Wie Sie bereits wissen, ist die Lotusblüte eine erstaunliche Pflanze;
Blüte und Blätter können durch Wasser und viele andere Flüssigkeiten
nicht benetzt werden, so dass potentiell schädliche Einflüsse buchstäblich
von ihr abperlen. Dennoch (oder gerade deshalb) hat sie sich erstaunlich
gut an das vorherrschende ökologische System angepasst. So
schafft sie es, ihren schlanken, hohen Stempel aus dem Morast zu erheben
und eine leuchtend weiße Blüte zu entwickeln. Der Kontrast,
der hier sichtbar wird, nämlich auf der einen Seite der schmutzige
Untergrund und quasi erhaben auf der anderen Seite, die makellose
Blume, führte zu fast mystischer Verehrung.
Doch widmen wir uns zunächst der Funktionalität: Die Lotusblüte
unterscheidet sehr erfolgreich, ob ein externer Einfluss als „gut" markiert
und zugelassen wird oder nicht. Handelt es sich z. B. um Nährstoffe,
die für das Überleben essentiell sind, lässt sie es zu, dass ihre
„Systemgrenze" passiert wird. Gemäß heutiger Terminologie könnte
man der Lotusblüte eine äußerst effektive Firewall attestieren, die
wertvolle Informationen ins System dringen lässt, während Viren,
Trojaner und Würmer konsequent abgeblockt werden. Es handelt sich
also um einen sehr selektiven Austausch mit der Außenwelt.
Diese Selektivität ist bedeutsam und führte dazu, dass die Lotusblüte
in östlichen Religionen als Sinnbild der Befreiung des Geistes von (allen)
Anhaftungen angesehen und verehrt wird. So wird bspw. das Lotos-
Sutra als bedeutendste Schrift des Mahayaha Buddhismus angesehen.
Dieses Sutra, das in der heute überlieferten Form 28 Kapitel aufweist,
hält Lehren des Buddhas fest. Weiterhin zählt die Lotusblüte zu
den acht Glückssymbolen bzw. Kostbarkeiten des Buddhismus. Immer
wieder wird sie als Sinnbild für Selbstlosigkeit, Reinheit und vor allem
für das Nicht-Anhaften herangezogen.
Die Frage drängt sich auf, ob der Geist sich wirklich von allen Anhaftungen
befreien sollte, oder, um im Bilde der biologischen Realität zu
bleiben, er unterscheiden lernen muss, welche Information schädlich
und welche wichtig bis essentiell ist. Es deutet sich an, dass ein selektiver
Abperl-Effekt grundlegend für langfristige Gelassenheit ist. Denn
die Haltung, grundsätzlich alles abperlen zu lassen, führt, wie wir noch
sehen werden, eben auch nicht zu einer generellen Gelassenheit, sondern
eventuell zu einem kurzfristigen Aufschieben der Herausforderungen,
was langfristig wiederum neue oder noch größere Probleme
nach sich zieht.
Lassen Sie uns also zusammenfassen. Es scheint so, als ob die Lotusblüte
zwei Maximen anwendet, die ihren Erfolg ausmachen:
1. Immunität gegen potentiell schädliche Informationen (z. B. Pilze)
durch den (reinen) Abperl-Effekt und
2. Durchlässigkeit für wichtige und essentielle „Daten" (z. B. Nährstoffe).
Nur wenn beide Lotusblüten-Maximen gewährleistet sind, entsteht die
notwendige Balance, die letztlich eine erfolgreiche Koexistenz mit den
vorherrschenden Umweltbedingungen möglich macht. Dies ist auch
der Grund hierfür, dass ich von einem selektiven Abperl-Effekt spreche.