Vorwort
Obwohl der Roman Tropen (1915)[1] „zu den erzählerischen Hauptwerken des expressionistischen Jahrzehnts gehört und von Musil gerühmt wurde“[2], ist bis heute nur wenig über ihn geschrieben worden. Ingrid Kreuzer spricht in ihrer Interpretation „Robert Müllers ‚Tropen’. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie“ vom „verschollenen Roman [...], der 1915 erschienen und vom 1. Weltkrieg überrollt worden war und den wohl nur wenige Zeitgenossen zur Kenntnis genommen hatten.“[3] Dabei verdient er, wie sich zeigen wird, unter verschiedenen Aspekten besondere Beachtung.
Der Autor des Werks, der Wiener Expressionist und Aktivist Robert Müller, der am 29. Oktober 1887 in Wien geboren wurde und nach einem gleichermaßen kurzen wie ereignisreichen Leben 1924 an den Folgen eines selbstzugefügten Lungenschusses verstarb[4], galt als „eine interessante Figur des literarischen Lebens in Wien zwischen 1912 und 1924, die sowohl als Essayist und Autor exotischer, utopistischer und zeitbezogener Romane als auch als Literaturmanager weitreichende Beachtung fand (u.a. bei Musil, Th. Mann, K. Kraus, Döblin, Flake).“[5]
Robert Müller, der von 1898 bis 1906 das Piaristengymnasium im 8. Bezirk besucht hatte, in der Abschlussklasse gescheitert war, die Maturitätsprüfung im folgenden Jahr am Gymnasium in der Gäblergasse abgelegt hatte, und der nach vier Semestern sein Studium der Fächer Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik (Wintersemester 1907/1908 bis Sommersemester 1909) an der Wiener Universität abgebrochen hatte, um erst einmal für zwei Jahre aus Wien (und von der Bildfläche) zu verschwinden[6], wird nach seiner Rückkehr Ende 1911 autodidaktischer Literaturtheoretiker und –kritiker, expressionistischer Autor, „Philosoph“[7], Verlagsgründer und politisch engagierter „Aktivist“.[8]
Sein Freitod im Jahr 1924 wird zum einen seinem finanziellen Ruin nach Scheitern seines letzten Verlagsprojektes, des „Atlantischen Verlages“, zugeschrieben.[9] Zum anderen mochte es die Erkenntnis sein, dass seine utopischen ideellen Bestrebungen ebenfalls zum Scheitern verurteilt waren, die ihn dazu trieb, aus dem Leben zu scheiden. Vielleicht wird diese Arbeit ein wenig Licht auf diese Fragen werfen, seinen Suizid vor dem Hintergrund seines Hauptwerks ‚Tropen’ als mehr ‚philosophisch’ motivierte Entscheidung erkennen lassen.
Ein anderes großes Geheimnis um Müller sind die beiden Jahre von 1909 bis 1911, die bis heute im Dunkeln liegen. Müllers eigenen Angaben zufolge, habe er während dieser Zeit in Amerika gelebt, als Reporter in New York gearbeitet, dann als Matrose auf einem Frachter, als Steward auf einem Passagierschiff Nord-, Mittel- und das nördliche Südamerika bereist und sich zwischendurch als Cowboy auf einer mexikanischen Ranch betätigt.[10] Dieser Bericht ist genauso wenig bestätigt wie Hinweise aus anderen Quellen, die besagen, er habe diese Zeit in einer Nervenheilanstalt verbracht. Wollte Müller, „der Zeitgenossen gerne das Bild eines ‚Hans Dampf in allen Gassen’ vermittelte, durch eine entsprechende Darstellung dieses Lebensabschnitts sich selbst zum Mythos stilisieren [...]?“[11] Auch diese Frage möchte ich im Rahmen der Analyse von ‚Tropen’ an späterer Stelle wieder aufgreifen.
Um ein adäquates Bild Müllers zu zeichnen, wären die Bereiche Expressionismus und Aktivismus sowie der Weg des Idealisten Müllers zwischen diesen beiden und vor dem Hintergrund jener von Krieg und Krisen zerrütteten Zeit genauer zu beleuchten, was im Rahmen dieses Vorworts jedoch nur in Umrissen geschehen kann. Expressionismus und Aktivismus werden in der Forschung zum Teil als „feindliche Brüder“[12] bezeichnet. Müller aber schreibt in seinem Essay „Die Geistrasse“ (1918), der „Aktivismus“ habe sich „für den Expressionismus geopfert.“[13]
Als sogenannter „Aktivist“ war Müller „Vertreter einer meist informellen Gruppe politisierender und politisch engagierter Intellektueller, die die Übernahme gesellschaftlicher und politischer Macht durch eine Elite propagierten und auch zu betreiben versuchten.“[14]
Neben zahlreichen anderen Unternehmungen gründete Müller 1918 die Geheimgesellschaft Katakombe, der auch Robert Musil zeitweilig angehörte.[15]
Wie bei Helmes nachzulesen ist, war Müller „im Urteil Kurt Hillers, des Herausgebers der Ziel-Jahrbücher und führenden Kopfes des reichsdeutschen Aktivismus, [...] der bedeutendste Vertreter des Aktivismus in Österreich und sein ,ungemein geschätzter österreichischer Zwilling’.“[16] Helmes weist im folgenden daraufhin, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen beiden gegeben habe, indem Hiller seine Elite als eine „Aristokratie des Geistes“ konzipierte, während Müller „rassistisch-biologisch argumentiert und definiert“[17]. In Kapitel IV dieser Arbeit, Die Reise zum neuen Menschen, wird sich allerdings zeigen, dass erstens diese Aussage relativiert werden muss, und zweitens die Rassenideologie Müllers nicht durchweg negativ beziehungsweise diskriminierend zu verstehen ist, wenngleich Müllers präfaschistisches Umfeld diese Auslegung nahe legt: Günter Helmes weist in Anlehnung an Jost Hermands „Germania germanicissima. Zum präfaschistischen Arierkult um 1900“ auf die fanatische Ausprägung der „ ‚gralshaft-imperialistische(n) Germanen-Mythologie’ im Wien vor 1914“ hin.[18]
Müller gehört, so Helmes weiter, „in eine ideologische Konstellation, die u.a. über eine Amalgierung der Denkansätze eines Nietzsche, eines Darwin, eines Gobineau, de Lagarde und eines H. St. Chamberlain zu einer rassistisch-nationalistischen, kriegerischen und imprialistischen Weltanschauung gelangt.“[19] Tatsächlich war Müller zunächst vom Krieg überzeugt, rief in der Zeitschrift Der Ruf sogar zum Krieg auf, bezeichnete diesen als die „Königsorganisation aller Organisationen“[20]. Er meldete sich auch freiwillig zum Einsatz an der Front, wurde am 5. September 1914 auf eigene Bitte hin gemustert aber wegen einiger deformierter Finger vorerst dem Ersatzbataillon zugeteilt. Aufgrund seines eigenen Bemühens kommt er kurz darauf doch in den aktiven Dienst, kommt 1915 als Pressegehilfe an den Kriegsschauplatz und nimmt im Juni an den Kämpfen teil.[21]
Im Herbst 1915 erleidet er aufgrund einer in unmittelbarer Nähe explodierenden Granate einen Nervenschock und wird in die Nervenabteilung des K.u.K.-Kriegsspitals III in Wien eingeliefert, wird danach zum Kriegspressequartier versetzt und übernimmt bis 1917 die Belgrader Nachrichten.[22]
Die Vorzeichen des 1. Weltkriegs
„schlagen sich in der expressionistischen Literatur ebenso nieder, wie sein Ausbruch und Verlauf zur Verschärfung der expressionistischen Zivilisationskritik beitrug. Er forderte auch unter den Künstlern seine Opfer. [...] unter den Toten befanden sich einige der stärksten dichterischen Begabungen des Expressionismus“[23],
unter anderem Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz, Ernst Stadler und Georg Trakl, August Stramm, Reinhard Johannes Sorge und Gustav Sack.[24]
Durch seine persönlichen Erfahrungen im Krieg beeinflusst, und auch „durch den Ausgang des Krieges selbst (Oktoberrevolution, Zerfall der K.u.K.-Monarchie und Niederlage Reichsdeutschlands, die s.g. Novemberrevolution etc.)“[25] wird Müller schließlich, wie zahlreiche andere den Krieg zunächst befürwortende Expressionisten, zum Pazifisten – „die erste Kriegsbegeisterung [...] schlug alsbald [...] angesichts der grauenvollen Fronterlebnisse und der frühzeitig erkennbaren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung [...] bei den meisten in ihr Gegenteil um“[26] –, nimmt „nach 1916 verstärkt Vorstellungen linker politischer Bewegungen und Gruppierungen in sein Denken auf [...] (und) ist damit einer jener für die Sozialgeschichte der expressionistischen Intelligenz und der 20er Jahre nicht unbedeutenden ,linken Leute von Rechts’ oder auch ,rechten Leute von Links’.[27]
Es fällt schwer, den so komplex und individuell denkenden Müller in eine bestimmte Gruppe einzuordnen, Helmut Kreuzer spricht von einer „paradoxen politischen Kombinatorik“, die „ebenso an Attitüden der literarischen Boheme wie manche Züge seines Lebensstils oder wie das immer wieder durchbrechende Bekenntnis zu einem utopisch-anarchischen Individualismus, der das Außenseitertum der bürgerlichen Gesellschaft zur sozialen Norm einer freien Welt erhebt“[28], erinnert. In „Die Politiker des Geistes“(1917) schreibt Müller:
„Ich vertrete alle Outcasts; die Antipolitischen; die Verwegenen und Vogelfreien; [...] alle Wahnsinnigen und Verstoßenen, [...] die noch außerhalb der Bestimmungsrechte stehen. Wir wollen die Gesellschaft bis zur vollständigen Desorganisation organisieren,...