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Das (un)soziale Gehirn (Wissen & Leben)

Wie wir imitieren, kommunizieren und korrumpieren

AutorManfred Spitzer
VerlagSchattauer
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783608168259
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Ein Titel aus der Reihe Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram Soziale Neurowissenschaft für Einsteiger In ihren Anfängen untersuchte die Neurowissenschaft Töne und Lichtflecken, mittlerweile ist sie den Kinderschuhen entwachsen und widmet sich komplexen Phänomenen. Vor allem das menschliche Miteinander rückt immer mehr in den Fokus des Interesses. Manfred Spitzer gibt in diesem Buch verblüffende Einblicke in die noch junge Disziplin der sozialen Neurowissenschaft. Was läuft in unserem Gehirn ab, wenn wir mit anderen kommunizieren? Was macht die Gemeinschaft mit unseren Erinnerungen? Warum finden Babys es toll, wenn man sie imitiert? Kann man das Improvisieren üben? Außerdem macht er sich Gedanken darüber, warum Bildung System braucht, aber keine Computer, wie man aus der Geschichte lernen kann (und wieso das gar nicht jeder will) und inwiefern uns Macht für Korruption anfällig macht. Benutzen Sie Ihr Gehirn nicht nur, verstehen Sie es auch!

Manfred Spitzer Prof. Dr. Dr., studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, war Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, Gastprofessor an der Harvard-Universität und am Institute for Cognitive and Decision Sciences in Oregon. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft, der Lernforschung und Psychiatrie. Seit 1997 ist er Ordinarius für Psychiatrie in Ulm. Spitzer ist Herausgeber des psychiatrischen Anteils der Zeitschrift 'Nervenheilkunde' und leitet das von ihm gegründete 'Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen' in Ulm. Er hat mehrere neurowissenschaftliche Bestseller verfasst und moderiert eine wöchentliche Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn.

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Leseprobe

2 Der Kiosk: historisch, systematisch – und neurobiologisch?


Ein Kiosk ist zunächst einmal ein kleiner Laden, ein Verkaufshäuschen, das man auf öffentlichen Straßen und Plätzen findet und das unserer Aufmerksamkeit in aller Regel entgeht. Nur wer ohne Zigaretten vor der verschlossenen Bude steht, bemerkt seine Abhängigkeit von diesen kleinen Mini-Versorgungsstationen, die sich vor allem in Städten bzw. Ballungsgebieten finden, d. h. überall dort, wo viele Menschen in Bewegung sind. Aufgrund der oft eher leichten und provisorisch wirkenden Bauweise hat man den Kiosk auch als Straßenmöbel bezeichnet (4), was zudem andeutet, dass seine Größe eher dem menschlichen Maß entspricht. In Ulm gibt es nur wenige Kioske (Abb. 2-1), in Berlin sollen es dagegen über tausend sein.

Abb. 2-1 Einer der wenigen Kioske in Ulm (Foto: privat).

In historischer Hinsicht ist es gar nicht so einfach, den Wurzeln des Kiosks bis in die letzten Verästelungen nachzugehen. Denn je nachdem, ob man dem Namen (Kiosk), der Funktion (Verkaufshäuschen) oder der Architektur (kleines einfaches einstöckiges Gebäude im öffentlichen Raum) nachgeht, ändern sich die Richtungen des Erkenntnisinteresses und der Kontext von Raum und Zeit. Kleine Gebäude mit Säulen und Baldachin gab es im alten Ägypten. Sie dienten dem Sonnenschutz und sind bis heute auf Abbildungen mancher Pharaonen als Umfeld zu sehen (Abb. 2-2), trugen jedoch die Bezeichnung „Naos“.

Abb. 2-2 Tutenchamun „im Kiosk“ (um 1330 v. Chr.), wie man heute sagen würde und im Britischen Museum in London auch tatsächlich sagt (5).

Pavillons aus Holz und manchmal auch aus Stein waren Teil der islamischen Kultur, dienten in Gärten als Sonnenschutz und auf öffentlichen Plätzen als „Wasserhäuschen“. Um 1730 gab es in Istanbul 120 Kioske. Die Wurzeln der Architektur gehen nach Persien und bis in das 10. Jahrhundert zurück und man vermutet „eine Orientierung an chinesischen Vorbildern“, wie Naumann in ihrer schönen Übersicht schreibt (5). Eine weitere architektonische Wurzel des Kiosks bildet die Jurte, das Zelt der Nomaden, das im Zuge der mongolischen Eroberungen im 11. bis 13. Jahrhundert nach Osteuropa kam.

In dem von Johann Heinrich Zedler in den Jahren 1731 bis 1754 verlegten Universallexikon, das mit seinen 64 Bänden, 63 000 zweispaltigen Seiten und 284 000 Artikeln das umfangreichste enzyklopädische Werk im Europa des 18. Jahrhunderts war, findet sich der in Abbildung 2-3 wiedergegebene Eintrag: „Kiosc ist ein Gebäu bey den Türcken bräuchlich, bestehet in etlichen nicht gar hohen Säulen, die also gesetzet, daß sie einen gevierten Raum umgeben, der mit einem Zelt-Dache bedeckt, und da unten umher ein Gang ist. Dergleichen Lust-Gebäude oder offenen Säulen bedienen sich die Türcken in ihren Gärten und auf den Höhen, der frischen Luft und luftigen Aussicht zu genüßen“ (15, Bd. 15, S. 361f).

Das Wort Kiosk schließlich geht auf das persische Wort „koschk“ (Ecke, Winkel) zurück, aus dem später das türkische Wort „kjösk“ wurde. Um 1700 wurde das Wort ins Französische eingeführt (kiosque), was der Korrelation von Schreibweise und Aussprache eher schadete, bis es dann – mit wieder deutlich besserer Korrelation – einige Jahrzehnte später auch in Deutschland auftauchte: „Kiosk“.

Damit war in Deutschland von 1750 bis vor 1900 vor allem ein einfacher, hölzerner Gartenpavillon zur Aussicht und zum Schutz vor der Sonne gemeint. Erst mit der industriellen Revolution im vorletzten Jahrhundert und den damit einhergehenden Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt, der Verstädterung und der Trennung von Wohnen und Arbeiten gelangte der Kiosk zu seiner heutigen Form und Funktion: Eine unscheinbare und zugleich wichtige Verkaufsbude. Im Ruhrgebiet und im Rheinland nannte man diese Buden auch Trinkhallen, galt es doch unter anderem den Durst der Bergleute zu löschen. „Wasserhäuschen“ gab es auch im Rhein-Main-Gebiet, wohingegen pilzförmige Milchhäuschen eine auf Bayern beschränkte Spezialität blieben (Abb. 2-4).

Abb. 2-3 Was man in Europa vor etwa 250 Jahren zum Thema „Kiosc“ zu sagen wusste (Facsimile aus Zedlers Universallexikon; heute sehr leicht digital über die Bayrische Staatsbibliothek abzurufen).

Zeitungen gab es am Kiosk erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen demokratischer Staaten und der für ihr Funktionieren wesentlichen Pressefreiheit wurde die Grundversorgung der Bevölkerung mit einem möglichst breiten Informationsangebot zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Aufgabe. Die Erledigung dieser Aufgabe ist alles andere als trivial (2): Wie kann sichergestellt werden, dass nicht nur Massenblätter großer Verlage in den Zeitschriftenregalen und -ständern feil gehalten werden, sondern jede Meinung auch in jeden Winkel des Landes gelangt? Nachdem gerade die deutsche Geschichte zeigt, wie wichtig die Pressefreiheit für das gesunde Funktionieren eines Gemeinwesens ist, wird es Zeit, den Kiosk systematisch zu betrachten.

Abb. 2-4 Mittlerweile unter Denkmalschutz stehender Milchpilz in Regensburg, errichtet im Jahr 1954 von der Firma Waldner, die insgesamt 50 solcher kleiner Verkaufsstellen für Molkereiprodukte baute.

Die im Vergleich zu Kathedralen und Kaufhäusern einfache Bauweise eines Kiosks darf über dessen systematische Bedeutung, die sich schon an seiner verglichen mit den genannten Großbauten zahlenmäßigen Überlegenheit zeigt, nicht hinwegtäuschen. Im Kaufhaus kauft man Kleidung oder Schuhe oder Lampen, und in der Kirche wird gefeiert, getrauert oder gebetet. Die Kiosk dagegen ist pure Vielfalt, denn dort gibt es erstens Zeitungen und Zeitschriften, zweitens auch solche, die man außen nicht sieht und die nur an Erwachsene verkauft werden dürfen, drittens Zigaretten, viertens Alkoholika, fünftens Süßigkeiten und sechstens die Annahme des Lottoscheins. Dieser damit hoch diversifizierte kleine Gemischtwarenladen wird manchmal noch ergänzt durch Blumen oder heiße Würstchen, Schreibwaren oder Andenken und im Ausland vielleicht noch durch andere weiche Drogen.

Kommen wir zurück zur Frage, wie man angesichts nach Gewinn strebender mächtiger Verlage und ganzer Medienkonzerne die Pressefreiheit und damit die Vielfalt von in Deutschland derzeit etwa 330 Zeitungen und 4 000 Zeitschriften schützen kann. Verglichen mit anderen Gegenden dieser Welt befinden wir uns diesbezüglich übrigens noch immer auf der Insel der Seligen. In den USA gibt es Orte ganz ohne Zeitung und auch in anderen Ländern ist die deutsche Vielfalt unerreicht und wird dort beneidet: Gut 130 unabhängige Redaktionen arbeiten an den 330 Zeitungen, von denen es etwa 1 500 verschiedene (Lokal-)Ausgaben gibt. Die genaue Zahl weiß übrigens niemand. Gut bekannt ist hingegen die Tatsache, dass das Zeitunglesen in den Großstädten deutlich rückläufig ist, die Zeitung sich auf dem Lande hingegen diesem negativen Trend mit erstaunlicher Hartnäckigkeit entgegenstellt: So hatte das kaum bekannte Blatt Grenzwarte aus Oberviechtach im Jahr 2004 eine Auflage von 9 900 Stück und acht Jahre später im Sommer 2012 eine Auflage von – ebenfalls 9 900 (1).

Dafür, dass dieses Blatt bei Bedarf jedoch auch in Buxtehude am Kiosk erhältlich sein könnte (wenn dies der Verlag wünschte1), sorgen in Deutschland 76 Zeitungs- und Zeitschriftengroßhändler. Die Verlage haben unser Land in 92 Vertriebsgebiete aufgeteilt, in denen die Grossisten den Vertrieb jeweils unabhängig organisieren und bewerkstelligen. Jeder hat in seinem Gebiet bzw. seinen Gebieten das Alleinauslieferungsrecht. Damit hat er aber auch die Pflicht, alles, was der Einzelhändler (und damit der Kunde) wünscht, zu liefern. In zwei Vertriebsregionen gibt es zwei Grossisten, aber auch die machen sich keine Konkurrenz, weil jeder nur für einen Teil der Verlage und Titel das Alleinauslieferungsrecht hat. Man könnte nun meinen, dass ein solches Monopol schlecht sei für den Verbraucher. Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall, wie Erfahrungen aus dem Ausland zeigen (3).

Der Grossist für Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland fungiert als Bindeglied zwischen den Verlagen und den knapp 120 000 Einzelhändlern, zu denen neben Tankstellen, Supermärkten und Kaufhäusern eben ganz wesentlich auch die (Zeitungs- und Zeitschriften-)Kioske gehören. Sein Job ist – mit einem Wort – stressig: Druckfrisch werden die Zeitungen nachts palettenweise geliefert. Der Grossist nimmt sie in Empfang, sortiert sie für die von ihm versorgten Einzelhändler und fährt dann los, um bis ca. 5.30 Uhr am Morgen alles geliefert zu haben. Wenn dann das abendliche Fußball-Länderspiel in die Verlängerung oder gar ins Elfmeterschießen geht, der Andruck der Bildzeitung sich entsprechend verzögert und diese...

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