Unser Weg auf der Autobahn des Fortschritts
1992, ein Jahr bevor die Sowjetunion implodierte, schrieb der Economist in einem Leitartikel, es gebe »keine ernsthafte Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft als Organisationsform des Wirtschaftslebens«. Heute liegt der in den ersten Jahren nach der Beendigung des Kalten Kriegs herrschende Konsens – wonach eine globale kapitalistische Ökonomie ethnische und religiöse Unterschiede einebnen und weltweit zu Wohlstand und Frieden führen werde – in Trümmern. Die Zeit des »triumphierenden freien Marktes«, räumt der Economist inzwischen ein, »ist ruckelnd zum Stillstand gekommen«. Doch plausible Alternativen politischer und ökonomischer Organisation sind nicht in Sicht.
Wiederholte Blutbäder in westlichen Metropolen begleiten immer zahlreichere Kriege in Asien und Afrika, und die bürgerlichen Freiheiten werden vom ständigen Kampf gegen wirkliche und eingebildete Feinde aufgezehrt. Angesichts undurchschaubarer Katastrophen erscheinen Gefühle und Ahnungen verlässlicher – etwa die Befürchtung, dass es so nicht weitergehen könne und alte Praktiken und Institutionen den neuen Realitäten nicht gerecht zu werden vermöchten.
Der erste Schritt zu einem Verständnis dieser neuen Realitäten ist es, die konzeptionelle und intellektuelle Architektur der Sieger der Geschichte im Westen aufzulösen: die einfältigen und gefährlich irreführenden, aus einer triumphalen Geschichte angloamerikanischer Errungenschaften stammenden Ideen und Annahmen, die so lange die Reden der Politiker, Berichte von Thinktanks, technokratische Studien und Zeitungsartikel prägten und zugleich zahllosen Kolumnisten, TV-Fachleuten und sogenannten Terrorismusexperten das nötige Futter lieferten.
Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs mokierte sich der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr über die »freundlichen Fanatiker der westlichen Zivilisation, die die doch so sehr bedingten Leistungen unserer Kultur für die endgültige Form und Norm der menschlichen Existenz halten«. Seit mehr als einem halben Jahrhundert eingebunden in die wichtigsten Institutionen des Westens, halten die »freundlichen Fanatiker« an einem fundamentalistischen Glaubensbekenntnis fest, das uns die Sicht auf eine in komplexem Wandel befindliche Welt verstellt. Sie halten fest daran, dass die angloamerikanischen Institutionen des Nationalstaats und der liberalen Demokratie sich schrittweise in der ganzen Welt verbreiten werden, dass die aufstrebenden, vom Industriekapitalismus geschaffenen Mittelschichten rechenschaftspflichtige, repräsentative und stabile Regierungen hervorbringen werden und dass die Religion der Säkularisierung weichen wird und rationale menschliche Wesen die Kräfte des Irrationalismus besiegen werden. Kurz gesagt, sie gehen davon aus, dass alle Gesellschaften dazu bestimmt sind, dieselbe Entwicklung zu nehmen wie eine Handvoll westlicher Gesellschaften in der Vergangenheit.
Diese Religion des universellen Fortschritts hatte viele Päpste und zahlreiche Enzykliken: von dem im Economist vertretenen Traum des 19. Jahrhunderts, in dem Kapital, Güter, Arbeitsplätze und Menschen frei zirkulieren, über Henry Luces Ausrufung eines »amerikanischen Jahrhunderts« des freien Handels bis zur »Modernisierungstheorie«, die eine »große Weltrevolution in den menschlichen Strebungen und der wirtschaftlichen Entwicklung« proklamierte.
Francis Fukuyama sah sich kurz nach den Anschlägen vom 11. September noch bestärkt in seiner Überzeugung, wonach »die Moderne ein sehr starker Güterzug ist, der sich durch die jüngsten Ereignisse nicht aus den Gleisen werfen lassen wird, so schmerzlich und beispiellos sie auch waren. Die Demokratie und die freien Märkte werden auch weiterhin als die dominierenden Organisationsprinzipien für weite Teile der Welt expandieren.« Noch 2008 konnte Fareed Zakaria in seinem vielzitierten Buch Der Aufstieg der Anderen erklären, dass »sich der Aufstieg der Anderen amerikanischen Ideen und Initiativen verdankt«. Die Welt gehe »den Weg Amerikas«, die Staaten würden »offener, marktfreundlicher und demokratischer«, und die vielen Armen würden »langsam von leistungsfähigen, wachsenden Volkswirtschaften aufgefangen«.
Solch ein Glaube an historische Unausweichlichkeit ist heute nicht mehr haltbar. Dasselbe gilt für die selektiven Geschichtsdarstellungen, auf denen er basierte. Die außergewöhnliche, hegemoniale Macht naiver Vorstellungen führte dazu, dass sie keiner strengen Überprüfung standhalten mussten, solange es plausibel erschien, dass die Welt »den Weg Amerikas« gehen würde, und solange der Güterzug der Moderne seine Güter noch in die entlegensten Winkel der Erde zu bringen schien.
Eine lang andauernde ökonomische Krise, die darauf folgende nihilistische Gewalt des IS, die Implosion von Nationalstaaten in Nordafrika wie auch im Nahen und Mittleren Osten und der Aufstieg rechtsextremer Bewegungen im Westen, der zu Katastrophen führte wie dem Wahlsieg Trumps, haben die westlichen Eliten in Politik und Medien in eine gewaltige Verwirrung gestürzt. Die Meinungsartikel in englischen oder amerikanischen Tageszeitungen sind nach wie vor tagtäglich durchsetzt mit Klischees über die schwindende Macht und den schwindenden Willen im Westen und über die dringende Notwendigkeit, beides zu erneuern. Dennoch treten wir heute in ein Zeitalter freimütiger Eingeständnisse und schonungsloser Berechnungen ein. Denn inzwischen sieht selbst ein Blinder, dass »das 21. Jahrhundert für das westliche Modell ein scheußliches« war, wie selbst John Micklethwait und Adrian Wooldridge vom Economist schreiben.
Viele Intellektuelle, die im weltweiten Chaos keinen rationalen Plan zu erkennen vermögen, wirken heute ebenso ratlos wie die Politiker, und ihre Konzepte und Kategorien klingen mehr und mehr wie belangloses Gerede. »Welche Politik wir auch verfolgen«, gesteht Michael Ignatieff, nach eigenem Bekunden ein »liberaler Internationalist«, in einem kürzlich erschienenen Artikel über den marxistischen Denker Perry Anderson, »wir alle brauchen ein Geschichtsverständnis, das davon ausgeht, dass es im Fortgang der Zeit eine tiefe Logik gibt.« Denn die Träger des »Humanismus und Rationalismus der Aufklärung«, ob liberal oder marxistisch, vermögen »die Welt, in der wir leben, nicht zu erklären«.
Wie Ignatieff verschämt einräumt, ahmte der Fortschrittskult der liberalen Internationalisten den marxistischen Traum einer universellen Revolution nach. Die Ursprünge sowohl der Komintern als auch der »Liberalintern« lagen in der erstmals im 18. Jahrhundert aufgekommenen Phantasie einer rational organisierten und logisch geordneten Welt: der Erwartung, dass an die Stelle von Tradition und Dahintreiben die Vernunft als bestimmendes Element der Geschichte treten werde.
In Wirklichkeit aber gab es kaum etwas in der intellektuellen und politischen Geschichte Europas, das die Annahme stützte, die liberalen Institutionen des atlantischen Westens würden sich nach Osten ausbreiten. Und tatsächlich wurde dieser Gedanke im 19. Jahrhundert von Autoren unterschiedlichster ideologischer Ausrichtung vehement in Frage gestellt: vom Herausgeber des Economist Walter Bagehot ebenso wie von dem russischen Denker Alexander Herzen. Nicht einmal auf dem eigenen Kontinent hatte die liberale Demokratie überall Fuß fassen können – lange Zeit war nicht einmal der Westen »westlich« gewesen.
Krieg, Verschwörungen, gewalttätige Ausschreitungen, Repression und autoritäre Herrschaft bestimmten in Europa die ersten sechs Jahrzehnte nach der Erklärung der Menschenrechte (1789). Herzen war nach dem Scheitern der Revolution von 1848 der Überzeugung, dass die Vorherrschaft Westeuropas, erreicht mit einem hohen Maß an brudermörderischer Gewalt und getragen von ebenso viel intellektueller Täuschung und Selbsttäuschung, keinen »Fortschritt« darstellte. Er warnte seine Landsleute: »Unsere klassische Unkenntnis des westlichen Menschen wird viel Unheil anrichten, daraus werden sich noch vielfältiger Stammeshass und blutige Zusammenstöße entwickeln.« Die Brutalität, auf der in Herzens Augen der Fortschritt Europas basierte, erwies sich im 20. Jahrhundert als bloßes Vorspiel zum größten Blutbad der Geschichte: zwei Weltkriegen und grausamen ethnischen Säuberungen mit vielen Millionen Todesopfern.
In ihrem Vorwort zur ersten Ausgabe von The Origins of Totalitarianism (1950) räumte Hannah Arendt ein, es sei nicht nur vergebens, auf eine »Wiederherstellung der alten Weltordnung mit all ihren Traditionen« zu hoffen oder auf eine »Wiedereingliederung der Massen auf fünf Kontinenten, die in das Chaos gestürzt worden sind, das die Gewalt der Kriege und Revolutionen und der zunehmende Zerfall alles bislang Verschonten herbeigeführt haben«. Vielmehr seien wir dazu verdammt, »die Entwicklung desselben Phänomens zu erleben – nämlich der Vertreibung in einem nie gekannten Ausmaß und einer beispiellos tiefen Entwurzelung«.
Doch das »westliche Modell« bot eine Geschichte von schmerzloser Verbesserung. Spätere Generationen werden sich vielleicht einmal verwundert fragen, wie Wunschdenken zur gängigen Meinung werden, wie eine erfindungsreiche Philosophie des 19. Jahrhunderts, die universelle Muster und ein übergeordnetes Ziel der Geschichte postulierte, im 21. Jahrhundert so viele intelligente...