen Anlagen von einer Generation zur nächsten weiterzugeben. Er ist in der Lage, sich immer differenziertere Lebensumfelder zu schaffen und in ihnen zurechtzukommen. Dafür benötigt der Mensch aber auch Lebensbedingungen, die garantieren, dass er entsprechende Verschaltungen zwischen den verschiedenen Nerven im Gehirn zu komplexen Netzwerken ausbauen kann. Da sich das Gehirn in den ersten Lebensjahren eines Menschen besonders stark und grundsätzlich vernetzt, spielen also die frühen Entwicklungsbedingungen eines Kindes eine wesentliche Rolle dafür, wie komplex sich ein Gehirn aufbaut. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, dass sich Kinder an immer komplexer werdende Umwelten im Laufe der Entwicklung differenziert und flexibel anpassen können.
Nervenzellen bilden Dendriten, das sind Verzweigungen, an deren Enden sich Synapsen befinden. Diese stellen den Kontakt zur nächsten Zelle über den synaptischen Spalt her, hierüber geben sie Reize, welche Informationen enthalten, an die nächste Zelle weiter. Der Aufbau des Gehirns bestimmt, wofür ein Gehirn benutzt werden kann. Die Möglichkeiten seiner Nutzung hängen wiederum davon ab, wie es aufgebaut wurde (Hüther 2002). Es ist ein wechselseitiger Prozess.
Ein kindliches Gehirn verfügt nach der Geburt über viele freiliegende Nervenenden (circa 100 Milliarden), die sich mit zunehmender Erfahrung zu komplexen Netzwerken entwickeln. Diese Verknüpfungen bisher freier Nervenenden dienen dazu, Erfahrungen zu speichern, um sie zukünftig für die Bewältigung ähnlicher Erfahrungen abrufen zu können. Besonders tief werden jene Erfahrungen gespeichert, die das Kind in seiner frühen Entwicklung mit der Bindungsperson macht und die es für die Entwicklung seines Bindungsstils prägen. Prägungen im engeren Sinne scheinen unveränderbar zu sein, wie Konrad Lorenz dies anhand von der »Nachfolgeprägung« nachwies (Lorenz 1988). Das Kind wird durch die Erfahrungen, die es mit der Bindungsperson erlebt, geprägt. Dazu gehören gute, förderliche Erfahrungen wie Pflege, Körperkontakt, menschliche Wärme und Geduld, emphatische, freundliche Antworten, Entwicklung fördernde Anregungen, Sorgen für aushaltbare Wechsel von Spannung und Entspannung, Ruhe und Erregung in einem aushaltbaren Modus. Gleichfalls erlebt das Kind mit der Bindungsperson aber auch negative Erfahrungen wie Leere, Verlassenheit, Mangel an Körperkontakt, Nahrung, Schmerz, Angst. Die Resignation, nicht mehr zu schreien, gehört auch dazu. Hier handelt es sich um Affektzustände früher traumatischer Situationen, Erfahrungen der Vernachlässigung, der Misshandlung und des sexuellen Missbrauchs, gekoppelt an Bindungserfahrungen. Positive wie negative Qualitäten sind tief eingegraben und bestimmen wesentlich die Art der Selbst- und Fremdwahrnehmung im Laufe der weiteren Entwicklung.
Aufgrund der Ergebnisse der frühen Säuglingsforschung (Dornes 1997) wissen wir, dass die frühe Kommunikation kein einseitiger Prozess ist, sondern dass der Säugling sehr früh damit beginnt, die Reaktionen der Bindungsperson durch eigene Kontaktsignale zu beeinflussen. Der mit »Kompetenz« ausgestattete Säugling macht also in einer guten, wechselseitigen Beziehung sehr früh Wirksamkeitserfahrungen, die seine Resilienz fördern. Was aber geschieht innerlich mit den Säuglingen, die erleben müssen, dass auf ihre Versuche, die Bindungsperson zu erreichen, nicht adäquat oder nicht genügend reagiert wird? Sie erleben sich sehr früh als ausgeliefert, ohnmächtig, einsam.
Die Frage, die sich daran anschließt, ist, ob sich diese früh geprägten Bindungsmuster zwischen Bezugsperson und Kind wirklich nicht mehr verändern lassen. Sind sie wirklich unauslöschlich in das Gedächtnis eingebrannt? Ist ein Mensch seinen frühen Erfahrungen mit der Bindungsperson auf Gedeih und Verderb ausgesetzt? Oder lassen sich diese Erfahrungen auch später modifizieren, verändern und glätten? Es ist möglich, aber es braucht dazu gute neue Bindungserfahrungen, Zeit und Geduld.
Wenn es stimmt, dass es für die Verarbeitung entwicklungstraumatischer Gedächtnisinhalte notwendig ist, diese innerhalb einer tragfähigen therapeutischen Beziehung anzurühren – d. h. sie zu aktivieren, ohne dass es zu einer Retraumatisierung kommt –, dann müsste die Veränderung dieser frühen traumatischen Defizite und Störungen der Bindungsmuster in einer Psychotherapie oder einer Pädagogik geschehen, die neue verlässliche und tragfähige Bindungserfahrungen ermöglicht. Denn dort wird einerseits die Sehnsucht nach guten Bindungserfahrungen aktiviert und andererseits werden darüber die Erinnerungen an schädigende Bindungserfahrungen wach und können verarbeitet werden. Brisch betont in diesem Zusammenhang, Bezug nehmend auf Grawe, dass die Bindungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient wesentlich zum Erfolg der Therapie früher Bindungsstörungen beiträgt (Brisch 1999; Grawe 1998). Er meint, dass die Bindungsqualitäten aus der frühen Situation zwischen Mutter und Kind auf eine tragfähige therapeutische Beziehung übertragen und hier modifiziert werden...