Einleitung
von Christa Balkenhol
Vor einigen Wochen suchte ich mit meinem Werbematerial über die Begleitung von Schwangeren mit der Bindungsanalyse ein Babyausstattungsgeschäft auf und was ich dort erlebte, war sehr bezeichnend. Vor der Theke neben mir stand eine schwangere Frau – ich schätzte sie im fünften oder sechsten Schwangerschaftsmonat – und ich erklärte ganz kurz, wie eine Schwangerschaftsbegleitung mit der Bindungsanalyse aussieht und welchen Zweck sie hat. Bei dem Wort „vorgeburtlich“ unterbrach mich die Schwangere mit der Frage: „Was ist denn Vorgeburtlichkeit?“ Ich deutete auf ihren Bauch und erwiderte: „Die neun Monate, die Ihr Baby in Ihrem Bauch verbringt!“ Die Verkäuferin hinter der Theke warf sofort ein: „Ach so, was Esoterisches!“
Derartige Erlebnisse machen das vorliegende Buch notwendig. Seit vielen Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Fachbereichen, wie Humanbiologie, Genetik, Neurowissenschaften, Hirnforschung, Gynäkologie und pränataler Psychologie die physische und psychische Entwicklung des ungeborenen Kindes während seines neunmonatigen Lebens in der Gebärmutter. Nicht-Fachleute hingegen – und dazu gehören die meisten zukünftigen und werdenden Eltern, insbesondere die genannte schwangere Frau – haben wenig Kenntnis davon, dass das ungeborene Baby von Anfang an ein bewusstes, fühlendes, denkendes, lernendes und interaktives Lebewesen ist. Die in der Gebärmutter gemachten Erfahrungen wirken sich auf die körperlich-seelische Entwicklung des Menschen, seine Persönlichkeit und die Qualität seiner zwischenmenschlichen Beziehungen grundlegend aus.
Ein berühmter amerikanischer Zellbiologe, Bruce Lipton, hat den Begriff des sogenannten Zellgedächtnisses geprägt, was bedeutet, dass alles, was wir jemals an Erfahrungen und Emotionen erlebt haben – vor allem während unseres neunmonatigen Aufenthaltes in der Gebärmutter unserer Mütter – in jeder einzelnen unserer Zellen verankert und gespeichert wird und unser ganzes psychisches und physisches Leben bestimmt. Erstaunliche wissenschaftliche Erkenntnisse über die biochemischen Funktionen unseres Körpers zeigen, dass unser Denken und Fühlen bis in jede einzelne unserer Zellen hineinwirkt.
Ist die Schwangere beispielsweise einer immer wiederkehrenden Stresssituation ausgesetzt, wird das Ungeborene mit chemischen Stresshormonen überflutet, was unter anderem zu einer Störung der Hirnentwicklung führen kann. Es lässt sich sogar nachweisen, dass die Ursprünge der heutigen Gesellschaftsprobleme, deren Symptome sich in Gewalt, Bindungsmangel, Drogen- und Alkoholmissbrauch, sowie in immer stärker zunehmenden psychischen Erkrankungen zeigen, grundsätzlich bereits in der intrauterinen Entwicklungszeit zu finden sind. Siehe dazu im Anhang „Literaturempfehlungen“ die Werke über Psychohistorie von Ludwig Janus und Lloyd DeMause.
Ein sehr beeindrucktes Beispiel für das Zellgedächtnis beschreibt Ludwig Janus in einem seiner zahlreichen Bücher: Eine junge Frau, Mitte 30, klagte plötzlich über unerklärliche Schwindelanfälle. Sie hatte Probleme am Arbeitsplatz, denn ihr Chef wollte sie loswerden. Sie suchte verschiedene Fachärzte auf, aber niemandem gelang es, die Ursachen für die Schwindelanfälle zu finden. Der Pränatalpsychologe entdeckte im Rahmen einer Regressionsführung, dass die Mutter der jungen Frau damals versucht hatte sie abzutreiben, indem sie mehrmals täglich über einige Tage hinweg von einem hohen Tisch heftig auf die Erde sprang, in der Hoffnung, dass sich auf diese Weise der bereits eingenistete Embryo löste. Dieses Vorhaben misslang, zurück aber blieben die Spuren der überlebten Abtreibung. Denn während die Mutter der jungen Frau auf die Erde sprang, wurde der Embryo durcheinandergeschüttelt. In dem Augenblick, wo sich die junge Frau dessen bewusst wurde, hörten die Symptome auf. Sie waren aufgetreten, als sich die junge Frau in einer vergleichbaren Situation wie damals in der Gebärmutter ihrer Mutter befand: Der Chef wollte sie loswerden, wie damals ihre Mutter.
Eine zweite, ebenso beeindruckende Darstellung dessen, was bereits ein Embryo fühlen kann, selbst wenn er nicht mehr als nur aus zwei Zellen besteht, gab Rien Verdult, belgischer Entwicklungspsychologe und Babytherapeut, 2014 auf einer alle zwei Jahre stattfindenden Tagung über die Bindungsanalyse, die von Dr. Helga Blazy in Köln organisiert wird. Den ersten Schock bekäme das im Werden begriffene Menschenkind, wenn seine Zeugung nicht in einem Akt der Liebe zwischen Mann und Frau zustande komme. Der zweite Schock erfolge, wenn die Frau feststellt, dass sie schwanger ist, das Baby aber nicht haben will. Und der dritte Schock treffe das werdende Baby dann, wenn sie dem Mann mitteilt, dass sie von ihm schwanger ist, er jedoch das Baby ebenfalls ablehnt!
Alle diese Beispiele machen deutlich, dass Aufklärung aus vielen Gründen in allen Bereichen der Gesellschaft vonnöten ist. Aufklärung darüber, was das ungeborene Baby fühlt, was es erlebt, wie es das Erlebte verarbeitet, was es erleidet und wie negativen Einflüssen auf das Ungeborene entgegengewirkt werden kann. Ein neuartiges, revolutionäres Präventionskonzept ist die sogenannte BINDUNGSANALYSE, sie bedeutet „vorgeburtliche Bindungsförderung“. Die ursprüngliche Bezeichnung BINDUNGSANALYSE wird der Einfachheit halber im gesamten Buch beibehalten. Natürlich ist sie kein Allheilmittel, aber wenn sich Schwangere mit ihr begleiten lassen, fördern sie optimal die körperliche und vor allem seelische Gesundheit ihrer Babys. Sie können Selbstregulierungsstörungen des Neugeborenen, übermäßiges Schreien und Schlafproblemen vorbeugen. Ihnen werden Wege gezeigt, eine leichtere und schnellere, natürliche Geburt zu erleben. Das Zauberwort hierbei heißt Bindung, denn durch die mentale und emotionale Aufnahme der Bindung zu dem Baby bereits in der Gebärmutter kann die werdende Mutter dafür sorgen, dass sich ihr Baby als angenommen, geliebt und sicher gebunden fühlt. Das wiederum führt dazu, dass das Baby nach der Geburt ausgeglichener, emotional stabiler und tatsächlich sozial kompetenter ist.
Der Schwangeren wird aufgezeigt, wie sie vermeiden kann, dass der Stress, unter dem sie vielleicht steht, auf ihr Baby übertragen wird. In der Bindungsanalyse können auch Schwierigkeiten, die die Schwangerschaft eventuell bereitet, oder andere Probleme, die es im Leben der Schwangeren gibt, in einem geschützten Raum mit einer kompetenten Schwangerschaftsbegleitung besprochen werden.
Wir, die beiden Herausgeberinnen, Christa Balkenhol und Christine Karrasch, sowie vier weitere deutsche und vier österreichische Ko-Autorinnen des vorliegenden Buches sind Bindungsanalytikerinnen, ausgebildet und zertifiziert von Dr. Jenö Raffai, Psychoanalytiker, der die Bindungsanalyse über viele Jahrzehnte hin entwickelt hat, und Dr. Ludwig Janus, der wohl der bekannteste und kompetenteste Pränatalpsychologe Deutschlands ist. Wir sind alle von dem Wunsch beseelt, diese neuartige, revolutionäre, aber leider immer noch zu wenig bekannte Methode einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wir schildern in dem vorliegenden Buch einige Schwangerschaftsbegleitungen, die wir sorgfältig ausgewählt und anonymisiert haben. Ihre Geschichten stehen stellvertretend für fast über 7000 Schwangere, die insgesamt seit 1997 in Ungarn, dem Ursprungsland der Bindungsanalyse, in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien und den USA mit der Bindungsanalyse begleitet worden sind. Es gibt inzwischen rund 120 zertifizierte Bindungsanalytiker/innen und es laufen ständig weitere Ausbildungskurse. Mehr dazu im Kapitel über die Bindungsanalyse.
Begleitet werden unsere Fallgeschichten von einigen kurzen, zusammenfassenden Fachartikeln zu bestimmten Themen, die im Zusammenhang mit der Bindungsanalyse stehen.
Auf ein wichtiges Thema, bei dem auch die Bindungsanalyse eine hilfreiche Unterstützung bieten kann, sind wir nicht eingegangen: Den Problemkreis des unerfüllten Kinderwunsches. Wir verweisen diesbezüglich an Dr. Auhagen-Stephanos (www.auhagen-stephanos.de) und ihr Buch: „Damit mein Baby bleibt“. In ihrem neuesten Buch „Der Mutter-Embryo-Dialog“ schildert sie ihre spezifische psychoanalytische Therapie zur Bearbeitung der psychischen und psychosomatischen Komponenten von ungewollter Kinderlosigkeit.
Wir bitten besonders die Schwangeren sehr achtsam mit sich umzugehen, wenn sie die Fallgeschichten lesen. Es kann durchaus sein, dass beim Lesen eigene pränatale Geschehnisse in Erinnerung und Bewusstsein drängen. In der Bindungsanalyse hat jede Schwangere nach einer BA-Sitzung eine Woche Zeit, das in der Sitzung Erlebte zu verarbeiten. Zuweilen braucht ein derartiger Entwicklungsprozess viele Wochen, bei dem die behutsame Begleitung der BindungsanalytikerInnnen unterstützend wirkt.
Wir wünschen uns, dass die Bindungsanalyse eines Tages so bekannt und beliebt sein wird, wie die sanfte Geburt von Leboyer. Sie wird inzwischen an verschiedenen Universitäten beforscht und...