Vorwort
In den frühen 1970er-Jahren diente ich zwei Jahre lang als mormonischer Missionar in Südkorea, einem der damals ärmsten Länder Asiens. Dort wurde ich selbst Zeuge, welch verheerende Auswirkungen Armut hat: Ich verlor Freunde an vermeidbare Krankheiten und musste mitansehen, wie Familien tagtäglich eine unmögliche Wahl treffen mussten, ob sie nun Essen auf den Tisch brachten, ihre Kinder erzogen oder die ältere Generation unterstützten.
Leid war Teil des Alltags. Diese Erfahrung prägte mich so sehr, dass ich mich später – als ich das Rhodes-Stipendium für Oxford erhielt – entschied, Entwicklungsökonomie mit Fokus auf Südkorea zu studieren. Ich hoffte, das würde zu einem Job bei der Weltbank führen, wo ich dazu beitragen würde, die während meiner Zeit in Südkorea erkannten Probleme zu lösen. Nur dass in dem Jahr, in dem ich mich bei der Weltbank bewarb, keine weiteren Amerikaner eingestellt wurden – dieser Weg war mir also versperrt. Und so landete ich durch eine Laune des Schicksals in Harvard und studierte stattdessen Betriebswirtschaft. Die eindringlichen Bilder des völlig verarmten Landes sind mir indes in Erinnerung geblieben.
Wenn ich heute Südkorea besuche, hat es erfreulicherweise nichts mit jenem Land gemein, an das ich mich erinnere. In den Jahrzehnten seit meinem Aufenthalt dort hat sich Südkorea nicht nur zu einem der reichsten Länder der Welt entwickelt. Es hat sich darüber hinaus zur angesehenen Gruppe der Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gesellt und ist von einem Entwicklungshilfe-Empfänger zu einem internationalen Geber geworden.1 Der amerikanische Journalist Fareed Zakaria ging sogar so weit, Südkorea als „das erfolgreichste Land der Welt“2 zu bezeichnen. Dem kann ich nur beipflichten. Südkoreas Transformation binnen weniger Jahrzehnte ist ein wahres Wunder.
Ein derart dramatischer Wandel war für zahlreiche andere Nationen, die Südkorea noch vor wenigen Jahrzehnten glichen, leider nicht möglich. Ganz im Gegenteil: Burundi, Haiti, Niger, Guatemala und viele andere Länder, die bereits in den 1970er-Jahren bitterarm waren, sind es noch. Die Fragen, die vor so vielen Jahren mein Interesse an der Unterstützung Südkoreas weckten, nagten jahrzehntelang an mir. Weshalb finden manche Länder einen Weg zu Wohlstand, während andere in tiefer Armut verharren?
Wie sich zeigt, ist Wohlstand ein vergleichsweise junges Phänomen. Die meisten reichen Nationen waren nicht immer wohlhabend. Nehmen wir zum Beispiel die Vereinigten Staaten. Wir vergessen gerne, wie weit es Amerika gebracht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit waren auch die Vereinigten Staaten bettelarm, Korruption grassierte und die Regierungsführung war chaotisch. De facto war Amerika in den 1850er-Jahren ein ärmeres Land als Angola, die Mongolei oder Sri Lanka heute.3 Damals lag die Kindersterblichkeit bei rund 150 Todesfällen pro 1.000 Geburten, das ist dreimal so hoch wie die Kindersterblichkeitsrate in Afrika südlich der Sahara im Jahr 2016.4 Das Amerika von damals hatte keine stabilen Institutionen und Infrastrukturen, es unterschied sich grundlegend von dem Land, das es heute ist. Aber gerade deshalb bietet die Geschichte Amerikas Hoffnung für arme Länder weltweit. Einen Weg raus aus der Armut zu finden ist möglich. Die Frage ist nur wie.5
Jahrzehntelang haben wir untersucht, wie in armen Ländern Armut eingedämmt und Wirtschaftswachstum geschaffen werden kann, und wir konnten echte Fortschritte feststellen. So verringerte sich die Quote extremer Armut weltweit von 35,3 Prozent im Jahr 1990 auf schätzungsweise 9,6 Prozent im Jahr 2015.6 Das bedeutet, mehr als eine Milliarde Menschen sind seit 1990 aus der Armut geführt worden. So eindrucksvoll diese Statistik auch sein mag, sie könnte ein falsches Fortschrittsgefühl vermitteln. Der Großteil dieser von der Armut befreiten Menschen, das heißt etwa 730 Millionen Menschen, kommt allein aus China. Dieses Land hat es geschafft, die extreme Armutsquote von 66,6 Prozent im Jahr 1990 auf heute unter zwei Prozent zu verringern.7 Das ist in der Tat beeindruckend. In anderen Regionen, wie zum Beispiel in Afrika südlich der Sahara, hat sich die Anzahl der in extremer Armut lebenden Menschen jedoch beträchtlich erhöht.8 Und selbst für diejenigen, die formal gesehen nicht in extremer Armut leben, ist das Überleben weiterhin äußerst prekär.
Zwar haben wir tatsächlich Fortschritte erzielt, dennoch scheint kein Konsens darüber zu herrschen, wie Armut zu beseitigen ist. Die Vorschläge reichen von der Entwicklung der katastrophalen gesellschaftlichen Infrastruktur (unter anderem in den Bereichen Bildung, Gesundheitswesen und Transport) über die Verbesserung von Institutionen, die Erhöhung der Entwicklungshilfe bis hin zur Ankurbelung des Außenhandels und vielem mehr.9 Aber selbst diejenigen, die sich nicht auf eine passende Lösung einigen können, würden in einem Punkt übereinstimmen: dass Fortschritte bisher zu langsam erfolgten.
Abbildung 1: Das Pro-Kopf-Einkommen von 1960–1969 wurde gemittelt, um einen Einkommenswert pro Kopf für das Jahr 1960 zu ermitteln. Die Werte sind inflationsbereinigt.
Quelle: Datenbank des World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds
Bedenken wir Folgendes: Seit den 1960er-Jahren haben wir mehr als 4,3 Billionen US-Dollar öffentliche Entwicklungshilfe als Unterstützung für ärmere Länder gewährt.10 Doch leider hatten viele unserer Interventionen nicht die erhoffte Wirkung. Tatsächlich zählen sogar viele Länder, die bereits 1960 als arm galten, auch heute noch als arm. Schlimmer noch, mindestens 20 Länder waren 2015 ärmer als noch im Jahr 1960 (siehe Abbildung 1), in den meisten Fällen selbst nach Hilfeleistungen in Milliardenhöhe.11
Efosa Ojomo, Co-Autor dieses Buchs und einer meiner ehemaligen Studenten in Harvard, kennt den Schmerz des Scheiterns trotz gut gemeinter Bemühungen aus erster Hand. Seine Erfahrung erlaubt Einblicke in die Frustration, die viele einst erfolgversprechende Projekte auslösten, die darauf ausgelegt waren, ärmeren Volkswirtschaften bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Efosa stammt ursprünglich aus Nigeria, hat aber den Großteil seines Erwachsenenlebens in den Vereinigten Staaten gelebt und gearbeitet. Obgleich er die Armut kannte, die diese armen Länder plagte, blieb sie für ihn nur ein Randproblem. Bis er die Widmung in dem Buch Wir retten die Welt zu Tode: Für ein professionelleres Management im Kampf gegen die Armut las – den Angriff von Professor William Easterly von der New York University auf die Bestrebungen des Westens, verarmten Ländern zu helfen. Easterly erzählte die Geschichte Amaretchs, eines zehnjährigen äthiopischen Mädchens, das täglich um drei Uhr morgens aufstand, um Feuerholz zu holen. Anschließend lief sie kilometerweit, um dieses Feuerholz auf dem Markt zu verkaufen, womit sie zum Unterhalt ihrer Familie beitrug.
Nachdem er ihre Geschichte gelesen hatte, konnte Efosa in jener Nacht nicht schlafen. Kein Kind verdiente es, ein derart hartes Leben zu führen. Deshalb gründete er gemeinsam mit einigen Freunden die gemeinnützige Organisation „Poverty Stops Here“, um Geld für den Bau von Brunnen in verschiedenen Regionen in seinem Heimatland Nigeria zu sammeln. „Bei dem Besuch armer Gemeinden sticht einem als Erstes der Wassermangel ins Auge“, erzählte Efosa mir später. „Wasser ist Leben. Deshalb existieren so viele Wasserprojekte auf der ganzen Welt. Wir müssen den Menschen Zugang zu Wasser verschaffen. Das ist der Anfang.“ Schmerzhaft deutlich werden bei dem Besuch eines armen Landes aber auch die mangelhafte Bildungsqualität, unbefestigte Straßen, eine schlechte Regierungsführung und weitere Armutsindikatoren. Liegt daher nicht die Vermutung nahe, die Lösung des Armutsproblems läge darin, all das oder wenigstens eines dieser Probleme zu beheben?
Efosa konnte über 300.000 US-Dollar sammeln und bestimmte fünf Gemeinden, die man beim Bau von Brunnen unterstützen würde. Es war ein Tag ungetrübter Freude, als Efosa und seine Unterstützer diese Gemeinden besuchten, um die Brunnen in Betrieb zu nehmen – nicht nur für Efosa, sondern auch für die Anwohner. Ich kann mir kaum einen bewegenderen Moment vorstellen, als zu sehen, wie sauberes Wasser in ausreichender Menge aus einer Quelle in einem Dorf sprudelt, in dem es vorher keine gab.
Nun stellte sich aber heraus, dass Brunnen kaputtgehen. Etwa ein halbes Jahr nach dem Bau eines neuen Brunnens erhielt Efosa einen Anruf bei sich zu Hause in Wisconsin, dass kein Wasser mehr käme und er aus Tausenden Kilometern Entfernung jemanden in Nigeria finden sollte, der das reparierte. Da sich sämtliche von seiner Organisation gebauten Brunnen in ländlichen Gegenden...