Psychotrauma
Wenn über Trauma gesprochen wird, haben die meisten Menschen Bilder von Krieg und Folter im Kopf, von abgetrennten Gliedmaßen, Vergewaltigung oder Naturkatastrophen. Eine Form von Trauma wird jedoch leicht übersehen: Vernachlässigung.
Der schottische Psychoanalytiker und Sozialarbeiter James Robertson filmte Anfang der 1950er-Jahre Kinder, die über einen längeren Zeitraum dauerhaft von ihrer Mutter getrennt wurden. Um ihre Verhaltensveränderungen zu dokumentieren, zeigte er zum Beispiel den 17 Monate alten John, der für neun Tage in eine Rund-um-die-Uhr-Kinderkrippe gegeben wurde, weil seine Mutter ins Krankenhaus musste. Aus zahlreichen Momentaufnahmen zusammengeschnitten, erlebt man in wenigen Minuten mit, wie sich das gesamte Wesen des kleinen John von Tag zu Tag grundlegend veränderte. Als ihn die Mutter nach wenigen Tagen abholen wollte, wandte er sich ab, hatte Angst vor ihr und verweigerte sich dem physischen Kontakt mit ihr. John hatte durch die Trennung von seiner Mutter ein Trauma erlitten.
Was versteht man unter einem Psychotrauma?
Damit ein Psychotrauma entsteht, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen:
•Sie geraten in eine Situation, die Sie nicht vermeiden können, der Sie sich ausgeliefert fühlen und die gegen Ihren Willen geschieht.
•Ihre aktuellen Fähigkeiten, die Situation zu bewältigen oder zu integrieren, reichen nicht aus.
•Diese Überforderung ist so stark, dass Sie das Erlebnis nicht in seiner Vollständigkeit erinnern können, sondern allenfalls Bruchstücke. Sie blenden die dazugehörigen Gefühle aus oder verdrängen das ganze Ereignis komplett aus Ihrem Bewusstsein.
•Oft meiden Sie nachfolgend Situationen, Orte oder Menschen, die Sie an dieses Ereignis erinnern könnten.
•Bilder können in Form von Tagträumen oder Albträumen in Ihr Bewusstsein drängen, die mit der aktuellen Realität wenig zu tun haben.
•Sie erleben Schmerz, Aufregung oder Anspannung, obwohl es keinen ersichtlichen Anlass dafür gibt.
•Sie wiederholen die Erfahrungen des Traumas wieder und wieder, zum Beispiel, indem Sie sich (Geschäfts-)Partner suchen, die Sie genauso behandeln, wie Sie während des traumatischen Ereignisses behandelt wurden.
•Ihr Selbstbild und Ihr Weltbild nehmen dauerhaft Schaden.
»Psychotrauma« ist keineswegs eine neue Diagnose. Sie wurde bereits im 19. Jahrhundert erkannt und 1919 von Pierre Janet aufgrund seiner Erfahrungen mit Patienten am berühmten Nervenkrankenhaus Hôpital de la Salpêtrière in Paris zum ersten Mal definiert.
Was bedeutet Monotrauma?
Ein Beispiel macht das deutlich:
Frau K. bleibt nach einem Auffahrunfall in ihrem Fahrzeug eingeschlossen. Benommen bekommt sie mit, dass andere Unfallbeteiligte mit den Worten flüchten: »Schnell weg hier! Der Karren explodiert gleich.« Erst nach einer gefühlten Ewigkeit trifft die Feuerwehr ein und schneidet sie aus dem Wagen heraus. Von ein paar Kratzern abgesehen, bleibt sie körperlich unversehrt. Innerlich jedoch ist nichts mehr wie vor dem Unfall: Sie kann immer schlechter schlafen, leidet unter Albträumen, bald kann sie die Wohnung nur mehr verlassen, nachdem sie Beruhigungstabletten eingenommen hat. Autos und Straßenverkehr meidet sie.
Die unbedachten Worte des Unfallgegners leben in ihr fort: »Schnell weg hier! Der Karren explodiert gleich.« Sie sitzt fest und glaubt, sterben zu müssen. Die Angst, gleich in einem Wagen zu verbrennen, können vermutlich nicht viele Menschen gelassen hinnehmen. Die Psyche von Frau K. schaltet ab, noch während ihr die Worte im Ohr klingen. Sie »verlässt ihren Körper«, um die Todesangst nicht mehr spüren zu müssen. Monotraumata werden auch Einmal- oder Schocktraumata genannt.
Was definiert ein Entwicklungstrauma?
Entwicklungstraumata, auch Komplextraumata genannt, entstehen, wenn die gesunde Entwicklung eines Menschen beeinträchtigt wird. Diese Beeinträchtigung kann schon bei der Zeugung beginnen. Ein Experiment an den kleinsten Lebewesen macht dies deutlich: Piekt man eine Amöbe, zieht sie sich zusammen. Sobald der Reiz abklingt, entspannt sie sich wieder. Piekt man sie erneut, wiederholt sich das Spiel. Setzt man das Pieken fort, dauert es von Mal zu Mal länger, bis die Entspannung einsetzt. Wird eine Amöbe dem Reiz längerfristig ausgesetzt, verharrt sie bald in der Kontraktion. (Weiss 2015)
Menschen reagieren ähnlich. Werden sie besonders in jungen Jahren dauerhaft überfordernden Situationen oder Erfahrungen ausgesetzt, können sie das nicht verkraften. Erschwerend kommt hinzu, dass sie nicht mit Nadeln gepiekt, sondern von anderen Menschen emotional oder physisch verletzt werden. Sind diese anderen Menschen zudem die eigenen Eltern, führt die Erfahrung ins Chaos. Bei Gefahr sucht jedes Kind Schutz bei jenen, die es gezeugt haben. Fügen aber genau jene ihm Schaden zu, sucht es Hilfe dort, von wo Gefahr ausgeht. Es ist, als würden Sie bei einem elektrischen Schlag das Stromkabel noch fester umklammern. Ein Teufelskreis entsteht, der zu völliger Verwirrung führt und mannigfache Konsequenzen nach sich zieht.
Ursachen für Traumata
Haben Sie bis zum Alter von 17 Jahren physischen, emotionalen oder sexuellen Missbrauch erfahren? Sind Sie vernachlässigt, also in Ihren psychischen oder emotionalen Bedürfnissen nicht gesehen, gehört, geliebt worden? Wurden Sie von Eltern mit psychischen oder schweren physischen Erkrankungen aufgezogen? Waren Ihre Eltern drogenabhängig oder vorübergehend beziehungsweise dauerhaft abwesend? Haben Sie die Trennung oder Scheidung der Eltern oder häusliche Gewalt miterlebt? Je mehr dieser schädigenden Einflüsse Sie ausgesetzt waren, desto wahrscheinlicher ist es, dass Ihre gesundheitliche Verfassung darunter gelitten hat.
Ende der 1990er-Jahre wurde in den USA eine Studie in Auftrag gegeben, die sogenannte ACE-Studie. ACE steht für »Adverse Childhood Experiences«, zu Deutsch etwa: »Nachteilige Erfahrungen in der Kindheit« oder schlichtweg »Frühe Traumata«. In dieser Studie wurde erstmals der Zusammenhang zwischen Kindheitserfahrungen und den Folgen für die Gesundheit im Alter erforscht. (Felitti et al. 1998) Bei den Teilnehmern korrelierte die Anzahl der schädigenden Erfahrungen mit einer erheblich erhöhten Wahrscheinlichkeit, schwere beziehungsweise lebensverkürzende Krankheiten wie Herzinfarkte oder Krebs zu erleiden, alkohol- oder drogenabhängig zu werden oder sich vorzeitig das Leben zu nehmen. 67 Prozent der über 17 000 Befragten wiesen mindestens einen ACE-Punkt auf (hatten also ein traumatisches Ereignis miterlebt), 17 Prozent sogar vier und mehr. Menschen mit mehr als sieben ACE-Punkten erkrankten dreimal so oft als andere an Lungenkrebs – unabhängig davon, ob sie rauchten! – und hatten die dreieinhalbfach erhöhte Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu erleiden. Unverarbeitete Traumata haben also nicht nur Folgen für unser emotionales Erleben, sondern stellen auch ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar.
Was ist Vernachlässigung?
Wird ein Kind vernachlässigt, erfährt es nicht ausreichend Kontakt, interessiert sich keiner wirklich für seine Belange, werden ihm die eigenen Qualitäten und seine Fähigkeiten nicht so gespiegelt, wie es für eine gesunde Entwicklung seiner Identität nötig wäre. Es erfährt nie, dass seine bloße Existenz eine Bereicherung für sein Gegenüber darstellt.
In einer Langzeitstudie begleitete L. Alan Sroufe Menschen beginnend schon vor ihrer Geburt bis über das 30. Lebensjahr hinaus. Er kommt zum Ergebnis, dass die Qualität der Bindung, die ein Kind in den ersten beiden Lebensjahren erfährt, schwerer wiegt als spezifische Missbrauchserfahrungen in späteren Jahren.4
Es ist unwahrscheinlich, dass eine ähnliche Studie hierzulande grundlegend andere Ergebnisse hervorbringen würde. Von 900 Patientinnen in stationärer Suchtrehabilitation haben 53 Prozent körperliche Gewalt und 34 Prozent sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erfahren. »Nimmt man seelische Gewalt hinzu, haben 74 Prozent irgendeine Form von Gewalt erlitten«, berichtete Dr. Andreas Linde, Leitender Oberarzt der Klinik Königsfelden, in einem Vortrag auf der Jahrestagung »Sucht« 2010 in Basel. (Linde 2010) Bei der Anamnese von Opiat- und Mehrfachabhängigen wurde festgestellt, dass 25 bis 40 Prozent der männlichen und 50 bis 60 Prozent der weiblichen Personen sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlitten haben. Menschen, die früh traumatisiert wurden, waren beim Einstieg in die Abhängigkeit jünger und wurden später häufiger Opfer von Gewalt. Sie berichteten von deutlich mehr Suizidversuchen und leiden vermehrt unter psychischen Begleiterkrankungen.
Noch zwei Zahlen geben zu denken: Jahr für Jahr werden hierzulande 1300 Schwangerschaften verdrängt. 270 Kinder werden überhaupt erst wahrgenommen, weil bei den werdenden Müttern Wehen einsetzen.5 Es ist schon für einen Erwachsenen eine kaum zu ertragende Erfahrung, zwar mit Nahrung und Sauerstoff versorgt zu sein, aber ansonsten neun Monate nicht einmal wahrgenommen zu werden. Was mag das bei heranwachsenden Menschen bewirken, deren Gehirn und Nervensystem dringend auf Kontakt und Ansprache angewiesen sind?
Sie bekommen eine Ahnung davon, wenn Sie auf Youtube »Still Face Experiment«6 eingeben. Der Psychologe Ed Tronick filmte Kinder im Alter von mehreren Monaten oder einem Jahr im engen Kontakt mit...