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E-Book

Das wilde Netzwerk

Ein ethnologischer Blick auf Facebook

AutorDaniel Miller
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl221 Seiten
ISBN9783518763506
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR


<p>Daniel Miller (geboren 1954) hat in den letzten Jahren eine Reihe vielbeachteter Studien zum globalen Konsumverhalten vorgelegt. Er lehrt Ethnologie am University College in London.</p>

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Leseprobe

Vorwort

Im sechsten Jahr seines Bestehens hat Facebook Google als weltweit meistbesuchte Seite im Internet abgelöst. Unternehmensangaben zufolge sind derzeit über 500 Millionen User aktiv, die Hälfte von ihnaen loggt sich täglich ein.1 Jeden Monat werden drei Milliarden Photos hochgeladen, pro Tag etwa sechzig Millionen Statusmeldungen gepostet. Ein Facebook-User hat im Durchschnitt 130 Freunde und verbringt täglich knapp unter einer Stunde auf der Seite. Doch diese Zahlen werden uns in diesem Buch nicht beschäftigen. So beeindruckend die Statistiken auch sein mögen, mir geht es um das, was am anderen Ende des Spektrums passiert – bei denen, die Facebook nutzen, ihren Freunden und Familien. Das vorliegende Buch ist eine ethnologische Studie über die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf den Alltag gewöhnlicher Menschen. Inwiefern hat sich ihr Leben durch Facebook verändert? Wie wirkt sich die Seite auf die Beziehungen aus, die ihnen am wichtigsten sind? Ist Facebook so etwas wie eine Gemeinschaft? Verändert es das Selbstverständnis der Nutzer? Warum machen diese sich kaum Gedanken über den Verlust ihrer Privatsphäre?

Viele Kritiker gehen irrigerweise davon aus, daß die Ursprünge von Facebook auch seine Zukunft bestimmen werden. Bekanntlich richtete sich die Seite zunächst ausschließlich an Studenten. Doch das spielt für die Dinge, um die es in diesem Buch geht, kaum mehr eine Rolle. Im Jahr 2010 (als ich die empirischen Studien für diesen Band abschloß) zeichnete sich erstmals ab, daß Facebook für ältere oder ans Haus gebundene Menschen, die keine anderen Möglichkeiten der Gesellung haben, unter Umständen bedeutsamer sein kann als für Studenten. Deshalb wird der Schwerpunkt unserer Betrachtung nicht auf dem liegen, was Facebook einst war, sondern auf der Frage, wozu es sich möglicherweise entwickeln wird. Da Facebook in den USA gegründet wurde, stammen auch die meisten Untersuchungen über seine Wirkung von dort. Inzwischen ist das Netzwerk jedoch längst ein globales Phänomen, über siebzig Prozent der User leben außerhalb der Vereinigten Staaten. Jede Untersuchung muß diese zunehmende Diversität berücksichtigen.

Einen ethnologischen Blick auf Facebook zu werfen drängt sich in gewisser Weise auf. Schließlich begreift die Ethnologie, im Gegensatz zu anderen Disziplinen, den Menschen nicht als isoliertes Einzelwesen, sondern als Knotenpunkt seiner Interaktionen mit anderen. Schon lange vor der Erfindung des Internet haben Ethnologen das Individuum als »soziales Netzwerk« betrachtet. Daher muß ein neuartiges Ding, das diese Bezeichnung trägt, für sie von besonderem Interesse sein. Am 21. April 2010 kündigte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg auf der jährlichen Entwicklerkonferenz f8 (lies: fate, Schicksal) zukünftige Veränderungen der Seite mit den Worten an: »Wir wollen ein Netzwerk, das von Grund auf sozial ist.«2 Angesichts der Tatsache, daß sich das Gemeinschaftsleben und die sozialen Beziehungen nach allgemeiner Auffassung seit über hundert Jahren im Niedergang befinden, ist diese Umkehrung eines langlebigen Trends erstaunlich – und um so relevanter für die Voraussetzungen und Möglichkeiten ethnologischer Forschung.

Die Ethnologie betrachtet globale Phänomene gerne aus lokaler Perspektive, und Facebook hat im Zuge seiner Ausbreitung eine enorme Diversifizierung durchgemacht. Aus ethnologischer Sicht gibt es daher nicht nur ein Facebook, sondern viele – entsprechend dem Gebrauch, den Menschen in unterschiedlichen Regionen von der Seite machen. Dieses Buch ist auf Trinidad angesiedelt, weil ich zeigen wollte, daß Facebook nicht nur das ist, was man sich in den USA oder in Großbritannien oder Deutschland darunter vorstellt. Der Schauplatz ist geeignet, uns die zunehmende Heterogenität des Netzwerks vor Augen zu führen. Die Verschiebung aus der gewohnten Umgebung soll es dem Leser außerdem erleichtern, über die Auswirkungen sozialer Netzwerke auf sein eigenes Leben nachzudenken. So mag der Schauplatz zwar Trinidad sein, doch liegt der Fokus auf konkreten Menschen, deren Sorgen und Nöte uns durchaus vertraut sind. Wir erfahren etwa, welche Folgen Facebook für eine Ehe haben kann, womit junge Leute ihre Nächte verbringen und wie man beurteilt, ob die Selbstdarstellung eines Facebook-Mitglieds wahrhaftig oder pure Fassade ist.

Trinidad ist eine karibische Insel unmittelbar vor der Küste Venezuelas. Zusammen mit der kleineren Insel Tobago bildet sie den Staat Trinidad und Tobago. Anstatt den vor Ort üblicheren Ausdruck »Trinbagonier« zu benutzen, spreche ich hier nur von »Trinis«, da sich meine Untersuchung auf Trinidad beschränkte. Die Insel ist knapp 5000 Quadratkilometer groß, was bedeutet, daß man sie im Auto an einem Tag umrunden kann. Die Ureinwohner wurden von spanischen Kolonialisten weitgehend ausgerottet. Das Land stand erst unter französischer, dann unter britischer Herrschaft, bis es 1962 die Unabhängigkeit erlangte. In Trinidad und Tobago leben derzeit rund 1,3 Millionen Menschen, rund vierzig Prozent stammen von afrikanischen Sklaven ab, weitere vierzig Prozent von zwangsverpflichteten Kontraktarbeitern aus dem südasiatischen Raum; die Vorfahren der übrigen kamen aus einer Vielzahl von Ländern und Regionen, unter anderem aus China, Madeira und dem Libanon.

Ich führe seit mehr als zwanzig Jahren Feldstudien auf Trinidad durch und habe bereits drei Bücher über die Insel geschrieben. Für das vorliegende Buch habe ich die Facebook-Aktivitäten der Trinis ein Jahr lang im Internet und zusätzlich zwei Monate lang, von Dezember 2009 bis Januar 2010, vor Ort erforscht. Die Beschäftigung mit Facebook ergab sich aus einer umfangreicheren Studie, in der ich zusammen mit Mirca Madianou von der Universität Cambridge die Auswirkungen der neuen Medien auf die Kommunikation über große Entfernungen hinweg untersuche. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches hatten 26 Prozent der Trinidader einen Facebook-Account, 54 Prozent der User waren Frauen.3 Was den Anteil der Facebook-Nutzer unter den Menschen mit Internetzugang betrifft, lag Trinidad 2008 weltweit auf Rang zwei hinter Panama.4 So zeigte sich vor Ort denn auch, daß außer in sehr armen Regionen praktisch jeder im High-School- und College-Alter bei Facebook ist.

Der erste Teil dieses Buchs besteht aus sieben Porträts. Sie beruhen auf Interviews und Beobachtungen, doch habe ich in den meisten Fällen Details geändert und Material von anderen Teilnehmern ergänzt, um die Anonymität der Beteiligten zu wahren. Stilistisch orientieren sich die Porträts eher an Kurzgeschichten oder Reiseberichten als an wissenschaftlicher Essayistik, was die Lesbarkeit erhöhen soll. Das mag jenen etwas Geduld abfordern, die das Buch aus akademischem Interesse lesen. Im zweiten Teil werden die aus den Porträts gewonnenen Erkenntnisse dann wissenschaftlich aufgearbeitet. Allerdings hoffe ich, daß auch dieser Teil für das allgemeine Publikum ebenso lesbar wie interessant sein möge. Im ersten der beiden eher theoretischen Essays versuche ich in fünfzehn tastenden Thesen anzudeuten, welche Folgen Facebook für unser Zusammenleben haben könnte.5 Im abschließenden Essay vergleiche ich dann die Ergebnisse unseres Projekts mit denen einer klassischen ethnologischen Studie über die Bewohner einer Insel an der Küste Papua-Neuguineas.

Aufgrund des Wesens sozialer Netzwerke muß man davon ausgehen, daß die in diesem Buch angestellten Überlegungen jederzeit teilweise obsolet werden können, wenn Facebook sich verändert oder etwas anderes an seine Stelle tritt. In jedem Fall bleibt es jedoch eine ethnologische Studie über Menschen als Knotenpunkte sozialer Netze.

Und warum gerade Trinidad?

Manche Leser erwarten womöglich, daß die Facebook-Nutzung auf Trinidad in diesem Buch auf globale beziehungsweise amerikanische Vorbilder zurückgeführt wird. Schließlich ist Trinidad nur eine winzige, randständige Insel, umtost von gewaltigen Stürmen, die von den Großmächten herüberwehen. Folglich kann man das »echte«, das »eigentliche« Facebook natürlich nur in seinem Ursprungsland, den USA, erforschen, während die Nutzung des Netzwerks andernorts wenig authentisch, epigonal, bloße Nachahmung bleiben muß. Solche Auffassungen sind vor allem in den Cultural Studies und der Soziologie verbreitet. In meinen Augen hat die Ethnologie jedoch vor allem die Aufgabe, uns die Dinge aus anderen Blickwinkeln zu zeigen.

Diese Auffassung hat bereits meine früheren Bücher geprägt. So gingen Don Slater und ich bei unserer Studie zur Internetnutzung auf Trinidad davon aus, daß es so etwas wie das Internet nicht gibt, da unterschiedliche Nutzer ganz unterschiedlichen Gebrauch von seinen Möglichkeiten – Surfen, E-Mails, Instant Messaging und so weiter – machen.6 Demnach war für uns das Internet stets das, was die jeweiligen User, im Rahmen einer ethnologischen...

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