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Postfaktisch

Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien

AutorMads Vestergaard, Vincent F. Hendricks
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783641230135
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»Eine Demokratie befindet sich in einem postfaktischen Zustand, wenn politisch opportune, aber faktisch irreführende Behauptungen anstatt Fakten als Grundlage für die politische Debatte, Meinungsbildung und Gesetzgebung dienen. Wer diese Entwicklung bremsen will, muss verstehen, was sie verursacht.«

Mit Macht dringen populistische Aussagen, alternative Tatsachen und Fake News in die öffentliche Debatte ein. Desinformation hat sich so ausgeweitet, dass wir alle uns dazu verhalten müssen - Politiker, Journalisten und Bürger. Im Zeitalter der Information ist Aufmerksamkeit gleichzusetzen mit Geld, Macht und Einfluss, auch wenn das auf Kosten von Tatsachen geschieht.

Mit ihrem Bestseller Postfaktisch legen die Philosophen Vincent F. Hendricks und Mads Vestergaard eine zusammenhängende Analyse der Mechanismen vor, die uns etwas als wahr betrachten oder empfinden lassen. Ihr Buch beschreibt die Entwicklung hin zu einer postfaktischen Demokratie und benennt die Gewinner und Verlierer der neuen Aufmerksamkeitsökonomie. Ein eindringlicher Weckruf zu einer Zeit, da die 'Wirklichkeit' zunehmend eine Frage von Klickzahlen scheint.

Vincent F. Hendricks, Jahrgang 1970, ist Professor für Formale Philosophie und Direktor des Center for Information and Bubble Studies (CIBS) an der Universität Kopenhagen. Für seine Forschung wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Elite Research Prize des dänischen Forschungsministeriums. Er ist Mitglied des Institut Internationale de Philosophie, Gewinner des Kopenhagener Science Slams 2015 und Koautor des Buches Infowars (2016).

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Leseprobe

1  Aufmerksamkeitsökonomie

1.1 Die Informationsgesellschaft

Als Abraham Lincoln Anfang des 19. Jahrhunderts im Bundesstaat Indiana aufwuchs, war er, so erzählten es die Nachbarn, zu kilometerlangen Fußmärschen bereit, um ein einziges Buch auszuleihen. »Mein bester Freund ist der Mensch, der mir ein Buch gibt, das ich noch nicht gelesen habe«, soll der junge Lincoln gesagt haben.8 Literatur gab es nur in beschränkter Auswahl, sie war schwer zugänglich und wertvoll. Das galt nicht nur für Literatur, sondern als Grundbedingung für das Erlangen von Information überhaupt: Information war eine schwer zugängliche Ressource. Ob es um Neuigkeiten aus weiter Ferne ging, neue Technik, neues Wissen oder reine Unterhaltung, in aller Regel setzte die Beschaffung von Information harte Arbeit voraus und verursachte erhebliche Kosten. Noch vor wenigen Jahren hat uns der Zugang zu Informationen viel mehr abverlangt als heute. Sich auf dem Laufenden zu halten, erforderte zum Beispiel das Abonnement oder den Kauf einer Zeitung, den Gang zur Bücherei, oder dass man sich zum Dorfteich bemühte, um das Neueste über den Nachbarn zu erfahren. Digitalisierung und Datentechnologie haben das radikal geändert. Heute reicht in der Regel ein Handy mit Internetzugang, um an die Information zu gelangen, die gesucht wird: Nachrichten, Politik, wissenschaftliche Studien, Literatur, Unterhaltung, Klatsch, Babyfotos und Katzenvideos. Nie zuvor stand uns so viel und so leicht zugängliche Information zur Verfügung.

Das Informationszeitalter kennzeichnet deshalb nicht, dass wir alle schwer zugängliche und kostbare Information jagen. Es verhält sich eher umgekehrt. In der Informationsgesellschaft gibt es so viel Information, dass wir darin zu ertrinken drohen. Das spiegelt sich darin wider, dass das gigantische Angebot von online frei zugänglicher Information deren Wert drastisch gesenkt hat. Viele, die mit dem Internet aufgewachsen sind, haben die Erwartung, dass Information gratis ist – und auch sein sollte –, und weigern sich, für Zeitungen, Bücher oder Unterhaltungsprodukte zu bezahlen. Wohl kaum jemand wäre heute zu einem Fußweg über mehrere Kilometer bereit, um ein Buch in die Finger zu bekommen.

1.2 Der Preis der Information

Dass Information in überwältigender Menge leicht zugänglich ist und man dafür meist nicht in Euro und Cent bezahlen muss, bedeutet aber keineswegs, dass sie umsonst ist. Der Preis, den wir für Information zahlen, ist unsere Aufmerksamkeit. Erinnert sei an den englischen Begriff »to pay attention«. Man kann Unmengen Information zur Verfügung haben, aber um sie aufzunehmen, zu verarbeiten und möglicherweise auf ihrer Grundlage zu handeln, müssen sie gegen die eigene Aufmerksamkeit eingetauscht werden. Das Projekt Gutenberg hat mehr als 53 000 Bücher online frei zugänglich gemacht. Bei Lektüre von einem Buch pro Tag würde es 145 Jahre dauern, diese Bibliothek durchzulesen. Die heutige Herausforderung besteht nicht darin, etwas zu lesen zu finden, sondern die Zeit, etwas von all dem zu lesen, das man zur Verfügung hat. Es soll ja möglichst noch Aufmerksamkeit für Familie, Freunde und das Leben sonst übrig bleiben.

Wenn die Menge zugänglicher Information überwältigend ist, folgt daraus ein Defizit an Aufmerksamkeit. Schon 1971 hat der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, Herbert Simon, prophetisch über das Informationszeitalter geäußert:

… in einer an Information reichen Welt bedeutet der Reichtum an Information Knappheit an etwas anderem: Eine Knappheit an dem, was immer das sein kann, das Information verbraucht. Was Information verbraucht, liegt auf der Hand: Sie verbraucht die Aufmerksamkeit des Empfängers.9

Dass wir Aufmerksamkeit (ver)brauchen, um informiert zu werden, macht sie zu einer kostbaren Ressource für uns. Die Information, auf die man aufmerksam geworden ist, wird aufgenommen und zur eigenen Erfahrungs- sowie Wissensgrundlage. Bei der Aufmerksamkeit handelt es sich um eine sehr spezielle Ressource. Im Gegensatz zu ökonomischen Mitteln und politischer Macht ist sie eher gleichmäßig verteilt. Auch wenn manche ihre Aufmerksamkeit längere Zeit und konzentrierter aufrechterhalten können als andere, gibt es, verglichen mit anderen Ressourcen, nur marginale Unterschiede bei der dem Einzelnen zur Verfügung stehenden Menge an Aufmerksamkeit. Sie kann nicht akkumuliert oder angespart werden wie Geld. Im wachen Zustand (ver)brauchen wir konstant unsere Aufmerksamkeit: Wir sind die ganze Zeit aufmerksam auf etwas. Aber ein gemeinsames Merkmal von Geld und Aufmerksamkeit besteht darin, dass wir die Ressource für etwas auf Kosten von etwas anderem verbrauchen, für das sie andernfalls genutzt werden könnte.

1.3 Knappheit an Aufmerksamkeit

Der Philosoph und Psychologe William James (1842–1910) hat die Aufmerksamkeit 1890 in einem berühmten Zitat beschrieben:

[Aufmerksamkeit] ist das Bewusstsein, das in klarer und lebendiger Form einen aus mehreren simultan möglichen Gegenständen oder Gedankenströmen in Besitz nimmt. … Es erfordert die Abwendung von bestimmten Dingen, um sich effektiv zu anderen zu verhalten.10

Um Information effektiv aufzunehmen, zu verarbeiten und darauf zu reagieren, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf jeweils einen Gegenstand ausrichten. Neuere Kognitionsforschung hat das bestätigt: Auch wenn wir mitunter multitasken und auf mehrere Dinge gleichzeitig aufmerksam sein können, etwa telefonieren und zugleich Essen zubereiten, werden wir in der Regel langsamer und begehen mehr Fehler. Die Qualität sinkt, wenn wir die Aufmerksamkeit aufteilen, statt sie ganz auf eine Sache oder Aktivität zu konzentrieren (Sternberg & Sternberg 2012).

Abb. 3  Multitasking senkt die Qualität der eigenen Aufmerksamkeit durch Verminderung der Reaktionsfähigkeit und auch der Menge an aufgenommener Information.

Wenn wir nur auf jeweils eine Sache aufmerksam sein können, wird Zeit ein entscheidender Faktor. Aber die Zeit ist selbst fixiert und begrenzt. Wie auch immer wir uns mit To-do-Listen zu organisieren und unseren Zeitverbrauch zu optimieren versuchen, der Tag hat doch immer nur vierundzwanzig Stunden und das Individuum eine begrenzte Aufnahmekapazität (Kahneman 1973). Das setzt eine Obergrenze dafür, wie aufmerksam man sein kann, und damit auch, wie viel Information täglich aufgenommen und verarbeitet werden kann. Das macht die Auswahl von Information und die Allokation von Aufmerksamkeit ausschlaggebend dafür, wie man informiert ist.

Eine weit verbreitete Auffassung von »Ökonomie« definiert das Fach als Studium der Allokation knapper Ressourcen durch Individuen und Gesellschaft (Samuelson & Nordhaus 2010). Wenn Aufmerksamkeit als knappe Ressource gilt, ergibt sich daraus die Grundlage dafür, das Zeitalter der Information als eine Aufmerksamkeitsökonomie genauer zu untersuchen.

1.4 Informationsquellen

Wenn wir über etwas informiert werden sollen, das jenseits unserer unmittelbaren Umgebung in Seh- und Hörweite liegt, benötigen wir Medien als Informationsträger und -vermittler. Daraus ergibt sich für Nachrichtenmedien und die sonstige Presse eine ausgesprochen zentrale Rolle. Wir nehmen unsere Information in hohem Maß durch Informationskanäle entgegen, die die Presse erzeugt. Deshalb sind die Wahl der Medien und deren Verlässlichkeit als Informationsquellen ausschlaggebend dafür, wie gut informiert – oder fehlinformiert – die Einzelnen sind. Wenn man die eigene Aufmerksamkeit nicht für Nachrichten über Politik verbraucht, sondern sie stattdessen auf Unterhaltung allokiert, wird man – wie nicht anders zu erwarten – weniger informiert über Politik sein als andersherum.

Abb. 4  Einseitige Nachrichtendiät kann ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit liefern.

Verbraucht man die eigene Aufmerksamkeit mit unzuverlässigen Quellen und unglaubwürdiger Information, erhöht sich das Risiko, fehlinformiert und in die Irre geführt zu werden. Wird die eigene Aufmerksamkeit systematisch mit konspirativen YouTube-Videos und politischen Propagandaseiten verkonsumiert, die damit die eigene Informationsbasis ausmachen, spiegelt sich das fast unausweichlich in der Auffassung von der Wirklichkeit wider. Ausreichend starker Verbrauch »alternativer Fakten«, falscher Behauptungen und loser Gerüchte kann zu einer alternativen Wirklichkeit hinlenken, sodass die Verbindung zum Faktischen verlorengeht.

Wenn die eigene Aufmerksamkeit von Information besetzt ist und damit zur Quelle von Wissen über die Welt wird, und da Aufmerksamkeit zugleich begrenzt ist, sollte sie mit Umsicht verbraucht werden. Das ist beileibe nicht leicht. Viele Akteure kämpfen mit allen erdenklichen Tricks darum, unsere Aufmerksamkeit einzufangen und abzuernten. Sie hat nicht nur hohen Wert für uns selbst, sondern auch für andere, und ist deshalb extrem gefragt.

1.5 Nachfrage nach Aufmerksamkeit

Den wenigsten gefällt es, übersehen und überhört zu werden oder sich ignoriert zu fühlen. Als Individuen benötigen wir ein Minimum an Aufmerksamkeit von anderen Menschen für unser Gedeihen als Kinder und als Erwachsene. Schaut man sich die heutige Promi- und Realitykultur an, scheint es fast so, als könnten viele nie genug Aufmerksamkeit bekommen. Die Jagd danach, als TV-Realitystar bekannt zu werden oder als Mikro-Celebrity in den sozialen Medien (Marwick 2015), wirkt wie...

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