Wer auch immer Recht setzt und Recht spricht, Gesetze erlässt und über Gesetze nachdenkt, muss Maßstäbe suchen, auffinden und deuten, die dem Menschen, seinen Bedürfnissen und Eigenheiten, der das Recht bestimmenden Kultur und dem Willen der Rechtsgemeinschaft gerecht werden. Recht wurzelt in der Wirklichkeit des Menschen, in der historisch gewachsenen und bewährten Kultur und sodann – in diesem Rahmen – im Willen des Gesetzgebers.
Gesetzestext und Rechtsgedanke
Kein Mensch möchte der Willkür des Staates ausgeliefert sein, weder der Willkür des Gesetzgebers noch der des Richters. Auch in einer Demokratie entsteht verbindliches Gesetzesrecht nicht allein deshalb, weil der Gesetzgeber es so gewollt hat. Vielmehr muss dieses Recht dem Menschen und seiner Kultur entsprechen. Diese Erfordernisse einer Menschen- und Kulturgerechtigkeit sind heute schriftlich in der Verfassung niedergelegt, brauchen deshalb nicht mehr unmittelbar aus der Natur, der Vernunft, aus religiösen oder philosophischen Wahrheiten abgeleitet zu werden. Auch der Gesetzgeber ist an das Grundgesetz gebunden. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet insbesondere auf Antrag eines betroffenen Bürgers, dass die Entscheidungen des Gesetzgebers im Rahmen des Verfassungsrechts bleiben.
Für diese Bindung von Gesetzgeber und Rechtsprechung an das Grundgesetz stellt sich nun die Grundsatzfrage, ob der in der Gesetzesurkunde niedergelegte Gesetzestext oder eher der in dem Text ausgesprochene Rechtsgedanke die verbindliche Regel vorzeichnet. Jedenfalls für die Grundsatzwertungen der Gerechtigkeit, die im Verfassungstext ausgedrückt sind, trägt der Text allein die Entscheidung nicht. Die Verfassungen regeln die Prinzipien der Rechtsgemeinschaft, deuten das Gemeinte vielfach nur an, bleiben teilweise fragmentarisch: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.« An diesem Maßstab entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob das Reiten im Walde durch Gesetz untersagt werden darf, ob ein Ausländer in Deutschland seinen Beruf frei wählen und frei zu einer Versammlung einladen darf.
»Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Dieser Verfassungssatz ist der Maßstab, wenn Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht zu beurteilen haben, ob die Universitätsgremien drittelparitätisch – mit einem Drittel Professoren, einem Drittel Studenten, einem Drittel wissenschaftliche und sonstige Mitarbeiter – besetzt werden dürfen, ob die Universität von einem Aufsichtsorgan mitbestimmt und kontrolliert werden darf, in dem Nichtuniversitätsmitglieder die Mehrheit haben; wie die Universität ihre Kapazitäten einzusetzen und fortzuentwickeln hat, um möglichst vielen Studienbewerbern einen Studienplatz anzubieten.
»Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.« Diese Vorgabe leitet den Gesetzgeber, wenn er zu prüfen hat, ob die geistige Urheberschaft an einem Computerprogramm, der Rentenanspruch des Rentners, das Grundstück einer Gemeinde oder das Einkommen bei der Einkommensteuer als Eigentum geschützt ist. Der bloße Verfassungstext ließe den Gesetzgeber und Verfassungsrichter fast allein, stünde nicht hinter jedem Verfassungswort ein Rechtsgedanke, hier der Schutz des Eigentums als wirtschaftliche Grundlage persönlicher Freiheit.
Menschen können sich in Sprache nur verständigen, weil sie mit jedem Wort eine bestimmte Vorstellung verbinden. Wenn wir von »Mensch«, »Beruf«, »Gesetz« oder »Gericht« sprechen, nimmt der Angesprochene im Wort einen Teil der uns vertrauten Wirklichkeit, Kultur oder Rechtserfahrung auf, die er mit dem Sprecher teilt. Diesen Sprachbefund drückt das schöne Wort der »Rechtsquelle« aus: An der Quelle wird das Wasser nicht gefertigt, sondern sichtbar gemacht. Es war bereits im Berg vorhanden, tritt nun aber aus dem Inneren des Berges hervor, so dass der Mensch es schöpfen und als Lebensmittel nutzen kann. Die Rechtsquelle ist der Erkenntnisgrund, nicht der Entstehensgrund für Recht. Die Rechtsgemeinschaft sucht die Quelle zu fassen, zu verfassen, um das im Innern des Berges vorhandene, bisher aber vom Menschen nur vermutete Wasser allseits sichtbar, greifbar, nutzbar zu machen. Bei der Fassung des Rechts wird sich der Verfassunggeber bemühen, all das in der Wirklichkeit und im Kulturwissen angelegte Recht vollständig zu erschließen, die darüber hinaus notwendigen Regelungen in die Verantwortung eines zur Gesetzgebung berufenen Staatsorgans zu weisen.
Wirklichkeit
Gerecht ist die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die allen Menschen entspricht. Ihre Maßstäbe ergeben sich zunächst aus der Natur des Menschen. Der Mensch will nicht hungern, nicht verletzt werden, nicht im Krieg leben, nicht seiner Freiheit beraubt oder entehrt, nicht aus der Gemeinschaft ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden. Doch wenn wir näher nach den Antworten fragen, die uns die Natur für die Inhalte des Rechts gibt, werden wir erleben, dass wir uns als Menschen, die dieser Natur unterworfen sind, nicht aus dem Blickwinkel einer höchstpersönlichen und begrenzten Beobachtung der Natur lösen können. »Wie oft du auch an das Tor der Natur klopfen magst, sie wird dir niemals in verständlicher Sprache antworten, denn sie ist stumm.« Die Sklaverei, die rechtliche Unterscheidung der Menschen nach Herkunft und Hautfarbe, die Unterdrückung der Frau sind viele Jahrhunderte aus der Natur des Menschen abgeleitet worden. Erst die neueste Zeit anerkennt die Gleichheit jedes Menschen, weil er Mensch ist.
Selbst die elementaren Bedürfnisse des Menschen werden rechtlich nur zur Wirkung gebracht, wenn die für das Recht Verantwortlichen diese ersichtlichen Bedürfnisse auch zur Kenntnis nehmen. Der Mensch ist betroffen, wenn sein Nachbar ermordet wird oder tödlich verunglückt. Wenn Gleiches in einem fernen Krieg geschieht, berührt uns das wenig, weil wir uns nicht in die Lebenslage dieser Menschen versetzen, für sie kaum Mitleid empfinden. Bei der Bewältigung des von der DDR den Menschen zugefügten Unrechts ist der Kampf um die rechtswidrig enteigneten Grundstücke erbitterter als der Streit um den Ausgleich höchstpersönlicher Rechtsgüter – die Tötung eines Angehörigen, der Verlust der Gesundheit, das Verbot, Studium und Beruf frei zu wählen, die Unterdrückung der Religion –, weil die unwiederbringlich verlorenen persönlichen Güter allenfalls in Geld ausgeglichen, die Grundstücke hingegen täglich gesehen und betreten werden können. Und wenn wir gegenwärtig die rechtliche Rahmenordnung für die soziale Marktwirtschaft erneuern müssen, hängt die Entscheidung wiederum vom Blick auf die Wirklichkeit von Gütererwerb und Güterverteilung ab. Auf dem Markt bietet die Marktfrau ihre Äpfel an, und der Kunde erwirbt die roten und gelben Äpfel, die braunen und faulen bleiben liegen. In der Planwirtschaft hingegen teilt der Staat die vorhandenen Äpfel zu – auch die braunen und faulen. Mit dieser Beobachtung bleiben wir gelassen gegenüber einer aufgeregten Kritik, die eher den Markt in Frage stellt, als dass sie die Schwächen eines Finanzwettbewerbs ohne eine Kultur des Maßes ins Bewusstsein rückt.
Der Elementarbedarf des Menschen
Im Elementaren beauftragt die Wirklichkeit das Recht, jedem Menschen Nahrung, Kleidung, Unterkunft und ein friedliches Umfeld zu sichern. Ist jemand obdachlos, stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wie ihm ein Zuhause geboten wird. Wenn eine Wohngegend durch jugendliche Gewalttäter unsicher geworden ist, erwarten wir vom Recht, dass es den Frieden, den sicheren Schulweg für die Kinder, den Nachhauseweg des späten Gastes ohne Gefahr und Angst gewährleistet. Wenn Menschen in einem Verkehrsstau viele Nachtstunden verharren müssen, zwingt ihr Grundbedarf die Rechtsgemeinschaft, ihnen durch heißen Tee und warme Decken Hilfen zu leisten. Gegenwärtig steht der Rechtsstaat vor allem vor der Aufgabe, jedem in Deutschland lebenden Menschen das kulturelle Existenzminimum, die deutsche Sprache, auch Elementarkenntnisse im Schreiben, Lesen, Rechnen zu vermitteln, damit der Mensch Zeitungen lesen, Verträge schließen, Rechnungen bezahlen, auch Beschwerden einreichen kann. Die Gemeinschaft der Sprache und einer Elementarbildung ist Bedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens.
Sodann lehrt uns die Wirklichkeit des Menschen, dass wir den freiheitsberechtigten Bürger nicht stets als gesund, stark und urteilskräftig denken dürfen, er vielmehr oft auch krank, schwach und ängstlich ist. Wir dürfen vom Kleinkind nicht erwarten, dass es die Regeln des Straßenverkehrs beachtet, verantwortlich mit Gas, Feuer und Technik umgehen kann, eine Steuererklärung abgibt. Das Recht gibt dieses Kind in die Verantwortlichkeit der Eltern. Für das heranwachsende Kind schaffen wir Kindergärten und Schulen, um jedem Menschen eine Ausbildung und Bildung zu vermitteln, die er allein aus eigener Kraft so nicht erwerben könnte.
Die Realität sagt uns, dass der Mensch krank werden kann. Deshalb verlangt das Recht, dass wir ein Gesundheitssystem von Ärzten, Krankenhäusern und Pflegepersonal bereitstellen, um die Krankheit zu heilen, Schmerzen zu lindern, die Folgen des Alterns durch Brille, Hörgerät oder künstliche Hüfte zu mäßigen. Dabei gerät der Arzt in eine unvermeidbare Bedrängnis, wenn das Finanzierungssystem ihm möglichst viele Operationen nahelegt oder ihn in persönliche finanzielle Not bringt. Die Leistungen des Arztes und des...