Das Ziel dieser Arbeit besteht zunächst darin, durch Paraphrase des Textes den Inhalt des Romans darzustellen. Die Darstellung des Inhalts folgt dabei dem linearen Verlauf der im Roman dargestellten Handlung. Im Zuge der Paraphrase sollen jene Aspekte herausgearbeitet werden, die dann zum Gegenstand einer weitestgehend textimmanenten Interpretation werden. Zu diesen Aspekten wird unter anderem die Frage gehören, wie und mit welchen erzählerischen Mitteln Michael Ende versucht, dem Leser eine sinnlich-konkrete Vorstellungen von höchst abstrakten Phänomenen wie der Zeit zu vermitteln. Darüber hinaus wird im Rahmen dieser Arbeit, insbesondere im ersten Teil, der Nachweis angetreten, daß Michael Ende mit den Geschichten, die er von einer Hauptfigur seines Romans erzählen läßt, teilweise auf geläufige Motive und Stoffe der europäischen Erzähltradition, insbesondere auf solche, die aus dem Märchen stammen, zurückgreift.
Die Frage, ob Michael Endes erzählerische Gestaltung des Romans auch den Ansprüchen und Kriterien eines erwachsenen Publikums gerecht zu werden vermag, wird bei all den zuvor erwähnten Punkten implizit eine Rolle spielen. Denn eines dürfte aus dem vorhergegangenen Abschnitt dieser Arbeit ganz klar hervorgegangen sein – Michael Ende verstand sich nicht als Autor, der in erster Linie für Kinder schrieb. Er wollte vielmehr „erleb- und erfahrbare Vorstellungswelten“ (vgl. S. 4) für Kinder und Erwachsene schaffen. Insofern scheint es legitim, »Momo« auch an Kriterien der Gestaltung zu messen, die für Literatur im allgemeinen gelten.
Abschließend sei noch erwähnt, daß diese Arbeit auch versucht – wenngleich nur am Rande – auf die vorgegebenen Referatskriterien einzugehen. Daß dies nicht mit der vielleicht gewünschten Ausführlichkeit geschieht, liegt in dem Bemühen begründet, den Umfang dieser Arbeit zu begrenzen.
Erster Abschnitt
Michael Endes Roman beginnt mit einer Retrospektive. Sie vermittelt eine grobe Vorstellung vom öffentlichen und kulturellen Leben in der griechisch-römischen Antike, indem sie jene Zeit durch lebendig-anschauliche Beschreibungen schemenhaft auferstehen läßt. Zumindest deutet vieles, nicht nur der Fingerzeig, daß „seither Jahrtausende vergangen sind“[50], auf diese historische Periode hin. Das Amphitheater und die erwähnten Tempelbauten sind weiteres Indiz dafür, daß die Beschreibungen sich hier auf den Zeitraum der Spätantike zu beziehen scheinen.
Besonderes Gewicht legt der Erzähler in seiner Rückblende auf die außerordentliche Wertschätzung, die das Publikum zu jener Zeit dem Theater wiederfahren ließ. Das damalige Publikum habe aus „leidenschaftlichen Zuhörern und Zuschauern“[51] bestanden, so der Erzähler. Mit dem Verweis, jene Zuschauer seien den Geschehnissen auf der Bühne mit großer innerer Anteilnahme gefolgt, weil sie ihnen manchmal „[...] auf geheimnisvolle Weise wirklicher [...]“ zu sein schienen als ihr „[...] eigenes alltägliches [...]“[52] Leben, wird dem Drama, stellvertretend für die übrigen Gattungen der Poesie, die Fähigkeit zugesprochen, den Zuschauer der Wirklichkeit entheben zu können. Schon hier, vor Beginn der eigentliche Romanhandlung, wird eine Wirkung der Poesie beschrieben oder vielmehr angedeutet.
Momo, die Protagonistin des Romans, der in unserer heutigen Zeit im Süden Italiens spielt, wählt die Relikte eines schlichten und längst in Vergessenheit geratenen Amphitheaters am Rande einer Großstadt zu ihrem neuen Zuhause. Mit bescheidenen Mitteln richtet sie sich dort ihre Lagerstätte in einer Kammer ein. Sie bezieht somit – so legt es jene Rückblende nahe – einen historisch-kulturell bedeutsamen Ort, an dem es einst nicht nur eine äußerst lebendige Theaterkultur gab, sondern ebenfalls eine sehr ausgeprägte Kultur des Zuhörens.
Recht bald kommt es zum ersten Kontakt zwischen Momo und den Bewohnern des nahegelegenen Wohnviertels. In dem sich ergebenden Gespräch faßt Momo nicht nur vorsichtiges Vertrauen zu den Bewohnern der Nachbarschaft, sondern der Leser erfährt auch zum ersten Mal Näheres über Momo selber. Klar wird in diesem Zusammenhang aber nur eines: Momo, ein Mädchen von circa acht bis zwölf Jahren, ist aus dem Erziehungsheim geflohen. Die dortigen Verhältnisse waren nicht länger zu ertragen. Ihre familiäre und damit auch soziale Herkunft bleibt indes ungewiß. Denn Momo vermag dem Wortführer der freundlich gesonnenen Bewohner keine Antwort auf die Fragen zu geben, wie alt sie sei, woher sie komme und ob sie denn keine Eltern oder zumindest Verwandte habe.
Momos ungeklärte Herkunft sowie ihr äußeres Erscheinungsbild, das als beredtes Zeugnis ihrer Bedürfnislosigkeit zu verstehen ist, sollen ihr, so darf man annehmen, von vornherein einen märchenhaft-geheimnisvollen Nimbus verleihen. Auch mutet die Art und Weise, wie sie zu ihrem Namen gekommen ist, seltsam an. Auf entsprechende Nachfrage gibt sie zu verstehen, daß sie sich ihn selber gegeben habe. Doch wer denkt, dieser Name, mit dem Momo vordergründig versucht, sich eine eigene Identität zuzulegen, sei ihre eigenkreative Schöpfung oder die des Autors, den belehrt das »Altdeutsche Namensbuch«[53] eines Besseren. In diesem Zusammenhang ergibt sich sogleich die Frage, wie Momo, die erst im Begriff ist, Lesen und Schreiben (durch Gigi) zu erlernen[54], sich diesen ungewöhnlichen und kaum verbreiteten Namen überhaupt hat geben können? Seine Kenntnis setzt doch ein bescheidenes Maß an Belesenheit voraus, weshalb er zu ihr eigentlich nicht paßt. Bleibt als mögliche Erklärung, daß sie ihn entgegen ihrer Behauptung einfach ‚aufgeschnappt’ hat.
Betrachtet man insgesamt, wie der Autor zu Beginn des Romans seine Protagonistin einführt, so kann man sich des generellen Eindrucks nicht erwehren, daß Michael Ende allzu bewußt und offenkundig auf das Motiv der unbekannten Herkunft[55], das landläufig im Märchen verwandt wird, zurückgegriffen hat. Dieser offenkundige Rückgriff ist vermutlich erfolgt, um Momo als Protagonistin des Romans von vornherein mit dem Attribut des Märchenhaften ausstatten und bemänteln zu können. Momo kommt also nicht nur in einer viel zu großen und mit Flicken versehenen Männerjacke daher, sondern auch im fadenscheinigen Gewand der Märchenfigur.
Doch zurück zur Handlung: Nachdem sich die Bewohner des angrenzenden Wohnviertels im Gespräch mit Momo davon überzeugen konnten, daß nichts dagegen spricht, sie im Amphitheater wohnen zu lassen, beschließen sie, für Momo gemeinschaftlich und solidarisch zu sorgen. Sodann wird dieser Beschluß in die Tat umgesetzt: Nicola, der Maurer, fügt aus Steinen geschickt und einfallsreich einen kleinen Ofen zusammen. Ein Bett sowie eine Matratze sind ebenfalls schnell herbeigeschafft. Nino, seines Zeichens Gastwirt, sorgt zusammen mit seiner Frau dafür, daß Momo stets etwas zu essen hat.
Kurz und gut – die genügsame Momo hat fortan alles, was sie zum Leben braucht. „Und was das Wichtigste war: Sie hatte viele Freunde.“[56] Doch nicht nur für Momo, die von nun an ein festes Zuhause im Amphitheater hat, scheint sich vieles glücklich gefügt zu haben. Gleiches gilt auch für die Erwachsenen. Ihnen wird Momo unentbehrlich. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Gabe, ihrem Gesprächspartner in besonderer Weise zuhören zu können, wenden sich die Erwachsenen mit ihren kleinen, aber auch mit ihren ernsthaften Problemen an sie. Denn Momo
„[...] konnte so zuhören, daß dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. [...] Sie konnte so zuhören, daß ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wußten, was sie wollten. Oder daß Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder daß Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden“[57].
Der Erzähler – und dies wirkt nahezu penetrant – fühlt sich genötigt, mit allen Mitteln, auch mit dem der plumpen und direkten Ansprache des Lesers, Momos Fähigkeit bis zum Überdruß herauszustellen und zu erläutern.[58] Im Gegensatz hierzu führt Gigi prägnant und zutreffend die Wirkung, die Momos Fähigkeit hervorzurufen pflegt, darauf zurück, daß die Leute, im Gefühl, jemand nähme sich die Zeit und Mühe, zuzuhören, zu...