Das Abenteuer begann im Frühsommer des siebten Jahres unseres Tibetaufenthaltes. Auf einem kurzen Probetreck wollte Erik unsere sechs ausgewählten Schüler, Paul und mich auf die große Lhagpa-Ri-Tour im Herbst 2004 vorbereiten. Doch bevor wir Erik und seine Teamgefährten am Flughafen von Lhasa willkommen heißen konnten, stellte sich als Vorhut das Filmteam mit Sybil, der Produzentin, und Lucy, der Regisseurin, ein. Sie kamen mit zwei erfahrenen Kameramännern und teurem Gerät, um Paul und mich und vor allem die Jugendlichen in Gesprächen und Interviews, die zum Teil auch im Film zu sehen sein sollten, auf die Ankunft Eriks und seiner Crew einzustimmen.
Lucy beschrieb uns den Ablauf der Dreharbeiten und erklärte uns kurzerhand zu Hauptdarstellern des Films. Ja, wir sollten in einem Film mitspielen, der nach Hollywoods ganz eigener Realitätsvorstellung ausgebrütet zu sein schien. Und bald dämmerte uns, was man vorhatte. Offenbar erträumte man sich die Story ungefähr so: Erik Weihenmayer, blind, aber ein Kletterhüne und dazu ein Weltstar, reist in die rauen Berge, auf das Dach der Welt, und bringt Licht in die Dunkelheit der blinden Kinder Tibets. Er nimmt sie an die Hand und erstürmt mit ihnen gewaltige Gipfel, um ihnen Mut zu machen und Selbstvertrauen zu vermitteln.
Schon beim ersten Gespräch kollidierte der Filmtraum jedoch mit der Wirklichkeit. Die sechs Schüler jedenfalls schrieben ihre eigene Story und hatten von der Begegnung mit dem berühmten Bergsteiger ganz andere Vorstellungen.
Zum ersten Kennenlernen traf man sich auf der sonnigen Dachterrasse unserer Schule. Lucy, als Dokumentarfilmerin bestens vertraut mit der Jugend, zeigte sich leutselig und humorig. »Hey Guys, what’s up?«, bellte sie, »Your school looks really cool!«
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie Lucys Englisch nur schlecht verstanden, unsere Schüler hielten sich jedenfalls zunächst auffallend zurück und überließen es Lucy, das Gespräch in Gang zu bringen.
Es muss ihr wohl bald bewusst geworden sein, dass es sich hier nicht um amerikanische Teenager handelte, denn sie schlug nun einen sanfteren Ton an und versuchte, sich auch in ihrer Wortwahl an die tibetischen Jugendlichen anzupassen.
Lucy stellte sich zunächst einmal vor. Sie sei 34 Jahre alt, frisch verlobt mit einem britischen Politiker und sie sei auf einem Auge blind. Sie könne sich also sehr gut in uns alle hineinversetzen.
Abwartendes Schweigen auf Seiten der Jugendlichen.
»Fangen wir also an!«, sagte Lucy munter. »Wie fühlt ihr euch?«
»Ooch, mir geht’s gut, danke. Und dir?« Tendsin bemühte sich, höflich zu sein.
»Nun ja, auch gut«, meinte Lucy schnell, »aber ich will natürlich wissen, was ihr empfindet, so innerlich spürt, wenn ihr daran denkt, dass Erik nach Tibet kommen wird.«
»Kare sa? Was will sie?«, wandte sich Bungzo etwas ungeduldig an die neben ihr sitzende Kyila.
»Hago ma sung, keine Ahnung«, raunte Kyila zurück.
Ich versuchte, mir meine Erheiterung nicht anmerken zu lassen. Tibeter sprechen meist nur ungern über ihre eigenen Gefühle. Lucys Interview-Strategie – »Was fühlst du, das ich nicht fühl?« – lief bei den Jugendlichen jedenfalls ins Leere.
Es war wieder Tendsin, der es behutsam mit einem Hilfsangebot versuchte. »Du meinst vielleicht, ob wir uns freuen?«
Tendsin, 16 Jahre alt, war einer der ersten Schüler, die wir für das Kletterabenteuer ausgewählt hatten. Wir achteten darauf, dass die jungen Bergsteiger sowohl sportlich und mobil als auch verlässlich waren und nicht herumalberten, wenn es unpassend war. Wir mussten auf sie zählen können, besonders in schwierigen Situationen, wenn es darauf ankam, sich auf die genaue Handhabung der Kletterhilfen zu konzentrieren und auf die Kommandos der Bergführer zu hören. Tendsin gehörte zu den ersten Kindern der Schule. Wir kannten ihn gut, schätzten seine schnelle Auffassungsgabe und seine solidarische Haltung gegenüber schwächeren und besonders auch neuen Schülerinnen und Schülern. Und genau mit dieser höflichen Fürsorge begegnete er Lucy.
»Oh ja«, sagte er freundlich, »natürlich empfinden wir Freude!«
»Schön«, sagte Lucy munter, »Freude ist ein schönes Gefühl. Aber empfindet Ihr vielleicht auch Angst vor der Begegnung mit Erik?«
Die Schüler fingen an zu lachen.
»Angst? Warum sollen wir denn Angst haben?«, amüsierte sich Gyendsen.
Als Gyendsen von Eriks Everest-Erfolg erfuhr, war der damals 14-jährige Junge wie kein anderer von der Tatsache fasziniert, dass ein Blinder das scheinbar Unmögliche möglich gemacht hatte. Bis dahin hatte er versucht, sich vor der Welt der Sehenden zu verstecken. Wie Erik weigerte sich auch Gyendsen zunächst, den Blindenstock als Hilfsmittel einzusetzen. Er wollte am weißen Stock nicht als Blinder erkannt werden. Doch seit Eriks sensationeller Tat wandelte sich seine Einstellung zur Blindheit, ja, er entwickelte sogar einen gewissen Stolz. Bald unternahm er auf eigene Faust kleinere Streifzüge durch die Stadt, bei denen er nicht selten von Passanten beschimpft wurde. »Wir dürfen uns von niemandem einschüchtern lassen«, verkündete er später vor einer Klasse jüngerer Schüler. »Wir müssen ihnen zeigen, wozu wir in der Lage sind.«
Jetzt, mit seinen 17 Jahren, ist er ein sportlicher und couragierter Junge, ohne jede Angst vor der Außenwelt. Und Angst vor Erik, der ihm durch seine Geschichte so viel Mut gemacht hatte – das klang in seinen Ohren fast absurd.
»Ja, also … nun«, versuchte Lucy eine Erklärung, »Erik ist doch ein Weltstar. Er ist doch berühmt!«
»Na und?«, entgegnete die 15-jährige Bungzo schnippisch.
Bungzo war im Gegensatz zu Gyendsen nicht sofort für die Bergtour zu begeistern gewesen. Sich wochenlang körperlichen Strapazen auszusetzen, behagte ihr gar nicht. Sie war immer schon eine hervorragende Schülerin, der die guten Noten in den Schoß fielen, scheute aber jegliche »überflüssige« Anstrengung. Und so war auch die Tatsache, dass man sich auf das Kletterabenteuer durch sportliche Betätigung vorbereiten musste, ein gewichtiges Gegenargument. Sie empfand das ermüdende Treppenlaufen und die schweißtreibenden »Jumping-Jack-Übungen«, bei denen man wie ein Hampelmann Arme und Beine von sich wirft, als vollkommen unnötig und überlegte lange, ob sie uns nicht für unseren »Sonntagsspaziergang«, wie sie es motzig nannte, einen Korb geben sollte. Erst einige Wochen vor der Anreise Lucys hatte sie sich für das Abenteuer entschieden. »Ich komme mit«, erklärte sie. »Wenn ich in die Berge gehe, dann werde ich stark und gesund! Und außerdem kann ich später meinen Enkeln erzählen, wo ich überall gewesen bin.«
Lucy spürte wohl das Ressentiment bei Bungzo und einigen anderen Schülern und versuchte nun, das Ganze von einer anderen Seite her aufzuziehen.
»Was glaubt ihr, wie Erik euer Leben verändern wird?«
Ratloses Schweigen.
Doch wenn Lucy einmal angebissen hatte, ließ sie so schnell nicht wieder locker: »Was kann er euch wohl für die Zukunft mitgeben?«
Wieder keine Antwort.
»Also, ehm, was könnt ihr von ihm lernen?«
»Ich hoffe, ich lerne klettern«, meinte Gyendsen, praktisch wie er ist.
»Ja, sehr gut! Und was noch?«
»Vielleicht Englisch?«, versuchte es Bungzo so zögernd wie bei einem Ratespiel, um die richtige Antwort auszuprobieren.
»Englisch, natürlich, aber überlegt doch mal, was könnte an der Begegnung mit Erik für euch noch gut und wichtig sein?«
»Alles ist gut«, mischte sich nun Dachung ins Gespräch ein. Seine Englischkenntnisse waren noch nicht gut genug, um sich an dem ganzen Frage- und Antwortspiel zu beteiligen. Und um das Palaver abzukürzen, sagte er nur: »Alles ist gut, klettern ist gut, Englisch ist gut.«
Dachung, ein pfiffiger kleiner Kerl, braucht nicht viele Worte, um gut durchs Leben zu kommen. Seine Überlebensstrategien sind Humor und eine erstaunliche Lässigkeit, mit der er allem Unbequemen und Garstigen in der Welt begegnet. Er war mit seinen 14 Jahren der jüngste und kleinste Teilnehmer, aber er war auch ein ausgesprochen zäher Bursche. Schmerzen oder Anstrengungen schienen ihm nicht viel auszumachen. Ja, Dachung war voller Zuversicht, mit den anderen Schritt halten zu können. »Berge...